Читать книгу Das gefangene Herz der Hexe - Sabrina Kiehl - Страница 8
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Die Kopfschmerzen von Noctrius’ beinahe ungenießbaren Wein waren nicht das Schlimmste an diesem Morgen. Als Fee sich gequält zur anderen Seite ihres Bettes drehte, blickte sie in Kians magisch-grüne Augen.
»Guten Morgen«, flüsterte er lächelnd und scheinbar nicht annähernd so verkatert wie sie. Allerdings so nackt, wie sie befürchtet hatte.
Wie hatte dieses fürchterliche Abendessen damit enden können, dass sie mit Kian im Bett lag?
Natürlich war er ein toller Mann und er hatte sie zu nichts gezwungen, aber es war zu schnell gegangen und zu plötzlich gekommen. Selbst, wenn Kians Unterstellung richtig war und sie Artnus gar nicht wirklich liebte, hätte es nicht so weit kommen dürfen. Entgegen allen Vorurteilen über Hexen, die angeblich sogar Sex als Teil von magischen Ritualen verwendeten, war Fee eher der Typ Drei-Dates-vor-dem-ersten-Kuss.
»Morgen«, erwiderte sie etwas zerknirscht.
Wie ging man höflich mit so einer Situation um? Musste sie ihn jetzt zum Frühstück einladen oder konnte sie ihn einfach vor die Tür setzen? Was erwartete er von ihr?
»Es ist in Ordnung«, begann Kian plötzlich ruhig und gelassen, »du musst dich nicht dafür schämen, was wir getan haben.«
Fee drehte sich auf den Rücken und blickte an die Decke, zu ihrer handbemalten Papierlampe. Dieses Schlafzimmer hatte noch nie ein Mann betreten und irgendwie fühlte es sich falsch an, dass ausgerechnet Kian hier war.
Es fühlte sich durchaus an, als hätte sie Grund sich zu schämen, nicht nur wegen Artnus.
»Ich weiß nicht, ob das alle so sehen«, widersprach sie ehrlich, »du hast gerade erst deine Partnerin beerdigt.«
Auch wenn ihn das nicht sonderlich zu bedrücken schien, war es unangebracht, dass er nun schon ihrem Bett lag.
Kian setzte sich auf und sah auf sie herab, sodass sie wieder einmal in seine faszinierenden Augen blickte. Diese Augen mochte sie wirklich und sie gaben ihr immer noch ein wohliges Gefühl, auch wenn sonst die Schuldgefühle an ihr nagten.
»Alana war meine Lebensgefährtin, weil sie die letzte Frau meiner Art war und ich mit ihr Kinder zeugen sollte. Das hatte nichts mit Liebe zu tun, wir konnten uns noch nicht einmal leiden. Es war eben unsere Pflicht«, fahrig fuhr er sich mit den gespreizten Fingern durch das wirre goldblonde Haar. »Ich habe genug davon, mein Leben von anderen bestimmen zu lassen«, setzte er entschlossen hinzu.
Fee seufzte. Zumindest konnte sie teilweise nachvollziehen, wie Kian sich gefühlt haben musste. Für sie wäre wohl er der richtige Partner, wenn Noctrius das bestimmen könnte, das entsprach allerdings nicht ihren Gefühlen. Jedenfalls nicht den Gefühlen, die sie bisher gehabt hatte. Jetzt war alles anders, chaotisch und irgendwie schmerzhaft.
Es war ja nicht unangenehm mit Kian. Sie hatte sogar das Bedürfnis, ihn in die Arme zu schließen und zu küssen, aber sie wusste auch, dass dieser Sinneswandel viel zu plötzlich kam, um dem einfach nachzugeben. Sie brauchte Zeit, um wieder Ordnung in ihr inneres Chaos zu bringen.
»Du solltest jetzt besser gehen, damit deine Leute dich nicht vermissen«, schlug sie vor, obwohl sie bereits ahnte, dass Kian es ihr nicht so leicht machen würde.
