Читать книгу Herrin zweier Länder - Sabine Wassermann - Страница 8

3.

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Neith war sich sicher, die Kammer mit dem dichten Weihrauchqualm nie verlassen zu haben. Und wirklich, sie erwachte in einem düsteren Raum, schwach beleuchtet von einer winzigen Binsenlampe. Erschrocken richtete sie sich auf. Nein, dies war nicht die Kammer in Sachmets Kapelle, sondern ihr eigenes Gemach. Erleichtert sprang sie auf, um sich anzukleiden und zu Merit-Sachmet zu gehen, doch ihr wurde schwarz vor Augen, und sie musste sich auf das Bett zurückfallen lassen. Eine Weile blieb sie liegen, das Gesicht in den Kissen vergraben.

Hatte sie all dies tatsächlich im Auge der Sachmet gesehen? Oder waren es doch nur Bilder gewesen, die ihr eine Pflanzendroge aufgezwungen hatte?

Sie verspürte den Wunsch, die Sonne zu sehen. Mühsam wankte sie zum Fenster und zog an der Schnur, um die Binsenmatte aufzurollen. Res Sonnenscheibe leuchtete über ihr, und plötzlich kehrte das eigenartige Hochgefühl zurück. Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte. In dem Drang, die Füße im Takt einer fernen Musik zu bewegen, hielt sie sich an der Fensterbrüstung fest und wiegte sich hin und her, bis die Übelkeit machtvoll zurückkehrte. Erschöpft warf sie sich aufs Bett und fiel in einen dämmrigen Schlaf, der jedoch nur von kurzer Dauer war.

Eine kühle Hand legte sich auf ihre Wange. »Sie ist krank«, wisperte eine gedämpfte Stimme. »Sie darf nicht gehen.«

»Sie ist nicht krank. Halte ihren Kopf, Taket, damit ich ihr etwas zu trinken geben kann.«

Neith fühlte, wie ihr Kopf leicht angehoben wurde und etwas Bitteres in ihren Mund rann. Willenlos schluckte sie die Flüssigkeit. Dass jemand gegen ihre Wangen klopfte und sie nötigte, die Augen zu öffnen, war weitaus unangenehmer.

»Neith«, sagte Merit-Sachmet sanft. »Neith, du hast zwei Tage geschlafen, und ich würde dir noch zwei weitere gönnen. Aber du musst aufstehen.«

»Das kann ich nicht«, hauchte Neith mühsam. »Ich bin müde, und mir ist schlecht.«

»Ich weiß. Ich hatte gehofft, dass du früher wieder zu Kräften kommst. Aber nun ist keine Zeit mehr zu verlieren.« Hände schoben sich unter ihre Schultern und zwangen sie aufzustehen. Sie wankte, doch der Kräutertrank wirkte schnell und schickte ein wenig Kraft in ihre Glieder. Die Übelkeit jedoch blieb. Verbissen versuchte sie auf den Füßen zu stehen.

»Ich sagte ja, das Auge ist eine gefährliche Sache«, sagte Merit-Sachmet. »Aber du hast es sehr gut überstanden.«

»Sag mir, habe ich das alles erlebt oder nur geträumt?«

Die alte Priesterin lachte. »Ist das denn von Belang? Es ist alles das Gleiche.«

Neith rieb sich die Stirn. Sie fand Merit-Sachmets Erheiterung befremdlich. Die Worte von Anubis kamen ihr in den Sinn: Die Hohepriesterin starb am Tag deiner Krönung … Aber sie war nicht imstande, jetzt davon zu sprechen. Merit-Sachmet befahl der Dienerin, einen großen Binsenkorb zu öffnen, und Taket entnahm ihm ein säuberlich zusammengefaltetes Kleid, dazu eine Perücke aus zahllosen winzigen Zöpfen.

»Was bedeutet das?«, murmelte Neith. »Soll ich mich etwa schon wieder als Göttin verkleiden?«

»Wenn heute Wadjet und Nechbet, die Göttinnen der beiden Länder, dem Pharao die Doppelkrone aufsetzen, wirst du eine von ihnen sein. Es ist höchste Zeit, dass du dich zurechtmachst und in die große Pfeilerhalle gehst, wo Merenre heute zum neuen Herrscher gekrönt wird.«

»Oh, heute schon? Aber ich kann das nicht! Ich kann kaum gerade stehen. Ach, Merit-Sachmet, findet sich denn keine andere Frau?«

»Willst du ihm etwa immer noch nicht begegnen? Versuche dich zusammenzureißen. Ich muss der Göttin ohnehin danken, dass wir dich gerade noch rechtzeitig wachbekommen haben. Das versuchen wir nämlich schon seit heute früh, nachdem ein Bote aus dem Palast erschien und mitteilte, welche Aufgabe du heute erfüllen sollst. Der Falke besteht darauf, die Krone aus deiner Hand zu empfangen.«

Merit-Sachmet gab Taket noch einige Anweisungen und verließ die Kammer mit einem aufmunternden Lächeln. Neith ließ sich waschen und ankleiden. Die Hände der Dienerin waren sehr geschickt, und sie fühlte sich bald ein wenig frischer. Sie trug nun ein eng anliegendes, fast durchsichtiges Trägerkleid und eine schulterlange Perücke aus vielen schmalen Zöpfen. Zuletzt ließ sie sich mit feinstem Kohlestaub und Goldpuder schminken.

Vor der Tür wartete bereits ein Priester, der sie zur großen Pfeilerhalle führte. Leicht war es nicht, denn der Hof war von einer Menschenmenge erfüllt, die gegen den Eingang drängte, in der Hoffnung, etwas von der Krönungszeremonie sehen zu können. Die Tempelwachen hatten das Tor der Umfassungsmauer nicht halten können und nun alle Mühe, wenigstens den Eingang der Halle zu sichern. Die Anwesenheit der Leute war ein Frevel in den Augen der Priester, und das Geschrei konnte Ptah kaum als wohlklingend empfinden. Nackte Männer hielten ihre Kinder auf den Schultern, und Frauen reckten die Hände und schrien. Als Neith sich zum Hallentor durchgekämpft hatte, spürte sie plötzlich eine besitzergreifende Hand auf ihrem Arm.

»Du siehst beeindruckend aus«, schrie Haikta-Ummar in ihr Ohr. Neith versuchte sich von ihm loszureißen, doch in dem Gedränge war das kaum möglich.

