Читать книгу Das gefangene Herz der Hexe - Sabrina Kiehl - Страница 6

Zwei

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Diesmal war sie vollauf zufrieden mit ihren Schülern. Edelsteine waren nicht gerade Fees Lieblingsthema und auch die Hexenschüler hatten nicht viel dafür übrig – ihnen wären vermutlich sogar Meditationen lieber – trotzdem hatten sie sich bemüht und ihr zwei Stunden lang zugehört.

Nun eilten die zehn Junghexen hinaus und fieberten einer Unterrichtsstunde bei den Sehern entgegen, obwohl man ihnen dort nur erklären würde, was man mit Tarotkarten nicht vorhersehen konnte.

Fee dagegen legte die Edelsteine sorgsam zurück in die Vitrine, nur einen Bergkristall behielt sie in der Hand. Er hatte sich bei ihrer Übung als nützlich erwiesen.

»Felicitas«, widerwillig drehte sie sich zur Tür, in der Kian stand.

Es war kein Verbrechen, dass er in das Haus von Magus, der Magier-Fraktion, kam, aber es war unerwartet und es erinnerte sie an ihr abgebrochenes Gespräch am Vortag.

»Wie kann ich dir helfen, Kian?«

Sorgsam legte sie auch den Bergkristall zurück, weil sie scheinbar keine Zeit für diese heimliche Übung haben würde.

»Du bist wohl kaum gekommen, weil du etwas über Edelsteine erfahren willst.«

Unwillig drehte sie sich wieder zu Kian um. Er leuchtete in dem schummrigen Licht des Unterrichtsraums besonders auffällig. Dazu hatte er nun noch dieses sanfte Lächeln. Es fehlten nur die Flügel, sonst könnte er als Engel durchgehen. Angeblich war es auch genau das, was die Menschen in den Lichtwesen sahen, wenn sie denn mal eines zu Gesicht bekamen.

»Ich möchte mich entschuldigen, weil ich gestern vielleicht den Eindruck gemacht habe, ich wollte dich unter Druck setzen.«

Überrascht hob Fee eine Augenbraue. »Also wolltest du nicht darum bitten, dass ich deine Artgenossen vor dem Aussterben bewahre?«

Kian lehnte sich nachdenklich gegen den Türrahmen. »Ich bin das Oberhaupt eines mächtigen Volks, das ich alleine nicht mehr retten kann. Du bist eine außerordentlich begabte Hexe. Ist es nicht selbstverständlich, dass ich dich um Hilfe bitte?«, erwiderte er nüchtern und vorwurfsvoll.

»Und was soll ich deiner Meinung nach tun?« Es war ja nicht so, dass sie nicht helfen wollte, aber ihre Möglichkeiten waren beschränkt.

Kian zuckte resignierend mit den Schultern. »Wenn ich das wüsste, bräuchte ich wohl nicht die Hilfe der großen Hexe.«

Fee lehnte sich ein Stück entfernt von ihm mit einer Schulter an die Wand und sah auf die abgedunkelten Fenster. Im Grunde hatte sie sich daran gewöhnt, dass alle in ihr etwas Besonderes sahen, aber sie fühlte sich nicht wohl damit und mit den Erwartungen, die man immer wieder an sie stellte.

»Die große Hexe hat dir gestern schon gesagt, dass man das Schicksal nicht verändern kann. Soll ich etwa neue Lichtwesen erschaffen? Alana wiedererwecken?«

»Kannst du das?«

Fee stieß sich verärgert von der Wand ab. »Ich würde es nicht einmal versuchen. Man mischt sich nicht in die Ordnung von Leben und Tod ein!«

Kian zuckte erneut mit den Schultern.

»Mit dieser Ordnung haben wir es nicht so. Wir können Menschen, die dem Tode nahe sind, mühelos neue Lebensjahre schenken, ohnr uns um diese Ordnung zu scheren.«

Es war ja nicht, dass er damit Unrecht hatte, die Lichtwesen schienen selbst beinahe unsterblich und waren in der Lage Lebenskraft zu schenken und so den Tod aufzuhalten, aber sie standen nicht außerhalb der Weltordnung.

»Gestern ist deine Frau gestorben, ohne, dass du etwas dagegen tun konntest. Heißt das nicht eindeutig, dass ihr auch dieser Ordnung unterworfen seid?«

Kian starrte zu Boden und Fee spürte den Stich des Schuldbewusstseins. Aus Rücksicht auf seine Trauer hätte sie Alanas Tod wohl nicht ansprechen sollen, auch wenn Kian nicht besonders mitgenommen wirkte.