»Keine Sorge, die werden schon nichts mitbekommen«, er lächelte, »Willst du mich loswerden?« Er klang keineswegs gekränkt, noch nicht einmal überrascht.
Fee setzte sich ebenfalls auf, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein, achtete jedoch darauf, dass die Decke ihren Oberkörper weiterhin bedeckte. Kian hatte sie zwar bereits nackt gesehen, aber das musste ja nicht zur Gewohnheit werden, auch wenn er selbst vollkommen unbekümmert mit seiner Nacktheit umging.
»Ich muss in die Schule. Da sollten wenigstens die Lehrer pünktlich sein.« Das meinte sie sogar ernst, obwohl sie im Moment vor allem ihn loswerden wollte, um sich in Ruhe Gedanken über die vergangene Nacht zu machen.
»Geht es bei euch so streng zu? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Noctrius eine Anwesenheitsliste führt.« Kian schien amüsiert und machte bedauerlicherweise keinerlei Anstalten, endlich zu gehen. Entweder er wollte sie ärgern oder er verstand nicht, wo sein Platz in ihrem Leben war: weit weg. Dabei passten diese Gedanken so gar nicht zu ihrem Selbstbild. Es war wirklich nicht ihre Art, einfach so mit einem Mann schlafen, den sie noch nicht einmal leiden konnte, und ihn dann rücksichtslos rauszuwerfen.
Das durfte sich nicht wiederholen. Rückgängig machen konnte sie es nicht, also musste sie wenigstens schnell zum Alltag zurückkehren. Obendrein quält sich ein Teil von ihr bereits mit der Frage, ob sie diesen Ausrutscher Artnus beichten sollte. Sie waren kein Paar, sie gingen ja nicht einmal miteinander aus, aber sie fühlte sich, als hätte sie ihn betrogen. Sollte sie sich entschuldigen? Sie fühlte sich zumindest, als sollte sie es tun.
Schnell besann sie sich darauf, dass sie zuallererst Kian loswerden musste, der immer noch ihr Bett belagerte.
»Magie funktioniert nicht ohne ein gewisses Maß an Disziplin und nur mit sehr viel Wissen. Das versuchen wir unseren Schülern zu vermitteln, nicht nur mit Übungen, sondern auch mit ganz banalen Verhaltensregeln, wie der Aufforderung zur Pünktlichkeit.«
Ausnahmsweise war in diesem Punkt sogar Noctrius ihrer Meinung. Insbesondere undisziplinierte Magier fanden bei ihm wenig Gnade, so warf er ohne Rücksicht auf ihre Abstammung und ihre Fähigkeiten nachlässige Schüler von der Schule. Aus Sicht von Grey waren unkonzentrierte Magier mit guter Ausbildung gefährlicher als schlecht ausgebildete Magier. Hätte Noctrius die Möglichkeit dazu, so würde er den betreffenden Schülern ihre magischen Fähigkeiten nehmen, statt sie nur vom Unterricht auszuschließen.
Leider wollte Kian sich allerdings nicht so einfach fortschicken lassen. Er streckte lächelnd eine Hand nach ihr aus, um sie an sich zu ziehen. »Ich denke, ich kann Noctrius erklären, dass du keine Schuld an deiner Verspätung trägst. Er wird Verständnis haben.«
Er küsste sie, leidenschaftlich und wild.
Fee legte trotz allen inneren Widerstrebens die Hände flach auf seine nackte Brust und ließ sich kurz treiben. So sehr ihr Kopf sich auch dagegen wehrte, mochte ihr Körper Kian und seine Berührungen. Nur ein kleiner Teil von ihr sehnte sich nach immer noch einem anderen.
Nach einem viel zu langen, viel zu guten Kuss, löste sie sich von Kian. »Ich muss wirklich los«, flüsterte sie, obwohl sie sicher war, dass Noctrius tatsächlich nachsichtig wäre, wenn er wüsste, wer sie zurückhielt. Gerade das gab dieser Nacht und diesem Kuss einen bitteren Beigeschmack. Es behagte ihr nicht, dass sie sich nun ausgerechnet zu dem Mann körperlich hingezogen fühlte, den Noctrius für sie ausgesucht hatte.