»Was tut ein stinkender Aamu hier?«, fauchte sie und hielt Ausschau nach dem Priester, doch sie hatte ihn verloren. »Du entweihst mit deiner Anwesenheit den Tempel!«

»Ich gehöre zu denen, die in der vordersten Reihe stehen, gemeinsam mit den höchsten Würdenträgern Ägyptens. Und wenn alle in die Knie gehen, um dem neuen Horusfalken zu huldigen, werde ich der einzige sein, der stehenbleibt. Nemtiemsaf wird vor mir knien, wenn ich es verlange.«

Er stellte sich vor sie und packte ihr Gesicht mit beiden Händen. Neith vermochte sich nicht zu bewegen, nicht nur wegen seines harten Griffs, sondern auch, weil seine machtvolle Gegenwart sie lähmte. »Und du, Neith?«

»Ich … lass mich …«

Die Menschen drängten sie auseinander. Sie fand sich vor einem der Tempelwächter wieder, der sie erkannte und eilig durch das Tor schob. Der Schreck ließ noch ihr Herz trommeln, als ein Priester sich ihrer annahm und in die Pfeilerhalle führte. Alles ging jetzt sehr schnell. Vorbei an den versammelten Höflingen und Priestern – an die fünfhundert Menschen – eilten sie hinter ein großes Tuch, das vor den Eingang zum Allerheiligsten gespannt war. Dort wartete eine Tempeltänzerin mit der Geierhaube der Göttin Nechbet auf dem Kopf. Sie half Neith, einen Stirnreif mit der Kobra der Göttin Wadjet an ihrer Perücke zu befestigen. Dann öffnete der Priester eine Zedernholztruhe.

Der Anblick des Inhalts ließ die Zeit für einen Moment stillstehen. Auf einem Bett aus Leinen lagen die Rote Krone Unterägyptens und die Weiße Krone Oberägyptens. Vorsichtig hob der Priester die Weiße Krone heraus und gab sie der Tänzerin. Sie war wahrhaftig von einem Weiß, wie Neith es nur bei den edelsten Leintüchern gesehen hatte. Sie selbst nahm die Rote Krone in Empfang, ein zartes Stoffgebilde, das auf Draht gespannt war.

»Der neue Horus will die Krone aus deiner Hand empfangen«, sagte der Priester. »Leider konnten wir nichts proben. Die Götterneunheit möge geben, dass du nichts falsch machst.«

»Achte nur auf das, was ich tue«, flüsterte die Tänzerin ihr zu, dann traten sie zum Vorhang. In diesem Moment verstummte die Musik, und die Geräusche der Menschen verebbten. Bald war es so ruhig, dass Neith glaubte, ihr schlagendes Herz könne weithin zu hören sein. Durch den Vorhang sah sie die Umrisse eines Mannes schimmern.

Merenre.

Die Rote Krone in den erhobenen Händen, ging sie langsam um das rechte Ende des Vorhangs herum, die Tänzerin um das andere. Da stand er und wandte ihr mit aufblitzenden Augen den Kopf zu, was ein Raunen der versammelten Menge nach sich zog.

Sie begriff nicht, weshalb sie solche Freude empfand, und doch sog sie seinen Anblick in sich auf. Seine aamuritischen Zöpfe waren fort; er hatte sich den Kopf scheren lassen, was die Weichheit seiner Züge noch unterstrich. Schweiß sickerte unter dem Gegengewicht seines Halskragens hervor, das als Schutz vor hinterlistigen Angriffen zwischen seinen Schulterblättern hing. Der buntschillernde, aus Hunderten winzigen Edelsteinen gebildete Halskragen passte nicht so recht zu seinem Körper, dem Körper eines Kriegers. Sie trat, dem Beispiel der Tänzerin folgend, an seine Seite.

Merenre ließ sich auf die Knie nieder; zwei Priester, verkleidet als Horus und Seth, traten hinzu und legten ihm den Falkenschurz mitsamt Stierschwanz um, dazu den Falkenumhang. Der Hohepriester des Ptah band ihm den Zeremonienbart unters Kinn und überreichte Heqa-Krummstab und Nechech-Geißel, die herrscherlichen Insignien, die Merenre sofort vor der Brust kreuzte. Erst jetzt hatte Neith Gelegenheit, einen unauffälligen Blick durch die Halle schweifen zu lassen. Dichter Weihrauch wallte über den Köpfen der Menge. Ipwet stand in vorderster Reihe, den Blick nach innen gekehrt. Da war der Hohepriester des Re aus Iunu, neben ihm stand der Wesir Biu.

Die beiden Priester zogen sich zurück, und Sabu-Tjeti, dem ein prächtiges Pantherfell vom Rücken hing, hob die Hände.

»Gesegnet bist du, lebender Horus auf Erden!« Seine Worte hallten von den hohen Wänden wider. Für einige Augenblicke herrschte etwas Unruhe, denn die Menschen mühten sich ab, auf die Knie zu sinken. Schließlich verstummten das Rascheln der gestärkten Gewänder und das Klirren des Schmucks. Nur ein Mann war stehengeblieben, wie er es angekündigt hatte: Haikta-Ummar. Eine Streitaxt hing an seiner Hüfte; allein das war eine Beleidigung des neuen Horus.

»Das Ende der Wirrnis ist da, denn Horus ist wieder zur Erde gekommen, um seine Flügel über den Zwei Ländern auszubreiten. Die Schöpfung der Welt beginnt von Neuem. Wieder werden die beiden Länder Ta-Mehu und Ta-Schemau vereinigt! Der Bewahrer der Binse und der Biene, des Lotos und des Papyrus zertritt die Feinde unter seinen Füßen.« Hier machte der Priester eine winzige Pause und blickte den Aamu an. Merenre brummte ungehalten, und der Hohepriester rief: »Viele Hebsed-Feste wird er feiern; er wird leben für Millionen Jahre!«

Vollkommene Stille.

Die Hathor-Tänzerin setzte Merenre die Weiße Krone auf, und Neith – ihre Hände zitterten ein wenig – setzte die Rote Krone darüber, um sie zur Doppelkrone zu vereinen. Es folgte eine lange Reihe von Hymnen. Neith fiel es schwer, unbeweglich dazustehen und zugleich leicht und geschmeidig zu wirken. Und der Geruch von fünfhundert schweißüberströmten Menschen, vermischt mit den Weihrauchnebeln, ließ ihre Übelkeit zurückkehren.

Ihre Gedanken schweiften ab, zurück in die verschlungenen Wege von Sachmets Auge. Da war sie, die Doppelkrone, nah genug, um sie zu greifen. Die Frau auf dem Schiff hatte sie getragen, aber wer war sie gewesen? Eine längst vergessene Herrscherin oder eine Göttin?

Erschöpft schloss Neith die Augen. Soeben verkündete Sabu-Tjeti die fünf Namen des neuen Horus. Sollten es nicht vielmehr die Namen dieser Frau sein? Ihre Namen? Ich verstehe das nicht, dachte sie. Sachmet, was hast du mir zu sagen versucht? Und warum habe ich dich nicht verstanden?

Sabu-Tjetis Stimme schien aus weiter Ferne zu ihr zu dringen. Sie versuchte ihm zuzuhören, den Sinn seiner Worte zu begreifen. »Dein Königsname ist Merenre: der von Re Geliebte«, sprach er, und Neith fragte zurück: Liebt Re dich? Bist du sein Sohn, der Sohn der Sonne? Doch Merenre schien sie nicht zu hören. Nein, er war schwach, er war nur ein Mensch und seine kraftvolle Erscheinung bloßer Schein. Re leuchtete nicht auf ihn herab. Sie hob die Arme dem Himmel entgegen, der durch die offene Hallendecke leuchtete. Die Sonne war noch nicht zu sehen, aber sie schickte ihre Strahlen herab – auf sie allein, ihre Tochter.