»Aber bist du auch dieser Ordnung unterworfen?«, konterte Kian sachlich. »Keiner hier kann abschätzen, wo deine Grenzen liegen.«

Diese Andeutung war unmöglich! Sie würde es nie wagen, die große Ordnung in Frage zu stellen. Es war schlimm genug, dass Grey bereits einmal diese Grenzen überschritten hatte, als die Magier vor einigen Jahrzehnten die Spürer erschaffen hatten. Grey hatte Artnus und seine Artgenossen zu diesem Leben verdammt, geplagt von Todesvisionen und bedroht von einer unheilbaren Krankheit, nur damit sie der Organisation bei Erbschleichereien helfen konnten. Inzwischen sollte eigentlich allen klar sein, dass man mit Magie nicht alles tun sollte, was möglich war. Aber offenbar wusste kaum einer überhaupt noch von dieser Einflussnahme, Fee war nur zufällig auf die Notizen der Magier gestoßen.

»Vielleicht ist ja das Besodere an mir, gar nicht, dass ich vieles kann, sondern dass ich nicht alles tue, was ich kann!«, fuhr sie ihn verärgert an, obwohl er in der Hackordnung weit über ihr stand.

Sollte er sich doch bei Noctrius über sie beschweren!

»Fee, ich muss alles versuchen, was möglich ist. Meine Leute erwarten das von mir!«

Nun trat sie ihm entschlossen mit verschränkten Armen entgegen. »Du hast alles versucht, du hast sogar mit einer Frau zusammen gelebt, die du nicht liebst. Es ist einfach nicht zu ändern.«

Sie ärgerte sich unweigerlich über ihren ehrlichen Ausbruch. Sie wollte Kian nicht zum Freund, aber sie musste sich ihn nicht auch gleich zum Feind machen. Und es stand ihr nicht zu, seine Lebensführung zu beurteilen, weil er es sicher nicht leicht hatte.

»Vielleicht bist du vom Schicksal als unsere Retterin vorherbestimmt. Wieviele geborene Hexen gab es bisher bei Grey?«, platzte nun Kian heraus. »Keine! Es war eine Legende, bis du kamst.«

Noch so ein Teil des Geredes, mit dem Fee nichts anfangen konnte. Magier erbten ihre Fähigkeiten von den Eltern, aber Hexen erlangten Kraft durch Gebete und Rituale. Im Grunde konnte jeder Mensch Hexe oder Hexer werden, wenn er sich dafür entschied. Aber bei Grey hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass es auch Hexen gab, die von Geburt an besondere Talente hatten, obwohl keiner je eine solche Hexe gesehen hatte. Immer wieder sagte man Fee nach, sie wäre so eine Hexe, obwohl es dafür keinerlei Beweise gab.

Sie glaubte nicht daran. Sie tat sich zwar leicht mit den Ritualen und konnte inzwischen sogar eigene Zaubersprüche erfinden, aber deshalb war sie nichts Besonderes. Sie konnte nicht hellsehen oder Ähnliches. Alles, was sie vermochte, basierte auf Gebeten und Beschwörungen.

In ihr brodelte die Wut darüber, dass Kian Unmögliches von ihr erhoffte und sie drängen wollte, ihre Grundsätze zu brechen. Zum Glück realisierte sie vor Kian, dass der Bergkristall in der Vitrine schwebte, statt bei den anderen Steinen zu liegen. Ein schwebender Stein würde ihn nur in seinem Wahn bestärken.

»Verschwinde, Kian! Ich muss unterrichten und du solltest deinem Volk klar machen, dass ich nichts für euch tun kann.«

Nervös sah sie zu dem Bergkristall, der sich gefährlich der gläsernen Vitrinentür näherte, statt an seinen Platz zurückzukehren. Im besten Fall würde nur das Glas der Tür zu Bruch gehen, im schlimmsten Fall würde Kian ernste Kopfschmerzen bekommen.

Sie hörte, wie Kian einatmete und zum Widerspruch ansetzte.

»Geh jetzt besser«, drang plötzlich Noctrius’ tiefe Stimme aus dem Gang zu ihnen.

Erleichtert atmete Fee auf und der faustgroße Bergkristall sank endlich wieder auf sein weiches Polster aus schwarzem Samt.