Vielleicht redete sie sich selbst diese Zuneigung nur ein, weil sie Noctrius zufriedenstellen wollte?
»In Ordnung«, Kian ließ sie erstaunlich bereitwillig los und Fee rutschte hastig an den Bettrand, bevor er sie doch wieder zurückhielt – oder ihr Verstand sich endgültig verabschiedete.
»Ich lasse dich gerne gehen, wenn ich weiß, dass du es eigentlich gar nicht willst«, setzte er hörbar zufrieden hinzu.
Es gefiel ihr nicht, dass er sie so gut durchschaute, obwohl sie selbst ihre Gefühle noch nicht verstand. Konnte es sein, dass sie sich wirklich zu Kian hingezogen fühlte? Dass die vergangene Nacht nicht nur eine Folge von zu viel Wein und einer aufgeheizten Stimmung gewesen war?
Warum dachte sie dann immer noch voller Wehmut an Artnus?
»Wie großzügig von dir«, murmelte sie, während Kian hinter ihr unter der Decke raschelte und sich endlich aus dem Bett schwang.
Sie hörte das charakteristische Rascheln von Stoff und nahm erleichtert zur Kenntnis, dass er sich anzog. Innerlich atmete sie auf, als hätte sie gerade eine lebensgefährliche Situation überwunden – dabei fühlte sie sich doch von ihm angezogen und nicht bedroht. Was war das nur für ein Chaos in ihrem Kopf?
Mit seinem Pullover in der Hand, Hosen und Schuhen angezogen kam er um das Bett herum, bis er vor ihr stand. Um nicht zu ihm aufsehen zu müssen, erhob Fee sich eilig, einen Teil der weichen Daunendecke um sich geschlungen.
Mit einem amüsierten Lächeln küsste Kian sie noch einmal. Diesmal nicht so drängend, sondern nur kurz und vorsichtig.
»Wäre es dir lieber, ich würde auf diese Großzügigkeit verzichten? Ich könnte dich einfach mitnehmen und Noctrius würde dich nie wiedersehen, selbst wenn er sich auf den Kopf stellt.«
Hätte er nicht so amüsiert gelächelt, hätte Fee vermutlich Angst bekommen. »Jetzt klingst du fast wie ein Psychopath.« Und sie wollte im Moment noch nicht einmal im Entferntesten an ein Wiedersehen denken, schon gar nicht daran, ihn in seine Wohnung zu begleiten.
»Dann solltest du mich nicht ärgern. Ich bin schlimmer als ein Psychopath, ich bin ein König.«
Fee schluckte schwer.
Sollte sie das als Scherz hinnehmen? Oder musste sie Angst haben? Denn natürlich war er in einer Position, in der ihm viele bei Grey fast alles durchgehen lassen würden. Möglicherweise sogar eine Geiselnahme.
Er warf sich seinen Pullover über und verließ den Raum. Als die Wohnungstür hinter ihm zufiel, sank Fee zurück auf die Bettkante.
Eigentlich vermittelte Kians Berührung ihr ein beruhigendes Gefühl von Geborgenheit und Nähe, aber bei diesem Abschied hatte sie eine Seite an ihm bemerkt, die ihr Angst machte. Er nahm sich, was er wollte – so war es auch mit ihr gewesen. Zwar hatte er sie zu nichts gezwungen, aber vielleicht wäre er durchaus dazu bereit gewesen, wenn sie weniger gefügig gewesen wäre.
Wie sah er nun ihre Beziehung?
War es mit diesem Abschied für ihn vorbei, weil er bekommen hatte, was er wollte?