»Dein Geburtsname ist Nemtiemsaf«, fuhr Sabu-Tjeti fort und stockte. Neith bemerkte, wie Merenre langsam den Kopf drehte. Sie wollte ihm zulächeln, aber die Strahlen der Sonne lenkten ihren Blick wieder in die Höhe.

»Ich tanze für dich, mein göttlicher Vater«, murmelte sie. »Deine Tochter tanzt und lacht.« Sie sah sich wieder im Garten, wie sie zu den Klängen einer wunderbaren Musik getanzt hatte. Vergeblich versuchte sie, das Lachen zu unterdrücken, das sich tief aus ihrer Kehle entrollte. Alles um sie herum reizte sie zum Lachen: der Hohepriester, der stirnrunzelnd zu ihr herüberstarrte, die dummen Weihrauchgefäßeschwinger und die Höflinge, die die Köpfe hoben, da sie bemerkten, dass sich dort oben auf dem Podest etwas Ungehöriges tat.

»Nein, sein Name ist Cheti-Mut!«, rief sie lauthals lachend und deutete auf Merenre. »Cheti-mut! Re hat ihn mir verraten.«

Sabu-Tjeti trat zu ihr und ergriff ihren Arm. Merenre erhob sich und wandte ihr das bleich gewordene Gesicht zu. »Warum hast du das gesagt?«, fragte er leise. Er schien nicht wütend zu sein, nur verwirrt.

Die Sonne hat mir deinen Namen genannt … Aber Neith war nicht mehr fähig, den Mund zu öffnen. Sie fühlte sich müde und erregt zugleich; sie ahnte, dass ihr Zustand eine Nachwirkung jenes Ganges in Sachmets Auge war oder auch der Droge. Sie wollte ihm sagen, dass es ihr leid tat, ihn in solche Verlegenheit zu bringen, aber sie brachte kein Wort mehr heraus. Sie reckte die Hand nach seiner Wange und erwartete, dass er vor ihr zurückwich, doch er tat es nicht, und ihre Fingerspitzen fuhren zärtlich über seine geglättete Haut. Dann sah sie sich von zwei Priestern umgeben, die sie zurück hinter den Vorhang drängten. Es tut mir leid!, rief sie in Gedanken und blickte verzweifelt zu ihm zurück.

Cheti-Mut … Hatte sie ihn wirklich »den Todgeweihten« genannt?

Merenre erwachte im Schlafgemach seines Vaters. Leiser Gesang hatte ihn geweckt. Müde schwang er die Füße aus dem Bett und rieb sich das Gesicht. Die Möbel seines Vaters waren fort, verborgen in seiner Pyramide, nur dieses Bett war geblieben. Aus einem eilig herbeigeschafften Re-Schrein kräuselte die morgendliche Weihrauchfahne. Ein Diener öffnete die breite Flügeltür, und ein Priester trat ein, kniete vor dem Bett und pries das Erscheinen des Sonnengottes. Merenre hörte ihm lächelnd zu. Es war ein angenehmes Gefühl, angebetet zu werden.

Und plötzlich füllte sich der Raum mit Menschen. In kürzester Zeit hatte ihn die Dienerschaft gewaschen und angekleidet, und ein üppiges Frühstück wartete. Fächerträger nahmen an seiner Seite Aufstellung, ein Schminkmeister kümmerte sich um sein Gesicht, ein anderer band weiße Ledersandalen an seinen Füßen fest. Dann traten alle zurück und warteten stumm darauf, dass er aß. Merenre hatte jedoch keinen Hunger und nahm nur ein kleines, noch dampfendes Gerstenbrot zu sich. Sofort trat jemand vor und wischte seine Finger sauber. Ein alter Mann erschien und stellte sich als der Hüter der Insignien und Sandalenträger vor. Merenre missfiel die Art, wie der Alte die schmalen Lippen zusammenpresste, aber er war zu benommen von all den neuen Eindrücken. Er wählte aus den dargebotenen Kopfbedeckungen ein Nemes-Kopftuch, dessen Stoff golden glänzte und seine Schultern kühl umschmeichelte.

Endlich war die morgendliche Prozedur beendet. Ein Schreiber verneigte sich und bat ihn, sich im Vorraum seiner Amtsräume einzufinden, wo bereits einige Leute auf eine Audienz warteten. Merenre unterdrückte ein Stöhnen und ließ den Mann vorausgehen, da er nicht wusste, wo diese Räume lagen. Hinter ihm marschierten seine beiden Fächerträger, dahinter die Dienerschaft. Der Palast war nicht so groß, wie er ihn in Erinnerung hatte, auch nicht ganz so prachtvoll. Dennoch waren all die Wandmalereien vielfältig und farbenprächtig, die Möbel aus kostbaren Hölzern, die kleinen Götterschreine aus Gold. Überall brannten Öllampen und verbreiteten angenehme Düfte. Und die umherstreifenden Diener trugen Schmuck und Schurze aus gestärktem Leinen. Vor dem Eingang zu den königlichen Arbeitsräumen stand eine Sitzstatue seines Vaters. Er befahl, die Figur fortzuschaffen, und betrat die großzügigen Räume. Drei Personen fuhren bei seinem Erscheinen herum und verneigten sich hastig. Er erkannte Ipwet.

»Knie nieder.« Er deutete zu Boden und ging zu einem Thronstuhl am Ende des Zimmers. Die beiden Fächerträger stellten sich hinter ihm auf, der Schreiber nahm zu seinen Füßen Platz. Ipwet gehorchte und senkte den Kopf so tief, dass ihr Hinterteil in die Höhe zeigte. Er gestattete ihr nicht, sich zu erheben. Zu neu war dieses erregende Gefühl der Macht, jeden in seinem Reich auf den Boden zwingen zu können.

Mit Ausnahme von Haikta-Ummar, dachte er ärgerlich. »Du wirst einsehen, dass ich dich nicht mehr hier im Palast haben will. Hast du dazu etwas zu sagen?«

Ipwet schluchzte auf, rührte sich jedoch nicht. Merenre wippte ungeduldig mit dem Fuß.

»Antworte! Du darfst den Kopf heben.«

Die Frau, die noch immer Königin war, richtete sich etwas auf. »Ich weiß nicht, warum du glaubst, dass ich dir gefährlich werden könnte«, flüsterte sie erstickt. »Ich habe keinen Sohn mehr. Und meine Tochter wird deine Frau.«

»Erinnere mich nicht daran«, knurrte Merenre. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er Itriri, seine zukünftige Königin, noch immer nicht zu Gesicht bekommen. Auch bei den Krönungsfeierlichkeiten war sie nicht erschienen. »Deine Tochter wird keine Zierde meines Thrones sein. Ich wette zehn Seniu Gold, dass sie das hässlichste Ding ist, das im Palast herumläuft.«

Seltsamerweise hatte das unglückliche Ereignis während seiner Krönung, das von vielen jetzt als schlimmes Omen für seine Regierung gedeutet wurde, sein Interesse an Neith nur verstärkt. Was kümmerte ihn Itriri?