Zum Glück hatte Kian nicht bemerkt, was in der Vitrine vor sich ging, denn bisher wusste niemand außer Noctrius, dass sie mit Telekinese experimentierte, und das sollte auch so bleiben – erst recht, so lange diese Fähigkeit ein Eigenleben hatte.

Kian drehte sich überrascht nach dem Schwarzmagier um, offenbar verwirrt, dass er sich einmischte und ihm obendrein in den Rücken fiel. Wahrscheinlich hatte Kian sich mehr Loyalität erhofft und vergessen, dass Noctrius auch ihr Freund war.

Der Schwarzmagier schob sich entschlossen an dem Lichtwesen vorbei in den Unterrichtsraum, wobei er sich konzentriert umsah, als suchte er etwas.

»Du solltest unsere Oberhexe besser nicht weiter provozieren, sonst wachst du vielleicht morgen früh als Frosch auf«, fügte Noctrius im Scherz hinzu, als Kian immer noch nicht gehen wollte. »Dann gäbe es noch ein Lichtwesen weniger und ich bin mir nicht sicher, wie wir eine Prinzessin auftreiben sollen, um dich zurückzuverwandeln.«

Fee lächelte ihren Boss dankbar an, weil er ihr zur Seite stand, obwohl er eigentlich wollte, dass sie sich mit dem Lichtwesenkönig gut stellte. Das bedeutete, dass er seine Machtbestrebungen doch hinter ihrer Freundschaft zurückstellte.

Kian sah nachdenklich zwischen ihnen beiden hin und her. »Von mir aus«, murrte er schließlich, bevor er ging.

Fee atmete vermutlich etwas zu laut erleichtert auf und erntete einen amüsierten Seitenblick von Noctrius.

»Muss ich mir Sorgen machen, dass du demnächst persönlich für das Aussterben der Lichtwesen sorgst?«, hakte der Schwarzmagier grinsend nach, während er langsam zu der Vitrine mit den Edelsteinen schlenderte. »Vielleicht solltest du deine telekenetischen Übungen in nächster Zeit nur noch mit leichten, weichen Gegenständen durchführen, wie Kissen.«

Wissend öffnete er die Vitrine und nahm den Bergkristall heraus. Fees Lieblingsübungsobjekt nicht nur für die Telekinese-Experimente, aber von ihrem neuesten Projekt hatte sie Noctrius noch nichts erzählt.

»Mord durch einen fliegenden Bergkristall, das wäre doch mal etwas Neues.« Noctrius betrachtete nachdenklich den fast durchsichtigen Stein in seiner Hand. »Es würde mich wirklich interessieren, ob ein Lichtwesen so einen Angriff überleben kann.«

Fee lehnte sich wieder an die Wand. Der kühle Stein in ihrem Rücken hatte etwas Beruhigendes, ganz im Gegensatz zu Noctrius‘ Gedankenspielen. Sie hatte ja nicht vor, Kian etwas anzutun, sie wollte nur nicht mit ihm in einem Raum sein.

Der Schwarzmagier begann, den Edelstein von einer Hand in die andere zu werfen, und sie erwartete einen Vortrag darüber, dass sie vorsichtiger mit ihren noch ungeübten Kräften umgehen sollte.

Auf diese Ermahnung konnte sie gut verzichten, sie ärgerte sich ja selbst darüber, kurz die Kontrolle verloren zu haben.

»Lichtwesen sind sozusagen unsterblich«, erinnerte sie ihn gelassen, »er hätte es sicher überlebt.«

Noctrius zuckte mit den Schultern. »Offenbar haben sie auch ein Verfallsdatum, Kian hat heute Morgen immerhin seine Frau beerdigt.«

Diese Erinnerung versetzte ihr erneut einen Stich. Angesichts eines solchen Ereignisses hätte sie vermutlich freundlicher mit Kian umgehen sollen.

»Willst du mir ein schlechtes Gewissen machen?«

Damit wäre er zumindest erfolgreich.

Ein nachdenklicher Blick zu ihr, dann spielte er weiter mit dem Bergkristall.

»Du hast etwas überzogen reagiert. Kian ist in einer schwierigen Situation und erhält viel Gegenwind aus den eigenen Reihen. Es ist doch verständlich, dass er überall Hilfe sucht.« Er warf den Stein einmal hoch in die Luft und fing ihn geschickt auf.

»Hast du ihn zu mir geschickt? Ihm gesagt, ich könnte helfen?«

Wieder flog der Stein in die Luft, bis fast zur Decke. Diesmal fing Noctrius ihn nicht auf. Fee hörte im Geist schon das Splittern des Kristalls. Ihres Lieblingssteins.