Oder wollte er mehr? Wahrscheinlich, immerhin hatte er davon gesprochen, sie mitzunehmen. Wie würde er reagieren, wenn sie das nicht wollte? Würde er sie wirklich einfach ins Haus der Lichtwesen verschleppen, wie er es angedeutet hatte?
Selbst wenn er es wollte, käme Noctrius nie gegen die Lichtwesen an, die sicher sie hinter ihrem König standen. Im Moment war Fee sich nicht einmal sicher, ob Noctrius versuchen würde, ihr zu helfen.
Wäre sie doch nur zum Spieleabend bei den Spürern gegangen!
Rücklings ließ sie sich auf das Bett fallen und starrte zu ihrem offenen Kleiderschrank, in dem das blaue Kleid für ihr Date mit Artnus zwischen all dem Weiß herausstach. Es würde wohl noch eine Weile dort auf seinen Einsatz warten müssen.
Sie konnte ihn unmöglich zu einem Date einladen, unmittelbar, nachdem sie mit Kian geschlafen hatte. Zumal sie ja irgendeine Form von Zuneigung für Kian empfand, auch wenn die durch seine seltsame Verabschiedung schon wieder schwand.
***
Meditation war eigentlich Fees leichteste Übung, doch an diesem Morgen tat sie sich schwer. Sie versuchte, ihren Schülern die eigene Nähe zur Erde bewusst zu machen, und kam selbst nicht zur Ruhe. Dabei waren die zehn Schüler und Schülerinnen diesmal wirklich bemüht, keiner lachte über ihre Anweisungen, keine Handys klingelten und keiner tuschelte. Trotzdem saß Fee mit offenen Augen da und starrte durch das Fenster zu dem Zaun, der Grey vom Rest der Welt trennte.
Unbestreitbar war sie immer noch aufgewühlt von dieser Nacht und von der Ungewissheit, wie es weitergehen sollte. Im Grunde wollte sie darüber reden, über ihre verwirrenden Gefühle für Kian und ihre Schuldgefühle gegenüber Artnus, aber der Einzige, dem sie solche Gedanken anvertrauen könnte, war eben Artnus. Natürlich würde sie nicht mit ihm reden, weil es ihn verletzen würde, auch wenn er ihr vermutlich nicht einmal Vorwürfe machen würde.
»Das war es für heute«, verkündete sie erleichtert und entließ ihre Schützlinge zur nächsten Unterrichtsstunde.
Seufzend wandte sie sich der Vitrine mit den Edelsteinen zu. Ob sie die Konzentration für diese Übung nun wirklich aufbringen konnte? Andererseits brauchte sie dringend Ablenkung von der Erinnerung an Kian und das, was sie zusammen getan hatten. Dabei war die Erinnerung eigentlich gar nicht so unangenehm. So schlimm war der Gedanke an eine Wiederholung auch gar nicht. Nur seltsam.
Sie nahm den Bergkristall von seinem Polster. Er war von den vielen Übungen so aufgeladen, dass er regelrecht vibrierte. Diese extreme Aufladung war der Grund, warum der Stein sich sogar ihren unbewussten Befehlen beugte. Er leistete ihr ausgezeichnete Dienste. Noctrius hatte ja keine Ahnung, wofür sie diesen Stein wirklich verwendete.
»Wen willst du diesmal umbringen?«
Erschrocken fuhr sie mit dem Stein in der Hand zu Noctrius herum.
»Niemanden«, beteuerte sie beinahe sprachlos.
Der Schwarzmagier kam langsam näher.
»Dann muss ich also keine Angst haben?«
Sie betrachtete den Stein. Er wurde sofort warm.
»Natürlich nicht«, bestätigte sie, obwohl es verlockend war, ihm zumindest etwas Angst zu einzujagen. »Du solltest dir aber auch nicht einbilden, dass wir noch Freunde sind.«
Diese Klarstellung musste sie loswerden und vielleicht waren sie nie Freunde gewesen, vielleicht war das immer nur Wunschdenken gewesen. Zumindest hätte ein Freund sie nicht so vorgeführt.
