Читать книгу Wort für Mord - Sabine Wolfgang - Страница 6
ОглавлениеProlog
Sie sah so friedlich aus, wie sie da lag. Beinahe konnte man meinen, sie machte ein Nickerchen, doch ihre unnatürliche Haltung und der Boden, der sich unter ihrem regungslosen Körper langsam rot färbte, signalisierten etwas anderes. Alles, was in der letzten Stunde von ihm angefasst wurde, säuberte er gewissenhaft mit einem Tuch, das er in seiner Hosentasche aufbewahrte. Ohne zu wissen, wohin ihn der heutige Abend führen würde, hatte er es mit eingepackt. Zwei Mal ging er seine eben vollführte Tat gedanklich durch, marschierte den Weg exakt wie vorhin noch einmal entlang und verwischte gewissenhaft die Spuren seiner Tat, ja seiner Existenz. Immer wieder ertappte er sich dabei, einen Blick auf den leblosen Körper zu werfen und zu überprüfen, ob da nicht doch noch letzte Anzeichen von Leben in ihm schlummerten. Aber da war nichts mehr, was ihn zittern lassen musste.
Mehrmals vergewisserte er sich, nichts Verdächtiges zurückgelassen zu haben, um die Ermittlungen nicht in seine Richtung zu lenken. Doch außer seinem Schlüssel und seinem Tuch hatte er nichts bei sich, was ihm unabsichtlich aus der Tasche hätte gleiten können. Ein letztes Mal speicherte er das Dokument und klappte den Laptop halb zu, ganz wie sie ihn vorhin zurückgelassen hatte – freilich mit seinem Tuch über der Hand. Beim Anziehen seiner Schuhe warf er einen erneuten Blick auf den Leichnam. Er war zu jenem Zeitpunkt der Einzige, der über die Information verfügte, dass sie nicht mehr am Leben war. Das Medienecho, das Wien und das Land ab morgen erreichte, würde enorm sein.
Kurz vor dem Gehen legte er eine letzte Kontrollrunde ein. Seinen Blick für Details und das akribische Vorgehen in Kombination mit präziser Vorausplanung – gerade so, als würde man beim Schachspiel mit einem finalen Zug das Schicksal seines Gegners endgültig besiegeln – hatte er von ihr gelernt. Geradezu zwingen musste er sich dazu, den Ort des Verbrechens nun zu verlassen, bevor er seiner Akribie zum Opfer fiel. War er erst einmal aus ihren eigenen vier Wänden verschwunden, gab es kein Zurück mehr. Nie mehr wieder würde er in ihr Reich eindringen können, um ihre Energie aufzusaugen und Kraft für den ohnehin so farblosen Alltag zu tanken. Dass er sein Leben nun ohne sie bestreiten musste, kam ihm in diesem Moment zum ersten Mal in den Sinn. Doch seine Erkenntnis währte nicht lange und ging nahtlos in Triumph über, den er sich selbst von ihr nicht nehmen ließ.
Ein letzter Blick schweifte über die Bilder an der Wand. Tief atmete er ihre Luft und ihr letztes Lebenselixier ein, pausierte kurz, als seine Lungen prallvoll waren, und stieß dann alles aus, was in ihm steckte, auf dieselbe Weise, wie sie kurz zuvor ihren letzten Atemzug ausgehaucht hatte. Mit seinem Tuch über die rechte Hand gestülpt, öffnete er die Türe so vorsichtig und langsam, wie es in seiner Macht stand. Nachdem sich ein Spalt in die Welt da draußen öffnete, hielt er inne und horchte, ob sich davor etwas regte. Doch alles war friedlich und ruhte in sich. Ein stilles, vornehmes Haus, das ihn in Ruhe seine so wichtige Arbeit verrichten ließ. Genauso bemühte er sich wiederum, so leise wie möglich zu agieren und niemanden zu stören.
Nach einem finalen Blick zurück in ihre Welt, auf alles, was sie hinterlassen sollte, schloss er die Türe hinter sich, verharrte kurz davor und machte sich schließlich auf den Weg. Er bewegte sich behutsam und doch zügig fort, unter Druck, jedoch gefasst und auch weiterhin auf jedes Detail achtgebend. War er in Eile, vergaß er dennoch nicht auf die so wertvolle Genauigkeit, die er in entscheidenden Situationen an den Tag zu legen hatte.
Nicht ohne den Blick in Richtung des sich vorhin dort befindenden Igels zu werfen, marschierte er zum Ausgang. Beinahe fühlte er sich bemüßigt, langsamer zu werden und dem stacheligen Tier größere Aufmerksamkeit einzuräumen, doch er ließ widerwillig davon ab. Stattdessen ging er zum Tor, durch das er wieder in die Welt da draußen gelangen würde. Wahllos drückte er eine Nummer bei der Gegensprechanlage. Nun spürte er zum ersten Mal seinen Puls im Hals pochen und eine kurze letzte Aufregung darüber, ob er die Anlage problemlos würde verlassen können. Der Summerton meldete sich. Erleichtert öffnete er die Tür hinaus in die nebelverhangene Stadt. Er war frei.