Nur Millimeter über dem Boden stoppte der Stein in der Luft.

Noctrius sah sie mit hochgezogener Augenbraue an.

Mit einem erleichterten Seufzen atmete Fee aus und der Stein kam klackernd auf dem Boden auf. Die Anstrengung rächte sich mit einem unangenehmen Ziehen im Kopf, ganz ähnlich den gequälten Muskeln nach zehn Sit-ups.

»Bist du dir wirklich sicher, dass du Kian nicht helfen kannst?«, er hob nachdenklich den Stein auf. »Du sprichst immer von der großen Ordnung. Gemäß dieser Ordnung, hätte dieser Stein hier eine Macke im Boden hinterlassen müssen, statt munter in der Luft zu schweben. Und er hätte auch nicht beinahe versucht, Kian zu ermorden.«

Endlich legte der Magier den Stein an seinen Platz in der Vitrine zurück.

»Ich wollte das nicht«, versicherte sie entschlossen, weil gerade ein Mordversuch so gar nicht zu ihren Grundsätzen passen wollte.

»Das ist der springende Punkt. Du willst nicht, aber wenn du es wolltest, könntest du auch Kians Volk retten. Alle wissen, dass du zu viel mehr in der Lage bist, als du tust, also musst du damit leben, dass man dich um Hilfe bittet.«

Unweigerlich knirschte Fee mit den Zähnen. »Vermutlich hast du Recht«, lenkte sie schweren Herzens ein, nicht weil sie glaubte, dass sie Kian helfen konnte, sondern weil sie verstand, dass Kian darauf hoffte. Aber das änderte nichts daran, dass sie nicht bereit war, seinen Forderungen nachzukommen. In Zukunft würde sie sich lediglich bemühen, Verständnis für seine Situation zu haben.

»Vermutlich sähe die Sache auch ganz anders aus, wenn nicht Kian dich bitten würde, oder?«, Noctrius sah sie mit diesem bohrenden Blick an, als erwartete er darauf eine Antwort.

Tatsächlich war ihre Hilfsbereitschaft Kian gegenüber sympathiebedingt an einem ungeahnten Tiefpunkt, aber deswegen würde sie ihm nicht die Hilfe verweigern, die sie ihm bieten konnte. Letztlich waren die Lichtwesen Teil von Grey und Grey diente dazu, einander zu helfen. Kian allerdings erhofft sich Unmögliches von ihr.

Noctrius starrte sie weiterhin an und seufzte schließlich laut. »Mal angenommen, Artnus wäre eben hier gewesen, weil seine Schützlinge Hilfe brauchen, dann wärst du längst unterwegs, selbst wenn du nichts ausrichten könntest«, fuhr er schließlich fort, bitterernst und vorwurfsvoll.

Es war das zweite Mal innerhalb von zwei Tagen, dass er sie auf ihre Freundschaft mit dem Spüreroberhaupt ansprach. Noctrius und Artnus waren nie Freunde gewesen, aber inzwischen waren sie regelrecht verfeindet.

»Was willst du damit sagen? Willst du, dass ich den Spürern nicht mehr helfe?«

Langsam ging Noctrius zur Tür und lehnte sich neben ihr an die Wand. Eine Geste der Nähe, dabei entfremdeten sie sich immer mehr voneinander.

»Zumindest solltest du es einschränken, weil es nicht gut für dich ist, so viel Zeit mit denen zu verbringen. Insbesondere mit Artnus.«

Fee schluckte den ersten Zorn über diese Einmischung herunter. Noctrius war nicht nur ihr Chef, sondern auch einer ihrer engsten Freunde. Er verdiente es, dass sie sich seine Bedenken zumindest anhörte.

»Was hast du gegen ihn?«

Ihr Freund schwieg einen Moment. »Er mag dich zu sehr und du sollest das nicht weiter befeuern.«

Die Tatsache, dass Noctrius sich in ihr Liebesleben einmischte, war etwas, das sie viel eher unterbinden wollte, als Artnus’ Zuneigung. Allerdings hatte er durchaus Recht damit, dass es an der Zeit war, mit ihm über ihr Verhältnis zueinander zu sprechen.

»Ist das nicht meine Angelegenheit?«

Sie spürte Noctrius’ Blick, obwohl sie selbst zum Fenster hinaussah.