»Man sagt, es gab in alten Zeiten den Brauch, dass die Familie des verstorbenen Horus ihm in den Tod folgte«, fuhr er fort. »Wir könnten jetzt gemeinsam über den Sinn dieser für den Nachfolger so nützlichen Sache nachdenken, aber ich mag mich nicht mehr mit dir beschäftigen. Neferkare-Tereru ist tot; auf Itriri kann ich nicht verzichten, aber mir fällt kein Grund ein, weshalb du am Leben bleiben solltest.« Rasch winkte er den beiden Wachen an der Tür. Sie packten Ipwet an den Armen, zogen sie hoch und brachten sie hinaus. Erst draußen auf dem Korridor erklang ihr durchdringender Entsetzensschrei.

Was sollte er jetzt tun? Die beiden Männer – der Verwalter des Palastes und der Verwalter der Scheune – blickten betreten zu Boden. Er rief einen der Diener und befahl ihm, zwei Boten zu schicken: einen zum Wesir und einen in den Tempel, um die Hohepriesterin der Sachmet zu holen. Die folgende Stunde verbrachte er damit, sich die wirren Anliegen der beiden Verwalter anzuhören. Er begriff fast nichts, lediglich dass die Getreidespeicher der Stadt so gut wie leer waren und sich dieses Jahr auch nicht wesentlich füllen würden, da eine große Nilschwelle nicht zu erwarten war. Das Dickicht aus Misswirtschaft, Hofintrigen und undurchsichtigen Ämterverteilungen ließ sich nicht durchschauen.

»Die Gauherren in den Provinzen tragen die Schuld an der Not«, erklärte der Herr der Scheune. »Nichts von dem, was sie ernten, liefern sie in die Residenz. Sie missachten die Herrschaft des Pharao. So ist es schon seit vielen Jahrzehnten, und das wird sich nicht ändern, wenn du sie nicht deine Macht spüren lässt.«

Merenre schnaubte. Er winkte einem Priester, der mit einer Schriftrolle unter dem Arm wartete. »Und was ist dein Anliegen?«

Der Mann neigte das Haupt. »In wenigen Wochen wird ein Götterfest stattfinden: Nach zehn Jahren endlich wird Sachmet wieder ihren Gemahl Ptah empfangen. Viele Hen Weihrauch sollen brennen, aber das, was die Residenz dem Tempel gibt, genügt nicht. Es werden Weihrauchkügelchen im Wert von zweihundert Golddeben benötigt.«

Merenre unterdrückte ein Seufzen. »Nun gut, ich werde die gleiche Summe geben, wie die Tempel sie vor zehn Jahren bekamen.«

Der Priester legte bedauernd die Hand auf die Brust. »Das ist nicht vergleichbar. Vor zehn Jahren bekam man für ein Deben wesentlich mehr Weihrauch. Und dann das Getreide! Sollen die Menschen hungern, während sie feiern? Für die Bauern besteht das Brot ohnehin mehr aus Sand als aus Weizen. Und viel Bier muss gebraut werden. Wir können die Götter nicht so erniedrigen. Das würde unweigerlich eine schlechte Ernte nach sich ziehen.«

Merenre ließ seinen Blick zum Herrn der Scheune schweifen, der sich sofort zu Boden warf. »Großer Horus, das ist der Fluch der Götter«, jammerte er. »Der Nil steigt seit zwei Jahrzehnten nur noch so weit, dass er ein Viertel, manchmal noch weniger der Fläche bewässert, die ausreichen würde, die Kornspeicher gefüllt zu halten. Was kann man dagegen tun? Das Fest mag eine Wende bringen.«

»Es hat vor zehn Jahren offenbar auch nichts geholfen«, brummte Merenre. Die Doppeltür schwang auf, und der Wesir tappte herein. Schnaufend machte er seinen Kniefall, was ihm bei seinem Leibesumfang nicht leicht fiel. Merenre lehnte sich vor. »Erscheinst du immer erst dann, wenn man dich ruft? Was sind deine Titel?«

Biu tupfte sich die schweißglänzende Stirn. »Einziger Begleiter des Horusfalken, Bewahrer von Ta-Mehu und Ta-Schemau, Aufseher der Weißen Mauer, der Residenz, der Waage der beiden Länder, Aufseher der Pyramide Neferkare ist standhaft im Leben, Herr des ersten unterägyptischen Gaus von Memphis, Aufseher aller Bauwerke, Aufseher des Gerichtes, erster Mann des Heeres …« Schnaufend hielt er inne.

»Für welche Leistungen hast du dein Ehrengold bekommen? Dafür, mit Neferkare-Pepis faulen Hofschranzen den ganzen Tag gezecht, die Fliegen verscheucht und Jungen beschlafen zu haben?«

Bius Lippen bebten vor Furcht. »Ich habe die Grenze zu Nubien gesichert. Ich habe …«

»Wann? Vor Jahrzehnten, als mein Vater noch in der Lage gewesen war, dir verständliche Befehle zu erteilen? Nun, du hast sicher schon begriffen, dass ich mit meines Vaters nutzlosen Hinterlassenschaften nicht lange fackele. Ich werde dich ins Merwer verbannen, wo du in der Gesellschaft von Krokodilen, Schlangen, Moskitos und anderen Geschöpfen Seths den alten Zeiten nachsinnen kannst.«

»Nicht in den Sumpf!«, wimmerte der Wesir. »O Starker Stier, Haikta … Haikta-Ummar sagte mir, ich könne meiner Stellung sicher sein.«

»Er tat was? Hinaus mit dir, und halte dich auf deinen gepackten Kisten bereit!«

Biu zog sich hastig und in untertäniger Haltung zurück, und auch die beiden anderen Würdenträger wurden von Merenre hinausbefohlen. Wie konnte Haikta-Ummar es wagen, sein Ansehen so zu untergraben? Ich bin der Falke, dachte Merenre grimmig, aber ein recht flügellahmer, wie mir scheint.

Er hatte, wenn auch mit Hilfe der Aamu, den Thron errungen, aber wie sollte es weitergehen? Eine starke Königin an seiner Seite könnte ihm eine Hilfe sein, aber die Frau, die er heiraten musste, war zwölf Jahre alt. »Ich werde eine große Audienz geben«, sagte er schließlich zu dem Schreiber. »Alle ranghohen Priester Ägyptens sollen vor meinen Thron treten. Alle Würdenträger und Häupter der Adelsfamilien. Die ausländischen Gesandten, sofern sie noch in der Stadt leben. Und die betrügerischen Gauherren, die der Krone den Tribut vorenthalten. Diese Nattern sollen vor mir erscheinen und ihre Knie beugen, und dann sollen sie mir ins Gesicht sagen, weshalb sie so treulos sind.«

»Sie werden nicht kommen, Großer Horus«, warf der Schreiber ein. »Seit Jahren hat sich niemand mehr von ihnen hier blicken lassen. Sie regieren über ihre Provinzen wie über kleine unabhängige Königreiche, und sie wissen, dass du daran nichts ändern kannst. Allein der vom Wesir verwaltete Gau von Memphis war immer treu.«

»Bei Seth, so schwierig habe ich mir all das nicht vorgestellt«, knurrte Merenre.