Noctrius zuckte mit den Schultern. »Ist es so schlimm, dass ich mich um dein Liebesleben sorge?«
»Sorgen kannst du dich, so viel du willst, aber du hättest mich nicht so bloß stellen dürfen!«
Der Stein in ihrer Hand war inzwischen unangenehm heiß und schrie förmlich danach, zumindest ein eindrucksvolles Loch in der Wand zu hinterlassen. Dazu brauchte sie gar keine Telekinese-Übungen, sie war wütend genug, dass sie den Stein quer durch den Raum werfen könnte.
»Ich wollte dir nur einen Schubs in die richtige Richtung geben, sonst hättest du dich doch nur diesem jämmerlichen Todgeweihten an den Hals geworfen.« Er lächelte selbstgefällig. »Du musst zugeben, dass Kian gar nicht so übel ist, wenn man ihn etwas kennt.«
Fee starrte ihn böse an und sah an seinem Grinsen, dass er wusste, was sie und Kian in dieser Nacht getan hatten. Wieder eine Folge der dünnen Wände.
»Deiner Meinung nach wäre er also der Richtige für mich?« Vergeblich versuchte Fee, sich selbst zu besänftigen und genauso den Stein, obwohl sie wirklich gerne ihrer Wut freien Lauf gelassen hätte.
»Ja«, kam die prompte Antwort, »er ist intelligent, attraktiv und ganz offensichtlich sehr an dir interessiert. Außerdem würde eine Beziehung uns ein Bündnis mit den Lichtwesen ermöglichen.«
Fees Finger schlossen sich so fest um den Stein, dass sie bereits befürchtete, er könnte zerbrechen.
»Du weißt schon, dass man solche Bündnisse auch durch Gespräche schließen kann.«
Noctrius ging an ihr vorbei und sah aus dem Fenster.
»Vielleicht, aber wir hätten sicher schlechte Karten, wenn Kian beleidigt wäre, weil du an seiner Stelle einen Spürer knutschst.«
Schweren Herzens folgte sie Noctrius ans Fenster, um ihm diese Logik auszureden. »Kian wird es verkraften, es gibt noch genug andere.«
Noctrius grinste sie selbstbewusst an. »Du bist manchmal echt schwer von Begiff, meine Liebe. Das würden dir vermutlich auch Kian und sogar Artnus bestätigen.« Entschlossen nahm er ihr den Stein aus der Hand. »Kian ist schon lange an dir interessiert und wenn du ehrlich bist, seid ihr das perfekte Paar. Eine mächtige Hexe und der Lichtwesenkönig. Er hat soviel Macht, dass selbst den Hellseher die Knien schlottern. Und du bist so beliebt, dass sogar die Vampire mit dir plaudern. Ihr zwei könnt Grey als Königspaar regieren, besser als alle bisherigen Anführer oder diese lächerliche Versammlung!«
Zum Glück hatte er nun den Stein, sonst hätte sie vermutlich doch noch ihrer Wut nachgegeben und den Stein Irgendwogegen geworfen.
»Ich habe nicht vor, irgendwen zu regieren! Lass mich aus deinen Machtspielchen raus!«, fuhr sie ihn an, aber Noctrius schien davon nicht beeindruckt, er lächelte sogar immer noch.
Eigentlich passte es gar nicht zu ihm, dass er Kian in dieser Zukunftsvision die Position des Anführers zugestand. Fee hätte eher erwartet, dass er selbst die Macht ergreifen wollte.
Genervt schnaufte Noctrius einmal. »Gut, dann lass das alles beiseite. Gib wenigstens zu, dass du Kian magst, dass du ihn lieben könntest, wenn du nicht so fixiert auf einen anderen wärst.« Nun sprach er leise und eindringlich. »Mit Kian könntest du ein langes, glückliches Leben führen. Mit Artnus hast du im besten Fall ein paar Jahre, bevor ihn sein Schicksal in Form einer unheilbaren Krankheit ereilt.«
Fee ballte unweigerlich die Fäuste. Es schmerzte, diesen kühlen, sachlichen Vergleich zu hören. Seit wann beurteilte man denn den Wert einer Liebe danach, wie lange sie halten konnte?