»Ich will dich nicht weinen sehen«, erklärte der Magier ernst. »Artnus ist fast dreißig und hat die Lebenserwartung seiner Art bereits übertroffen. Du kannst mit ihm nicht glücklich werden.«

Gequält schluckte Fee den schmerzhaften Kloß im Hals hinunter, der sich dort gebildet hatte, weil sie schon so oft genau diesen Gedanken gehabt hatte.

»Ich weiß«, gab sie traurig zurück.

Noctrius legte ihr schwer eine Hand auf die Schulter. »Dann geh auf Abstand. Ich will nicht wissen, wozu ein Mann imstande ist, der dem Tod ins Auge sieht und von seiner Angebeteten verschmäht wird.«

Fee runzelte unweigerlich die Stirn. Möglicherweise würde sich Artnus mit einer Zurückweisung schwertun, nachdem er seine Gefühle so lange für sich behalten hatte, dennoch traute sie ihm nicht zu, ihr zu schaden.

»Was soll das heißen?«, verlangte Fee verärgert, zu wissen. Noctrius mochte ja ein Freund sein, aber er hatte nicht das Recht, Artnus etwas Derartiges zu unterstellen! Wenn er es schon tat, sollte er sich nicht feige hinter einer Andeutung verstecken, sondern es ehrlich aussprechen.

»Dass ein verzweifelter Mann, der nichts zu verlieren hat, gefährlich sein kann.«

Er klang so kalt und sachlich, wohingegen die Wut in Fee so heiß hochkochte, dass ihre Finger zitterten. Nervös warf sie einen erneuten Blick in die Vitrine. Da Noctrius’ Unterstellung sie so aufregte, hätte es sie nicht überrascht, wenn die ganze Edelsteinsammlung sich verselbstständigte. Sie hätte deshalb auch kein schlechtes Gewissen, Noctrius konnte sich wehren.

Doch die Steine rührten sich nicht.

Beruhigt wandte sie sich wieder zu Noctrius zu, der im Türrahmen stand und selbst besorgt zur Vitrine blickte, als rechnete er mit einem Angriff.

»Vielleicht weiß ein Teil von dir ja, dass ich Recht habe«, mutmaßte der Schwarzmagier im Gehen.

»Vielleicht habe ich mich jetzt nur besser im Griff!«

Müde lehnte Fee sich an die Wand und schloss kurz die Augen. Hatten an diesem Vormittag denn alle beschlossen, sie in den Wahnsinn zu treiben?

Sie brauchte eindeutig eine Pause.

***

Artnus hatte zurecht kritisiert, dass sie zu viel Zeit im Hauptquartier verbrachte, das war Fee an diesem diskussionsreichen Vormittag klar geworden. Allerdings war sie auch zu aufgewühlt, um zu den Spürern ins Safe House zu fahren. Dort herrschte ohnehin angespannte Stimmung, wegen Noctrius‘ zunehmendem Kontrollwahn und der ständigen Angst vor dem Tod. Wäre sie dort, hätte sie sicher Artnus von Noctrius’ Unterstellungen erzählt, und Artnus wäre erst recht an die Decke gegangen.

Stattdessen hatte sie ihre Handtasche und den Schlüssel für einen der Kleinwagen aus dem Fuhrpark geholt, um zum Shopping in das nahegelegene Esslingen zu fahren.

Mitglied einer mächtigen Geheimorganisation zu sein, hatte auch seine Vorteile, wie eine kostenfreie Wohnung, Zugang zu Fahrzeugen und ein gesichertes Einkommen. Daher schlenderte sie entspannt durch die Kaufhäuser und probierte allerlei Kleider an.

Als Hexe konnte sie sich glücklicherweise problemlos unter den Menschen bewegen. Ihre Kette mit dem Pentagramm-Anhänger, die sie immer trug, versteckte sie unter ihrem Shirt. Aber selbst, wenn sie jemand gesehen hätte, hätte man sie schlimmstenfalls als Grufti oder Satanistin bezeichnet. Niemand würde sie heutzutage auf den Scheiterhaufen stellen.