Die Türflügel öffneten sich. Auf ihren Götterstab gestützt trat die Hohepriesterin der Sachmet vor ihn und verneigte sich. Er hätte es gerne gesehen, wenn auch sie in die Knie gegangen wäre, aber das angenehme Machtgefühl wollte sich bei ihrem Anblick nicht einstellen. »Sag mir, alte Frau, warum wohnt meine Schwester in einem Tempel?«, fragte er sofort. »Weshalb wurde sie nicht mit irgendeinem hohen Würdenträger oder ausländischen Prinzen verheiratet?«

Die Priesterin lächelte. »Weil sich dein Vater, der göttliche Osiris Neferkare-Pepi, in seiner Altersschwachheit nicht mehr für seine wenigen Kinder interessierte.«

Merenres Gedanken wanderten zurück zum gestrigen Tag, dem Tag seiner Krönung. Neith hatte ihn innerlich aufgewühlt; so sehr, dass er beim abschließenden Ritual, dem Schießen der heiligen Pfeile in die vier Himmelsrichtungen, gepatzt hatte. Noch ein ungünstiges Omen, so die Worte der Priester. »Ich will, dass du Neith aus dem Tempel entlässt. Das ist kein Ort für eine solche Frau.«

Die Priesterin breitete die Arme aus. »Alles und jeder gehört dir, auch jede Frau, wenn du das willst. Du bist der Gott. Die meisten Priester wohnen in der Stadt und erscheinen im Tempel nur, um ihren Dienst zu verrichten. Also kann auch eine Priesterin in eines jeden Mannes Bett liegen. Doch eines sollte ich sagen: Wer sich der Sachmet weiht, tut dies für sein ganzes Leben. Diesen Bund kann nur der Tod lösen.«

»Erhabene Worte.« Merenre winkte ab. »Richte ihr aus, dass ich sie heute Abend sehen will. Sie soll zwei Stunden nach Sonnenuntergang am Residenzhafen erscheinen. Itriri wird meine Hauptfrau, aber Neith soll nach ihr die zweite sein. Mach ihr klar, dass dies eine große Ehre für sie ist.«

Merit-Sachmet neigte den perückengeschmückten Kopf. »Das werde ich tun. Aber vergiss nicht, wer Sachmet ist. Ihr Name bedeutet die Mächtige. Sie ist die Schreckliche, der die Schlange Apophis jeden Tag aufs Neue erliegen muss. Sie ist das Auge des Re. Sie ist die Löwin unter den Göttern. Und Neith ist ihre Dienerin. Neith ist dir zu Ehren in die Rolle der Kronengöttin Wadjet geschlüpft, um dir die Rote Krone Unterägyptens zu reichen. Und sie wird deine Frau, wenn du das von ihr forderst. Aber sie wird ihrer Göttin treu sein. Und wenn Sachmet eines Tages diese Treue einfordert, dann wird Neith ihrem Ruf folgen, über Blut hinweg, wenn es sein muss. Vergiss das nicht.«

Ich vergesse nichts, dachte Merenre versonnen. Ich vergesse dein Gesicht nicht, Neith, deine Augen, die schöner sind als das Udjat-Auge. Deinen herrlichen Körper und deine klare Stimme, die so gar nichts Unterwürfiges hat. Und dein verrücktes Gelächter.

Er räusperte sich. »Richte ihr aus, dass sie ihre Halbschwester Itriri mitbringen soll. Als Gegenleistung werde ich diesen Tempeldiener holen lassen, den sie zu befreien suchte. Kommt sie jedoch allein, stirbt er. Hast du verstanden?«

Die Alte verneigte sich unbeeindruckt, und er entließ sie. Wenigstens diese Angelegenheit hatte er geschickt geregelt. Neith würde heute Abend seine Schlafmatte mit ihm teilen – und wenn er sie zwingen musste. Und er würde Itriri sehen. Seine Gedanken wanderten zu der kommenden Nacht, und er lächelte.

Die Tür von Ipwets Haus öffnete sich. Ein Mädchen trat heraus. Es umklammerte die Hand des Mannes an seiner Seite und machte kleine, vorsichtige Schritte auf die Sänfte zu. Neith war wütend über Merenres erpresserische Forderung; andererseits konnte sie nicht verstehen, weshalb man ihm Itriri vorenthalten wollte, da sie ohnehin seine Frau wurde. Mit tief gesenktem Kopf trat Itriri zu Neith. Itriri zitterte. Sie war stets nur von ihren Dienerinnen umgeben und verließ das Haus der Königin recht selten. Vielleicht erinnerte sie sich gar nicht mehr an ihre ältere Halbschwester.

Der Diener, ein großgewachsener Nubier, half ihr, die Sänfte zu besteigen. Dann wandte er sich an Neith. »Ich gebe sie nicht gern aus der Hand, Herrin. Sie ist verstört, und Pharao wird sich nicht freuen, sie zu sehen. Vor langer Zeit befahl mir die Königin, auf Itriri aufzupassen. Nun ist Ipwet tot, und ich kann ihre Tochter nicht mehr beschützen.« Er strich über Itriris Wange und ging langsam zurück zum Haus; seine schwarze Haut glänzte im Licht der Wegfackeln. Um seinen linken Unterarm lag ein dicker Verband. Vielleicht, so überlegte Neith, hatte auch er den Einmarsch der Aamu in die Residenz nicht widerstandslos hingenommen.

»Paneser!«, rief Itriri kläglich, aber da war er schon im Haus verschwunden. Neith befahl den Trägern, Itriris Sänfte zu schultern, und ging ihnen voraus, in Richtung des Residenzhafens. Sie wollte nicht wie eine Hofdame in einer Sänfte heranschweben. Merenre sollte sehen, dass sie eine Sachmet-Priesterin war: Um die Hüften trug sie ein Löwenfell, ihre Handgelenke steckten in breiten Armbändern, deren goldgehämmerte, mit Türkisen verzierte Oberflächen den Sieg Sachmets über die Apophisschlange zeigten. Und um ihren Hals hing ihr kleiner goldener Löwinnenkopf.

Die Sänfte hielt an dem von Fackeln erhellten Kai. Auf der königlichen Barke warteten zwanzig Ruderer mit erhobenen Riemen auf den Befehl zum Ablegen. Offenbar hatte Merenre eine Flussfahrt geplant. Er wartete, die Arme vor der Brust verschränkt. Hinter ihm standen zwei aamuritische Soldaten, zwischen ihnen ein Mann in Fesseln.