Diese Herangehensweise entsetzte sie geradezu, trotzdem konnte sie nicht abstreiten, dass Noctrius rational betrachtet, Recht hatte. Viel zu sehr sogar. Sie vermied selbst schon so lange jede weitere Annäherung an Artnus, weil sie Angst davor hatte, wie diese Liebe eines Tages enden würde. Sie hatte zu viele Spürer erkranken und sterben sehen, als dass sie die Krankheit verdrängen könnte. Sie hatte auch Artnus an seinem Dasein verzweifeln sehen. Er selbst hatte die Hoffnung, dass er jener Krankheit entkommen war, aber er wäre der Erste. Die Wahrscheinlichkeit, dass Fee ihn zu Grabe tragen musste, war hoch.
Zu hoch?
Ihr Kopf sagte ihr, dass Noctrius Recht hatte, aber ihr Herz war zerrissen. Ein Teil hing so sehr an Artnus, dass es ihr wie der schlimmste Verrat schien, überhaupt an einen anderen zu denken. Inzwischen mochte allerdings auch ein Teil ihres Herzens Kian, der so unter dem Druck seiner Artgenossen litt und sich nach Nähe sehnte.
Vielleicht könnte sie sich wirklich in ihn verlieben.
Noctrius legte ihr freundschaftlich und tröstend eine Hand auf die Schulter. »Keiner hat gesagt, dass Liebe einfach ist. Du wirst dich schon richtig entscheiden.«
Fee seufzte traurig. Vielleicht wäre es das Beste, sich wieder auf die Magie zu konzentrieren. Immerhin war inzwischen ihre Wut auf Noctrius verraucht, nicht genug, um ihm ihre verwirrenden Gefühle anzuvertrauen, aber genug, um keinen Stein mach ihm zu werfen.
Er klopfte ihr noch einmal leicht auf die Schulter und reichte ihr den erkalteten Bergkristall zurück, bevor er entspannt davon schlenderte.
Ein wenig beneidete sie ihn nun darum, dass er so erfolgreich alle Frauen auf Abstand hielt. Zumindest eine Sorge hatte er so weniger.
Immerhin hatte sie nun ein Mindestmaß an innerer Ruhe zurückgefunden, sodass sie sich mit dem Stein in der Hand auf den Boden setzte und die Augen schloss.
Sie konzentrierte sich auf ihren eigenen Herzschlag und ihre Atmung. Auf die Stille. Dann öffnete sie ihr geistiges Auge, ohne die Augen wirklich zu öffnen. Zuerst war alles schwarz. Ohne den Kopf zu bewegen, senkte sie den Blick auf ihre Hand. Langsam erschien der Bergkristall aus dem Nichts, weil sie mit ihm schon so lange geübt hatte. Er diente ihr als Anker, wenn sie versuchte, Körper und Geist zu trennen. Allmählich setzte sich aus Lichtpunkten ihre Hand zusammen. Mit jedem Atemzug wurde das Gebilde deutlicher, bis es wirkte, als blickte sie mit offenen Augen darauf. Danach war es leicht, auch den Rest ihres Körpers und den Raum um sie herum erscheinen zu lassen.
Vorsichtig bewegte sie diese Finger, die sie aus purer Gedankenkraft geschaffen hatte, ohne dass sich ihr physischer Körper rührte. Stück für Stück erlangte sie Macht über diesen zweiten Körper – ihren Astralkörper.
Langsam rappelte sie sich auf, bis sie auf ihren realen Körper herabblicken konnte. Die echte Fee saß in meditativer Haltung auf dem Boden. Ihr Astralkörper bewegte sich unabhängig davon durch den Raum.
Die Freude über diesen Erfolg ließ sie lächeln.