Es tat auch gut, die normale Welt zu sehen. Straßenmusiker, Mütter mit Kindern, Pärchen bei Eisessen. Hinter dem blickdichten Zaun des Hauptquartiers vergaß sie manchmal, dass es davor eine Welt mit ganz anderen Problemen gab. Deswegen beneidete sie die Spürer oft, die nicht im Hauptquartier, sondern mitten in einem menschlichen Wohnviertel lebten. Dadurch hatten sie Abstand zu all den Machtkämpfen und Streitereien. Wenn Fee sich dort mit Artnus unterhielt, musste sie hinterher keine Diskussionen mit Noctrius führen. Dort könnten sie ungestört reden, im Garten sitzen und Schokolade essen. Die einzigen, die davon etwas mitbekämen, wären die beiden anderen Spürer Rosalie und Dawson. Die machten höchstens Witze über ihre heimlichen Gefühle füreinander und kamen damit der Wahrheit erschreckend nahe.

Noch besser wäre es wahrscheinlich wirklich, einmal etwas ganz alleine zu unternehmen, fernab von Grey, Spürern oder kontrollwütigen Schwarzmagiern.

Sie betrachtete ein dunkelblaues, knielanges Kleid mit weißer Spitze an Ärmeln und Ausschnitt. Kein Kleid für die Hexenschule oder Versammlungen, aber vielleicht für ein Abendessen mit anschließendem Kinobesuch. Für ein Date?

Zögernd legte sie sich das Kleid über den Arm, um es in die Umkleidekabine mitzunehmen.

Sollte sie Artnus wirklich den Wunsch nach einem Date abschlagen?

Noctrius’ Einwände waren berechtigt und da war auch noch der Altersunterschied von fast zehn Jahren, Grund genug eine Beziehung kritisch zu sehen, aber musste sie nicht erst einmal herausfinden, was passierte, wenn sie alleine waren? Vielleicht stellten sie dann beide fest, dass sie einfach nur gute Freunde waren, und sie musste ihm nicht das Herz brechen.

Oder sie erkannte, dass ihr alle logischen Einwände egal waren und sie Artnus liebte – Alter und mögliche Krankheit hin oder her.

Das Kleid war wundervoll. Das dunkle Blau war ein toller Kontrast zu ihren rotbraunen Haaren und den grünen Augen.

Sie kaufte das Kleid und passende Ohrstecker.

Ob es Artnus gefallen würde?

Wahrscheinlich musste sie Artnus diesmal selbst einladen, schließlich hatte sie ihm das letzte Mal abgesagt. Aber das war okay, sie wusste immerhin, dass er ja sagen würde. Und nun kam ihr der Gedanke an ein Date auch gar nicht mehr so merkwürdig vor. Mit dem Kleid fühlte sie sich gut vorbereitet und freute sich darauf, es zu tragen.

***

Nachdem sie sich noch eine Chai Latte und ein sündhaft süßes Schokotörtchen in einem Café in der Altstadt gegönnt hatte, wurde es bereits dunkel, und Fee entschied sich, wieder ins Hauptquartier zu fahren. Die Herbsttage wurden nun rasant kürzer.

Den Wagen hatte sie am Straßenrand unweit eines Einkaufszentrums abgestellt, wo sie ihn in der Dunkelheit immer noch mühelos wiederfand. Allerdings hatte auch jemand anderes den Wagen dort entdeckt. Vampirorberhaupt Cornelius lehnte daran in seiner schwarzen Kluft aus einer Jeans, einem Shirt und einer schicken Lederjacke.

Er grinste, als sie mit dem Schlüssel in der Hand zum Wagen kam. »Du nimmst mich doch sicher mit nach Hause? Ich wollte eigentlich laufen, aber dann habe ich den Wagen entdeckt.«

Mit einer Hand fuhr er sich durch sein dunkelblondes, kurzes Haar. Er schien gut gelaunt und energiegeladen, was bedeutete, dass er satt war.

»Ist die Nacht nicht noch jung?«, hakte Fee nach, während sie den Wagen per Knopfdruck entriegelte.

Cornelius ging entschlossen zur Fahrerseite und streckte ihr die offene Hand entgegen als stumme Aufforderung.

»Kann sein, aber ich habe bereits gefunden, was ich gesucht habe, und ich will mir die Mitfahrgelegenheit nicht entgehen lassen.«

Bereitwillig warf Fee ihm den Schlüssel zu. Sie war ohnehin keine leidenschaftliche Autofahrerin und die schnellen Reflexe der Vampire waren beim Autofahren zweifellos ein größerer Vorteil als die modernsten Sicherheitssysteme, genauso wie ihre ausgeprägte Nachtsicht. Es war logisch, ihm den Schlüssel zu überlassen, und sicher vernünftiger als sich mit einem Vampir zu streiten.