»Du kommst zu spät«, sagte Merenre, als sie vor ihm stand. Sie kreuzte die Arme vor der Brust und verneigte sich. Unaufgefordert wollte sie sich nicht noch weiter beugen. Doch der Befehl zum Kniefall kam nicht. »Du hättest bereits zwei Stunden nach Sonnenuntergang hier sein sollen, Neith. Gibt es im Tempel keine Priester, die anhand der Sterne die Stunden messen?«

»Doch, die gibt es«, antwortete sie kühl und richtete sich auf. Sie hatte selbst mittels eines Messstabes die Stellung der Sterne geprüft, um sicherzugehen, dass Merenre warten musste. »Aber ich wollte sie nicht bemühen.«

Er knurrte und deutete auf den Gefangenen. »Da ist der Mann namens Ipui. Und nun will ich Itriri sehen.«

Ipui sah erschöpft und ein wenig magerer, doch gesund aus. Neith ging zu der abgestellten Sänfte, wo Itriri sich auf dem Sitz zusammengekauert hatte. »Komm«, sagte sie bedächtig und berührte ihre Schulter, »dort wartet dein zukünftiger Mann, der Herr der beiden Länder.«

Itriri hob vorsichtig den Kopf. »Aber mein Bruder ist doch tot?«

»Ja. Aber nicht nur Neferkare-Tereru war dein Bruder. Dieser dort ist es auch.« Neith nahm ihre Hand. »Komm heraus und begrüße den König.«

Langsam setzte Itriri einen Fuß auf den Boden, dann den zweiten. Sie zitterte vor Scheu, schien jedoch neugierig zu werden. Während sie sich hinkniete, klammerte sie sich an Neiths Beine. Dass Merenre sie mit Abscheu betrachtete, schien sie nicht zu bemerken.

»Hier ist sie«, rief Neith ihm zu. »Die Tochter von Osiris Neferkare-Pepi und Ipwet ist bereit, dich als Mann anzunehmen.«

Merenre trat näher und starrte fassungslos auf das Mädchen. »Soll das ein Scherz sein? Sie ist … sie ist … plump. Vielmehr fett!« Seine Lippen verzogen sich angewidert. »Diese Augen. Dieser geifernde, offenstehende Mund! Das da soll die Tochter meines Vaters sein? Das da soll Königin werden?«

Unruhig begann Itriri zu glucksen. Merenre hob die Hand, als wolle er sie schlagen, doch dann packte er Neiths Hals und zog sie zu sich heran. »Das war es also. Das Mädchen ist schwachsinnig.« Mit der anderen Hand wischte er sich über den Mund. Neith legte eine Hand auf seine Finger, doch sein Griff löste sich nicht.

»Erlaubt Haikta-Ummar, dass du das mit mir tust?«, fragte sie, und seine Finger gruben sich noch fester in ihre Haut.

»Willst du damit sagen, ich müsse ihn in allen Dingen um Erlaubnis bitten?«

»Ja …« Sie musste nach Atem ringen. »Das will ich.«

Seine Hand sank herab und umschlang den kleinen Löwinnenkopf an ihrem Hals. »Du irrst dich«, sagte er ärgerlich, während er den goldenen Anhänger betrachtete. Dann ließ er sie los und deutete auf Ipui. »Was soll ich nun mit diesem Verräter tun, der sich der Neuschöpfung des Landes widersetzte? Du hast mir Itriri gebracht, aber sie hat mich enttäuscht. Und du bist störrisch. Ich denke, ich werde diesen Mann doch nicht freilassen.«

Ipui sog hörbar den Atem ein. »Das habe ich …« begann er; sofort klatschte eine Peitsche auf seinen Mund, von der Hand eines Kriegers geschwungen. Er keuchte, krümmte sich und spuckte Blut.

»Er ist kein Verräter!«, schrie Neith. »Er nahm eine Waffe in die Hand, um Ägypten zu verteidigen, und dafür sollte er belohnt werden. Würdest du auf die Gedanken hören, die tief in deinem ägyptischen Herzen verborgen sind, und nicht auf die Worte Haikta-Ummars, würdest du das auch wissen!«

Merenre wandte sich der Barke zu. »Bringt ihn zurück«, rief er den beiden Aamu zu und stapfte die Rampe hinunter auf das Schiff. Neith wusste, dass sie ihm folgen musste, und letztlich wollte sie es auch. Sie warf Ipui einen letzten Blick zu, aber seine Bewacher führten bereits Merenres Befehl aus, und sie sah nur noch seinen angespannten Rücken.

Rasch half sie der verstörten Itriri in die Sänfte und befahl den Trägern, sie zurück ins Haus der Königin zu bringen. Dann eilte sie auf das Schiff. Merenre lag unter einem Baldachin, die Hand selbstgefällig auf dem Knie. Vorhänge hingen von den Seiten und blähten sich. Eine blutjunge Dienerin, mit nichts weiter als einem Halskragen bekleidet, saß hinter ihm und zupfte an den Saiten einer Laute. Eine zweite war damit beschäftigt, auf einem niedrigen Tischchen Schalen mit getrockneten Früchten und Weinbecher aufzustellen. Der Steuermann und der Lotse bezogen ihre Plätze, und die Ruderer tauchten fast lautlos die Riemen ins Wasser. Auch ein Wachtposten stand am Bug. Es war ein Aamu.

»Komm her!« Merenre winkte Neith heran. »Wenn du die Lage deines Liebhabers verbessern willst, solltest du jetzt nicht zögerlich sein.«

Neith setzte sich neben ihn und ordnete die Kissen um ihre Hüften. »Ipui ist nicht mein Liebhaber, bestenfalls ist er mein Verehrer. Ich hoffe, du lässt ihn am Leben.«

»Dann bitte mich darum!« Jäh warf er sich auf sie und drückte sie in die Kissen. Ehe sie es sich versah, hatte er seinen Mund auf ihre Lippen gepresst. Sie wollte sich wehren, doch wie von selbst öffnete sich ihr Mund, und eine feuchte Zunge schlüpfte hinein. Aber sie war nicht imstande, ihn zu umarmen. Geduldig wartete sie, bis er Atem schöpfen musste, und setzte sich auf.

Sie mochte ihn nicht bitten – um nichts. Er schien Ipui ohnehin wieder vergessen zu haben. Eifrig hantierte er mit den Weinkrügen und Kelchen. Neith sah sich derweil um. Da waren die lebhafte Stadt und der dunkle Uferstreifen mit seinen dichten Papyruswäldern. Oben am Nachthimmel, dem Körper der Göttin Nut, leuchtete das Sternbild des Osiris, die himmlische Heimat der pharaonischen Seelen. Merenre drückte ihr einen gefüllten Kelch in die Hand.