Die echte Fee begann ebenfalls zu lächeln.
Schlagartig verlor sich ihr Astralkörper wieder in ihrem physischen Körper. Noch war sie unerfahren in dieser Technik, auch wenn sie mit jedem Mal besser wurde. Und selbst Noctrius war an Astralreisen bisher gescheitert.
Irgendwann würde sie ihm ihren neuen Trick vorführen, aber vorerst behielt sie diesen Fortschritt für sich, bis sie es gut genug beherrschte.
***
Fee hatte alles für einen ruhigen Abend vorbereitet: Eine DVD mit einem Liebesfilm zum Heulen lag bereit, eine Tasse heiße Schokolade stand auf dem Couchtisch und ihre liebsten Kekse ersetzten ein richtiges Abendessen. Alles, was sie brauchte, um zur Ruhe zu kommen und ihre Gedanken zu ordnen. Das, was allerdings nicht zu diesem Plan passte, war Kian, der unangemeldet an der Tür klopfte.
»Kann ich reinkommen?«, bat er höflich.
Fee war versucht, ihm diese Bitte abzuschlagen, aber er würde wohl kaum einfach wieder gehen. Wenn sie eine lange Diskussion im Hausflur anfing, würde Noctrius darauf aufmerksam werden und mit dem hatte sie schon mehr als genug für einen Tag diskutiert. Widerwillig aber mit einem freundlichen Lächeln ließ sie ihren ungebetenen Gast ein.
»Störe ich?«, hakte er nach, während er durch ihr Wohnzimmer schlenderte. »Hattest du etwas vor?«
Fee folgte ihm und ließ sich langsam auf ihrem kleinen roten Sofa vor einem gläsernen Tisch mit filigranem Metallgestell nieder.
»Ich wollte mir nur einen ruhigen Abend machen.« Und eigentlich hoffte sie, dass sie im Laufe dieses Abends zu mehr Klarheit über ihre Beziehung mit Kian kam.
Kian setzte sich neben sie und lächelte charmant.
»Das geht zu zweit noch viel besser.«
Fee hob abschreckend die Hülle der DVD mit einem klischeehaft kitschigen Cover. »Eigentlich wollte ich mir bei einer Schnulze die Augen ausheulen. Ist wohl eher nicht so dein Ding.«
Kian nahm mit einer Hand die Hülle und legte gleichzeitig den freien Arm um ihre Schultern, als wäre es sein Recht, das zu tun. »Ich kann aber auch nicht einfach gehen, wenn ich weiß, dass du weinen wirst.«
Zumindest an diesem Abend brauchte sie wohl keinen Liebesfilm mehr, Kian hatte scheinbar vor, die kitschigen Szenen mit ihr nachzustellen.
»Hat dir noch keiner gesagt, dass wir Frauen das manchmal einfach brauchen?«
Er zog sie drängend an sich, bis sie zögernd den Kopf an seine Schulter legte.
»Dann will ich wenigstens da sein, um deine Tränen zu trocknen.«
Noch mehr Liebesfilmgelaber. Hatte er eine heimliche Neigung zu Herzschmerzfilmen, von der bisher keiner wusste?
»Du musst dich nicht verpflichtet fühlen, jetzt auf Pärchen zu machen, nur wegen der letzten Nacht«, beteuerte Fee sachlich und bemüht, ihren Unmut über seine Anwesenheit zu verbergen. Im Moment wäre es ihr lieber, er würde gehen, damit sie ihre Gedanken und Gefühle sortieren konnte. Denn in seiner Gegenwart war es schwer, nachzudenken. Nicht nur, dass seine Schulter unter ihrem Kopf sich gut und richtig anfühlte, irgendwie wurde ihr Verstand zunehmend träger.
»Doch, das muss ich, weil du dich sonst möglicherweise wieder in deiner Bessenheit für einen anderen verrennst, nur weil du nicht wahrhaben willst, dass er der Falsche ist.«
Fee dachte an diesen Falschen und es fiel ihr so schwer, dass es fast schmerzte. Dabei würde es Artnus noch viel mehr schmerzen, wenn er sie zusammen mit Kian sähe.
