Читать книгу Direkte Restaurationen im Seitenzahnbereich - Salvatore Scolavino - Страница 18
Wahrnehmung des Ganzen
ОглавлениеAlle diese Wahrnehmungen (proximaler Reiz) verbinden sich miteinander und definieren die Wahrnehmung des Ganzen, d. h. der Gesamtform (distaler Reiz). Die visuelle Erkennung einer Figur oder eines Objekts kann als „Integration und relative Übereinstimmung zwischen dem Netzhautbild und der im Gedächtnis gespeicherten Darstellung“ beschrieben werden. Frühere Erfahrungen haben einen so starken Einfluss auf die visuelle Wahrnehmung, dass die Formen in Abbildung 13, obwohl durch gestrichelte Linien dargestellt, einem Kreis und einem Rechteck gleichgesetzt werden können.
Dies geschieht, weil die erfassten Informationen so einfach und kohärent wie möglich organisiert werden (Gesetz der Geschlossenheit). Das Gehirn ist ständig darauf ausgerichtet, die betrachteten Bilder nach einem vereinfachten Prozess zu verarbeiten, den die Gestalttheorie mit dem „Gesetz der Erfahrung“ erklärt: Jedes Mal, wenn man ein Objekt betrachtet, ordnet das Gehirn das Bild einer bereits bekannten Form zu, um den Wahrnehmungsmechanismus zu vereinfachen.3
“ WO GRELLES LICHT ODER KEINERLEI LICHT VORHANDEN IST, GIBT ES KEINE FORM. DAS GLEICHGEWICHT ZWISCHEN LICHT UND SCHATTEN ERMÖGLICHT DIE WAHRNEHMUNG DER FORM IN IHREN FEINSTEN DETAILS.
Abb. 7 Anatomische Relationen zwischen den anatomischen Bestandteilen eines Molaren, zwischen dem einzelnen Molaren und dem umgebenden Raum sowie zwischen den Molaren.
Abb. 9 Umriss.
Abb. 10 Wenn kein Kontrast zum Hintergrund vorhanden ist, ist die Form nicht zu erkennen.
Abb. 11 Ein Molar ohne Schatten. Die Form ist nur auf einem kontrastierenden Hintergrund zu erkennen.
Abb. 12 Ohne kontrastierenden Hintergrund ist das Bild nicht zu erkennen.
Abb. 13 Aus rationaler Sicht dürften wir die beiden Figuren wegen der gestrichelten Linien nicht mit bekannten geometrischen Formen gleichsetzen. Das Gehirn neigt aufgrund kognitiver Erfahrung dazu, das Ganze zu vereinfachen und assoziiert die beiden Figuren mit einem Kreis und einem Rechteck.
Je regelmäßiger und einfacher die Formen sind, desto weniger entkommen sie unserer Wahrnehmung (Gesetz der Prägnanz oder der guten Gestalt).3
Sehr interessant sind die Studien von Betty Edwards, die in ihrem Buch „Garantiert zeichnen lernen“ (englischer Originaltitel: Drawing on the Right Side of the Brain) einige sehr erstaunliche Aspekte im Zusammenhang mit dem Einfluss früherer Erfahrungen auf die Wahrnehmung hervorhebt.4
Der Umstand, dass eine Gehirnhälfte über die andere dominiert, hat enormen Einfluss auf die perzeptiven Fähigkeiten, vor allem vor dem Hintergrund, dass die rechte Gehirnhälfte für künstlerische und kreative Haltungen steht, während die linke für rationales, analytisches und logisches Denken zuständig ist. Dominiert die linke Gehirnhälfte, so hat der Betroffene Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung, Analyse und Verarbeitung der Form. Im gegenteiligen Fall besteht eine ausgeprägte künstlerische Eignung (Roger Sperry 1913–1994).5
Die Worte des Neurochirurgen Richard Bergland im Jahr 1985 waren sehr klar: „Man hat zwei Hirne: ein rechtes und ein linkes. Die moderne Wissenschaft weiß heute, dass das linke Hirn verbalen und rationalen Funktionen vorsteht: Es denkt ernsthaft und reduziert Gedanken in Zahlen, Buchstaben und Wörter ... Das rechte Hirn ist für nonverbale und intuitive Funktionen zuständig: Es denkt in Modellen oder Figuren, die das „Ganze“ ausmachen und lässt keine Vereinfachungen zu, weder Zahlen, noch Buchstaben, noch Wörter“.6
Deshalb müssen bei denjenigen, deren kreative Hemisphäre von der linken Gehirnhälfte „dominiert“ wird, die Voraussetzungen geschaffen werden, um die rechte Gehirnhälfte aus dieser Art Schlummer herauszuholen.