»Warum hast du nicht auch einen Wagen genommen?«, erkundigte sie sich, als sie auf dem Beifahrersitz Platz nahm und ihre Tüte auf die Rückbank warf. Indessen suchte Cornelius einen seiner Meinung nach passenden Radiosender für die Fahrt. Er entschied sich für einen Sender mit Charthits. Cornelius war zwar alt, aber nicht in der Vergangenheit verhaftet, sondern offen für moderne Technik und scheinbar auch für die neuesten Hits.

»Ich war per Anhalter unterwegs. So lernt man Leute kennen«, erklärte er grinsend und leicht dahin, aber Fee konnte sich gut vorstellen, wie er sich für die Mitfahrgelegenheit bedankt hatte.

»Wie geht es deinem Fahrer?« Ernste Sorgen musste sie sich um den unfreiwilligen Blutspender nicht machen, da die Vampire von Grey sich streng daran hielten, nicht zu töten. Als Oberhaupt ging Cornelius mit gutem Beispiel voran und ahndete die Verfehlungen seiner Artgenossen konsequent.

»Schläft im Parkhaus.« Er startete den Motor und lenkte den Wagen geschickt in den nachlassenden Feierabendverkehr, obwohl er vermutlich nie einen Führerschein gemacht hatte.

»Und was treibt dich in die Stadt?« Der Vampir deutete auf ihre Einkaufstüte auf dem Rücksitz und grinste. »Gehen dir etwa die weißen Klamotten aus?«, er zwinkerte amüsiert.

Fee musste lächeln, obwohl er sich über ihre bevorzugte Farbwahl lustig machte. »Stell dir vor, es ist blau!«

»Nein!«, rief Cornelius mit gespieltem Entsetzen, »und welche Botschaft willst du damit vermitteln? Lasst uns alle saufen? Das wäre mal eine neue Art Versammlung.«

Sie ignorierte die Abwertung ihrer weißen Kleidung, die bei Grey oft auf Gespött stieß. Ungeachtet solcher Bemerkungen war es ihr wichtig, so immer wieder zu zeigen, dass bei Grey auch die weiße Magie einen Platz hatte. In ihren weißen Sachen fiel sie so auf, dass keiner die Anwesenheit einer überzeugten Weißhexe leugnen konnte. Je mehr sie ihre Position festigte, desto mehr andere Hexen und Magier würden ihrem Beispiel folgen.

»Um Missverständnisse zu vermeiden, werde ich das Kleid wohl nicht bei Versammlungen tragen«, versicherte sie lächelnd, obwohl es eine durchaus amüsante Idee war, eine Versammlung unter Alkoholeinfluss abzuhalten. Sicher würden einige Teilnehmer sich so von einer ganz anderen Seite zeigen.

»Wo dann?« Cornelius’ jugendliche Neugier täuschte für einen Moment darüber hinweg, dass er uralt war – sogar älter als die meisten anderen Vampire.

»Privat.«

Ein erneuter Blick, diesmal mit hochgezogener Augenbraue. »Da bin ich gespannt.« Offenbar erwartete er, dass sie ihm mehr erzählte, aber so gute Freunde waren sie dann doch nicht.

Fee schwieg ihn entschlossen einige Kilometer auf der Bundesstraße an, in der Hoffnung, dass er das Interesse wieder verlor.

»Hast du ein Date?«

Offensichtlich vergebliche Hoffnung.

Fee sah hinaus ins Dunkel. »So in etwa.«

»Mit wem?«

Statt zu antworten, blickte sie weiter aus dem Fenster und Cornelius seufzte theatralisch. »Also mit Artnus.«

Die leeren Wiesen und Straßen zogen an ihr vorbei. Es hatte etwas Friedliches, so ganz anders als das eingezäunte Hauptquartier, in dem sie offenbar nicht einmal genug Freiheit hatte, heimlich Zuneigung empfinden zu können. Scheinbar beobachtete und bewertete jeder ihr Liebesleben.

»Ist das so offensichtlich?«

Bisher hatte sie immer gedacht, sie und Artnus hätten ihre Gefühle gut verheimlicht, zumal sie bisher ja auch nur gute Freunde waren. Wirkte diese Freundschaft auf Außenstehende so anders?

»Zumindest für alle, die genauer hinsehen. Er schmachtet dich schon so lange an, dass er sogar mir leid tut. Aber ich bin sicher nicht der Erste, der dir sagt, dass Artnus nicht gerade der Mann fürs Leben ist.«

Fee schloss die Augen und dachte an das blaue Kleid, das Artnus sicher gefallen würde. Deswegen hatte sie es gekauft, sie wollte ihm gefallen. War das wirklich so falsch, wie alle anderen es ihr einreden wollten?