»Ja, das ist Ta-Meri, unser geliebtes Land. Wie sehr habe ich es vermisst. Trink doch.«

Sie setzte den Kelch an die Lippen, trank aber nicht. »Weshalb hast du einen aamuritischen Wächter auf deiner Barke? Misstraust du den Soldaten deines Palastes?«

»Weshalb sollte ich? Sie wissen, dass ich mit harter Hand regiere. Sie wissen, was mit jenen geschah, die sich mir in den Weg stellten.«

»O ja, ich hörte von den fünfhundert Soldaten, die deinetwegen starben, nachdem sie jahrelang ihren Dienst in der kargen Grenzfestung absaßen und vermutlich gar nicht wussten, dass Osiris Pepi tot war. Sag mir, wie hieß der Mann, der sie anführte? Er muss sehr tapfer gewesen sein.«

»Er war sehr tapfer und überlebte die Schlacht, so viel ich weiß«, sagte er ärgerlich. »Aber ich weiß seinen Namen nicht, und ich weiß auch nicht, weshalb ich mir das anhören soll.«

Neith ließ sich nicht beirren. »Sag mir, warum hier ein Aamu auf dem Schiff ist. Weil es Haikta-Ummar so wollte?«

Mit einem wütenden Schnaufen stellte er seinen Kelch auf den Decksplanken ab. »Warum nimmst du schon wieder seinen Namen in den Mund?«

»Ich will nur eines wissen: Wirst du mein Herr sein, Großer Horus, Starker Stier, Herr der beiden Länder, Bewahrer der Maat, die die Ordnung der Welt ist – oder er, ein Barbarenhäuptling?«

»Er hat mir geholfen, die Residenz einzunehmen, und ich werde ihn entlohnen. Dann werden er und seine aamuritischen Krieger ins südliche Syrien zurückkehren. Und nun genug von ihm.« Er zog sie zu sich heran. »Schwester«, murmelte er unvermittelt, »ich brauche eine starke Frau an meiner Seite.«

Er löste ihren Gürtel, der das Löwenfell hielt, und versuchte das Kleid über ihre Hüften zu zerren. In seinem Ungestüm wirkte er wie ein ungeschickter Junge, und sie war sich nicht sicher, ob sie sich so rasch hingeben wollte. Aber sie hatte gewusst, dass sie nicht ewig im Tempel bleiben konnte. Hätte nicht auch Neferkare-Tereru sich irgendwann auf seine ältere Schwester besonnen und sie zu sich gerufen? Nun war es Merenre, und sie konnte nichts dagegen tun. Sie streifte das Kleid über den Kopf, und er kostete den Anblick aus.

»Du bist mir so fremd«, sagte er nach einer Weile. »Hätte ich dich damals denn nicht im Haus der Frauen sehen müssen? Aber ich war dort selten, und ein Junge achtet nicht auf kleine Mädchen, die gerade eben laufen können.« Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie rutschte auf den Fersen von ihm ab.

»Nicht so schnell, mein Bruder. Die Nacht ist lang, und wir haben Zeit. Sieh nur, wir haben gerade erst die Stadt hinter uns gelassen.« Sie reckte den Hals, um über die Bordwand blicken zu können. Das Mondlicht spiegelte sich auf dem Fluss; an beiden Ufern wucherten schwarz die Papyrusdickichte, Dattelpalmen, Tamarisken und Akazien. Sie hörte das Geraspel der Heuschrecken und schläfriges Entengeschnatter, ab und zu unterbrochen vom leise platschenden Geräusch eines großen, ins Wasser gleitenden Tieres. Die Duftöle in den Windlichtern übertünchten den erdigen Geruch des Flusses nur schwach. Wohlig streckte sie sich auf den Kissen aus und legte einen Arm unter den Nacken. Sie musste ein Lächeln unterdrücken, als sie Merenres schnellen, erregten Atem hörte.

Er stützte sich auf einen Ellbogen und begann sie zu streicheln, aber sie gab sich zögerlich. »Nun?«, raunte er in ihr Ohr. »Ich stelle mit Freuden fest, dass du nicht krank bist. Dein seltsamer Anfall während meiner Krönung war hoffentlich nur eine vorübergehende Erscheinung. Wie kam es dazu?«

»Bist du mit Sachmets Ritualen vertraut, o Hoherpriester aller Götter?«

»Nein.«

»Dann möchte ich auch nicht darüber reden.« Das wollte sie wirklich nicht, denn das würde nur das Auge Sachmets in ihr Gedächtnis zurückrufen. Der weibliche Horusfalke auf seiner Barke, die seltsamen Namenskartuschen an den Wänden … All das – Offenbarung oder Traum – war nur mehr ein wirres Knäuel von Erinnerungen, das sie nicht ordnen konnte.

»Wie du willst.« Merenre spielte mit ihren Haaren. Sicherlich wunderte er sich darüber, dass ihr nichts daran lag, die Haare wenigstens bis zu den Schultern wachsen zu lassen, wie es für jede Hofdame selbstverständlich war. Ihre Haare wirkten voller, wenn sie kurz waren, und ansonsten gab es Perücken. »Wie kam es, dass du eine Priesterin wurdest?«

»Viele Familien bringen Priester hervor, das ist doch nichts Ungewöhnliches. Früher übten viele Prinzen ein priesterliches Amt aus, das sie auf ihre spätere Stellung vorbereitete.«

»Das scheint mir bei dir aber nicht der Fall zu sein. Zukünftige Königinnen dienen nicht der Sachmet.«

Neith zuckte die Achseln. »Meine Mutter starb früh an der Krankheit, die man Aaa nennt. Was hätte sie anderes tun sollen, als mich zuvor in den Tempel des Ptah zu bringen, da mein Vater sich nicht um mich kümmerte? Ich war alt genug für den Tempeldienst; schreiben und lesen konnte ich bereits. Heiratsanwärter gab es nicht, es sei denn einen dieser fetten Gaufürsten, die der Krone abtrünnig wurden.« Ihr Ton wurde verächtlich. »Hätte ich so jemanden heiraten sollen?«

»Nein! Re sei Dank, dass es nicht so kam.«

»Merit-Sachmet, die Erste Dienerin, nahm mich mit in die Kapelle der Löwengöttin«, fuhr sie nicht ohne Stolz fort, »und da wusste ich sofort, dass die Löwin meine Herrin war. Mein Name gleicht dem der Kriegsgöttin von Sais. Die Löwin Sachmet ist eine kriegerische Göttin. Sie ist nicht Bastet, die Sanfte.«

Merenre machte ein verdrossenes Gesicht; offenbar hatte er keine Lust, darüber belehrt zu werden. »Ich bete und opfere dem Ptah, dem Herrn der weißen Mauer, und das genügt mir. Bist du jetzt klüger, was deine Zukunft betrifft? Ist der Gedanke, die zweite Frau im Reich zu werden, nicht mehr so abschreckend?«

Neith strich sich mit der Zunge über die Lippen. Die Furcht, die sie noch kurz zuvor empfunden hatte, war verschwunden. »Ich sollte diejenige sein, die den goldenen Stirnreif der Königin trägt, nicht Itriri.«