»Warum ist es dir so wichtig, zu verhindern, dass ich mit Artnus zusammen komme?«
Im Grunde hatte Kian doch längst gehabt, was er wollte. Sie hatte mit ihm geschlafen, also sollte sein Interesse gestillt sein.
»Weil ich dich für mich will.«
Sie drehte sich, bis sie ihn wieder ansehen konnte. Er lächelte, aber seine magischen Augen wirkten ernst und nachdenklich. Sein Strahlen schien diesmal kaum vorhanden, so dass man ihn fast für einen Menschen halten könnte. Hatte er Einfluss darauf? Wollte er sich menschlicher geben, als er war?
Er legte die DVD beiseite, bevor er die freie Hand um ihr Kinn schloss, sodass sie sich nicht wehren konnte, als er sie küsste. Wenn sie es überhaupt gewollt hätte. Es war ein behutsamer und doch eindringlicher Kuss, der ihr nicht gerade dabei half, klar zu denken. Ihr Herz schlug schnell vor Aufregung, aber nicht etwa vor Angst. Nur ein winziger Teil weinte jämmerlich, er ist der Falsche!
Kian gab ihre Lippen langsam wieder frei und strich zärtlich mit dem Daumen darüber.
»Noctrius hat wirklich Recht damit, dass du vieles nicht richtig siehst, Felicitas«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, wie oft ich dich schon bei den Versammlungen beobachtet habe. Ich habe oft daran gedacht, wie gerne ich Alana für dich verlassen wollte. Jetzt bin ich endlich frei und bin so nah dran, dich zu bekommen, dass ich unmöglich aufgeben kann.«
Sie schluckte schwer. »Du hattest mich ja schon.«
Ein erneuter Kuss, der sich so unbeschreiblich richtig anfühlte, der sie von innen wärmte und das seltsame Unwohlsein in ihrem Herzen immer mehr verschwinden ließ.
»Ich rede doch nicht nur von Sex!«, erwiderte Kian schließlich ernst, beinahe schon entrüstet. »Ich will dich und ich will dein Herz!«
Sein nächster Kuss war so heftig, dass Fee der Atem stockte und ihr ganzer Körper kribbelte, weil unweigerlich auch seine unnatürliche Energie in diesen Kuss strömte. Es war eine Wohltat, als könnte er so alle Sorgen vertreiben.
Mit sanfter Gewalt drängte er sie mit dem Rücken auf die Couch und brachte sich über sie. »Ich weiß, dass du mich lieben kannst, dass du es vielleicht sogar schon tust, du klammerst dich nur so stur an deine Zuneigung für Artnus, dass du dir selbst im Weg stehst.«
Der Teil von ihr, der sich gegen diese Worte mit einer Ohrfeige wehren wollte, war zu schwach, um auch nur einen Finger zu rühren. Der Teil von ihr, der die Wahrheit in Kians Worten erkannte, schlang begierig die Arme um seinen Nacken und zog ihn zu einem weiteren leidenschaftlichen Kuss heran.
»Lass es uns doch einfach probieren«, flüsterte er zwischen zwei Küssen, »lass uns ein Paar sein, vielleicht macht es dich glücklich.«
Ein Teil von ihr schrie panisch auf. Nein!
Aber es drang nur undeutlich in ihr Bewusstsein, wie von einer dicken Wand abgefangen. Als wäre dieser Teil von ihr in einer fast schalldichten Zelle irgendwo in ihrem innere eingesperrt.
Ganz gleich, wie sehr dieser Teil tobte und mit Fäusten um sich schlug, wurden die Mauern seines Gefängnisses mit jedem Kuss und jeder Berührung von Kian undurchdringlicher.
Bald würde dieser Teil erschöpft und kraftlos aufgeben.
Vielleicht war es besser so.