»Darf ich ihn deshalb nicht gern haben?«, platzte sie schweren Herzens heraus, obwohl sie normalerweise keine Beziehungsgespräche mit Cornelius führen würde. Leider blieb ihr als Alternative nur Noctrius und gerade mit dem wollte sie dieses Thema noch weniger besprechen.

»Ich kann es dir nicht wirklich verdenken«, antwortete der Vampir schließlich, »er ist intelligent und nett. Aber er ist nicht die beste Wahl.«

Immerhin unterstellte Cornelius Artnus nicht gewalttätige Tendenzen, wie Noctrius es getan hatte. Dennoch ärgerte sie seine Äußerung, als wüsste er, wer der perfekte Partner für sie war.

»Und wer wäre deiner Meinung nach die richtige Wahl?«

Cornelius deutete grinsend auf sich selbst. »Ein attratktiver Vampir, anfang dreihundert, in Führungsposition.«

Fee musste unweigerlich das Grinsen erwidern und ihre Wut verrauchte, weil sie wusste, dass er es nicht ernst meinte.

»Ich nehme den Vorschlag zur Kenntnis.«

»Dann sag ich dir aber ehrlichkeitshalber, dass du meine dreizehnte Frau wärst, falls wir eines Tages heiraten. Ich bin nicht sicher, ob das Glück bringt. Und ich beiße.«

Sie musste lachen, obwohl es sie selbst irritierte, dass ausgerechnet ein abgebrühter und sonst eher reservierter Vampir sie zum Lachen brachte. In diesem Moment konnte sie sich sogar vorstellen, mit dem Vampir befreundet zu sein.

Viel zu schnell wurde er jedoch wieder ernst. »Fee, du solltest dir bewusst sein, dass Partnerschaften bei Grey nicht viel mit Liebe zu tun haben. Das ist eher wie in den mittelalterlichen Königshäuser eine politische Angelegenheit. Aus dieser Sicht ist Artnus keine gute Partie, er hat keinen Einfluss, ich bin nicht einmal sicher, ob seine eigenen Leute auf ihn hören.«

Sie seufzte genervt von diesen Machtspielchen, denen sie gewiss nicht ihr Liebesleben unterordnen würde. Schon schlimm genug, dass sie dieses Gespräch führen musste.

»Und wer wäre dann eine gute Partie?«, hakte sie dennoch nach, obwohl sie ahnte, dass Cornelius ihr bestenfalls erneut sich selbst vorschlagen würde.

»Du bist aktuell das Beste, was Magus zu bieten hat, deshalb könntest du ein mächtiges Bündnis schmieden, beispielsweise mit den Sehern. Oder du tust dich mit Noctrius zusammen, dann hat Magus eine Doppelspitze und er hat endgültig das Sagen bei Grey.«

Sie musste gar nicht antworten, dem amüsierten Blick nach verstand Cornelius auch so, wie sie über seinen letzten Vorschlag dachte.

»Oder du erklärst ihm den Krieg, wenn dir das lieber ist. Wie gesagt, ich kenne da so einen Vampir, der Single ist und Noctrius gerne eins auswischen würde.«

Mit einem halbherzigen Lächeln winkte sie entschieden ab. »Ich glaube, ich werde mein Liebesleben lieber unpolitisch gestalten.«

Cornelius schwieg nachdenklich, bis er den Wagen auf dem Parkplatz vor dem Hauptquartier anhielt.

»Mach dir bitte bewusst, dass Noctrius dich möglicherweise als Bedrohung seiner zunehmenden Macht sieht. Und offenbar kann er Artnus nicht leiden, wenn du dich also mit Artnus einlässt, könnte es sein, dass Noctrius sich von dir verraten fühlt.«

Fee spürte instinktiv, dass Cornelius damit Recht hatte. Da konnte sie sich auch nicht einreden, dass Noctrius ihr Freund war. Seine Freundschaft endete schlagartig, wenn er seine Machtposition gefährdet sah.

»Keine Sorge, ich kann mich wehren.«

Zur Not hatte sie ja den schwebenden Bergkristall. Kian war dagegen vermutlich immun, aber Noctrius wäre sicher erstmal außer Gefecht gesetzt.

Das gefangene Herz der Hexe

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