»Dann sage ich dir jetzt etwas: Sobald Itriri mir einen Sohn geboren hat, mache ich dich zur Hauptfrau. Wenn die Doppelkrone erst einmal fest auf meinem Kopf verankert ist, wird niemand Anstoß an meiner Entscheidung nehmen.«

Neith schob ihn von sich und richtete sich auf. »Wenn du das erreichen willst – unantastbare Macht –, dann musst du vorausschauender denken als jeder andere im Palast. Schneller selbst als Haikta-Ummar.«

»Wie oft muss ich dir sagen, dass ich seinen Namen nicht hören will?« Erneut streckte er die Hände nach ihr aus, doch sie sprang auf die Füße und ging zur Bordwand, abseits von den Ruderern. Überall am Ufer schnatterten jetzt die Enten, aufgescheucht von herumstreifenden Krokodilen. Der Schein der Fackeln spiegelte sich im dunklen, höckerigen Leder von Sobeks Geschöpfen. Selten zuvor hatte sie diese Tiere so von Nahem gesehen. Sie legte die Hände auf das Holz und den Kopf in den Nacken. Der Fahrtwind ließ ihre Brustspitzen hart werden. Plötzlich spürte sie Merenres Hände auf ihren Hüften.

»Ein Kind, von Itriri geboren, wird ihr vermutlich sehr ähneln«, murmelte sie. »Es könnte niemals den Horusthron besteigen.«

»Du hast recht.« Er legte die Arme um ihre Mitte. »Dann wird eben dein Sohn das Horuskind sein.«

Neith schwieg. Ihr Sohn – eines Tages der Goldhorus auf dem Thron? Es war ein erstaunlicher Gedanke, ließ sie aber seltsam unberührt. Es gab zu viele Unwägbarkeiten. Aber sie würde die erste Frau des Pharaos werden. Sie würde den Stirnreif tragen.

Die Papyruswälder lichteten sich und gaben den Blick auf ein von Fackeln erleuchtetes Dorf frei. Beim Näherkommen erwies es sich als eine Ansammlung von Zelten. An einem alten, aus Binsen gefertigten Steg knieten Frauen und ließen lederne Schläuche zum Wasser hinab. Esel lagerten im Gras.

»Was mögen das für Menschen sein?«, fragte sie erstaunt.

»Aamu.«

Sie drehte sich in seinem Arm. »So?«

»Nicht alle Aamu sind im Palast geblieben, so wie Haikta-Ummar. Viele können es nicht ertragen, in Häusern statt in Zelten zu hausen.«

»Aber ich sehe dort auch Frauen.« Jetzt entdeckte sie sogar ein paar Kinder. Sie rutschten die Böschung hinab und füllten die auf dem Wasser treibenden Schläuche, die die Frauen an Seilen auf den Steg zogen.

»Es sind Haikta-Ummars Männer«, sagte er verdrießlich. »Sie haben ihre Familien bei sich.«

Die Schläuche waren gefüllt, und die Kinder krochen wieder die Uferböschung herauf. Nur eines stapfte weiter im knietiefen Wasser. Neith ahnte die Gefahr, bevor sie die Bewegung wahrnahm: Ein Krokodil glitt heran. Sie wollte schreien, doch hätte es etwas genützt? Und was kümmert mich ein aamuritisches Kind, fragte sie sich, aber da war sie schon zu dem Wächter am Bug gelaufen. Sie riss ihm den Bogen aus der Hand und einen Pfeil aus dem Köcher.

»Was tust du?«, rief Merenre. Neith drückte den linken Arm durch und zog das Ende des Pfeils an ihr Ohr. Fast im gleichen Augenblick durchdrang ein Zischen die Luft, dann platschte der Pfeil ins Wasser. Sie schien getroffen zu haben, denn das Wasser kräuselte sich unruhig, und die Spitze eines ledrigen Schwanzes klatschte zwischen den hölzernen Stegpfählen. Eine der Frauen schrie auf.

Neith bediente sich ein zweites Mal aus dem Köcher des Wächters und legte den Pfeil an. Noch einmal schrie die Frau, und ins Lager kam Leben. Bewaffnete Aamu rannten auf den Steg und rissen die Frauen mit sich, offenbar um sie vor den Pfeilen zu schützen. Einer hastete die Böschung hinunter und zog das Kind aus dem Wasser. Da entdeckte Neith auf dem Steg eine bekannte Gestalt. Haikta-Ummar blickte wild über die Wasseroberfläche und dann zur Barke herüber. Er erstarrte und ballte die Fäuste, als habe er sie erkannt. In diesem Augenblick wallte in ihr der Hass auf diesen Mann auf, der sich wie eine Natter an der Ferse ihres gebeutelten Landes festgebissen hatte.

Sie schoss den Pfeil ab. Haikta-Ummar brüllte auf und presste die Hand auf den linken Oberarm. Erschrocken über ihr unbedachtes Handeln ließ sie den Bogen fallen und hastete hinter die Vorhänge des Baldachins, wo sie auf den Sohlen niederkauerte. Merenre folgte ihr. Er starrte sie zornig an, rang um Worte, aber dann kniete er vor ihr und strich über ihre Schultern.

»Neith … Du trägst diesen Namen wahrhaftig zu Recht. Du bist die leibhaftige Kriegsgöttin von Sais, die Frau des furchtbaren Seth. Wahrhaftig musst du es selbst gewesen sein, der den Krokodilgott Sobek zeugte. Eine seltsame Frau bist du. Werde ich in einem Augenblick je wissen, was du im andern tun wirst?«

»Ihr Götter«, hauchte sie. »Fährt … fährt das Schiff weiter?«

Achselzuckend blickte er über die Schulter. »Befürchtest du, dass ich dich ihm ausliefere?« Er strich ihr das Haar über die Wangen und zog sie an den Ohren näher, bis sich ihre Lippen berührten. Jetzt öffnete sie bereitwillig den Mund. Seine Finger wanderten an ihr hinab und suchten ihre Scham. Ein wenig öffnete sie die Schenkel.

»Du bist nicht unberührt«, murmelte er. »Wem hast du dich hingegeben? Diesem Mann namens Ipui? Natürlich, deshalb ist er so vernarrt in dich. Kannst du es ertragen, für den Rest deines Lebens allein mich zu spüren?«

Sie antwortete nicht. Sanft, aber mit Nachdruck brachte er sie dazu, sich auf den Rücken zu legen, und jäh wurden seine Bewegungen fahrig. Er hob den Schurz und legte sich auf sie. Seine Haut roch mehr nach Schweiß denn nach Blütenduft, sein Halskragen war kalt und hart und drückte sich in ihre Haut. Für einen Augenblick, während sie zum Dach des Baldachins starrte und seinen Körper auf sich spürte, überwog ihre Angst. Nicht die Angst vor den nächsten Augenblicken, sondern vor den Jahren an seiner Seite.

Herrin zweier Länder

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