In einem seiner Experimente fordert Edwards dazu auf, eine bekannte Zeichnung zu kopieren und dabei auf den Kopf zu stellen, etwa so, als würde man beispielsweise jemanden darum bitten, die „Mona Lisa“ auf den Kopf gestellt zu kopieren. Diese Erfahrung desorientiert den Lernenden, indem sie ihm jeglichen, im Gedächtnis abgespeicherten Bezug, der auf das bekannte, zu kopierende Bild hinweisen könnte, entzieht und auf diese Weise seine visuelle Wahrnehmung stimuliert.
Es wäre interessant, wenn der Leser beginnen würde, „die Dinge“ mit einem anderen Wahrnehmungsansatz zu betrachten und sich von den die perzeptiven Fähigkeiten und Kreativität einengenden didaktischen Schemata und bisherigen kulturellen Erfahrungen zu befreien.
Das Prinzip Figur/Hintergrund, bzw. das Verhältnis zwischen der Figur und dem von ihr dominierten Hintergrund, ist auch als „Prinzip des Kontrastes“ bekannt und ist die Grundlage der visuellen Wahrnehmung. In der Tat wird nach Ansicht des dänischen Psychologen Edgar Rubin (1886–1951) die Präsenz eines Körpers nur aufgrund des Kontrastes wahrgenommen, der zwischen dem betrachteten Körper und dessen Hintergrund besteht (Pind 1915)7. Wenn hingegen nur wenige oder keine Anhaltspunkte vorhanden sind, kann unser Verstand Schwierigkeiten bei der Entscheidung haben, welche Form er als Figur deutet und welche als Hintergrund (Abb. 14).
Durch die visuelle Zerlegung, d. h. die Trennung jedes einzelnen Bestandteils des Objekts von allen anderen Bestandteilen, erscheint die Wahrnehmung der Form klarer und einfacher. Wenn man nämlich jeden einzelnen Bestandteil betrachtet und im Detail analysiert und anschließend die Teile wieder zusammenfügt, erhält das Ganze eine „neue Wahrnehmung“. Aus geometrischer Sicht bestehen die Oberflächen eines festen Körpers im Wesentlichen aus:
Abb. 14 Das Bild veranschaulicht das Konzept Figur/Hintergrund. Wenn man die Abbildung betrachtet, kann man das Gesicht einer Frau wahrnehmen und/oder einen Mann, der Saxophon spielt. Die Informationen zu Bild und Hintergrund sind nicht klar voneinander abgegrenzt, und der Verstand gerät so sehr in Konflikt, dass er die Figur nicht vom Hintergrund unterscheiden kann.
• Kanten: die Segmente, welche die Spitzen des festen Körpers verbinden;
• Spitzen: die Punkte, an denen sich die Kanten treffen;
• Seiten: die aus den auf gleicher Ebene liegenden Spitzen und Kanten gebildeten Figuren.8
Ein Zahn ist mit einem aus Kanten, Spitzen und Flächen bestehenden festen geometrischen Körper vergleichbar (Abb. 15).
Diese Übergangsbereiche sind mit mehr oder weniger abgerundeten Kanten vergleichbar, die den Verbindungsbereich zwischen zwei oder mehr einander gegenüberliegenden Flächen darstellen.11 In der Natur ist eine enorme intraindividuelle und interindividuelle anatomische Variabilität anzutreffen. Wenn wir in diesem Bewusstsein die Okklusalfläche eines Molaren aufmerksam betrachten, stellen wir fest, dass die gesamte okklusale Anatomie vom umlaufenden Höckergrat ausgeht, d. h. von der Summe der anatomischen Spitzen, welche die Kante darstellen, an der die vestibuläre, die mesiale, die distale und die palatinale/linguale Fläche in die Okklusalfläche übergehen.
Abb. 15 Die Zahnflächen und die Darstellung einer Kante.
Abb. 16 Die Zahnflächen mit Darstellung der Kanten und des Übergangsbereiches.
Abb. 17, 18 Das gezeichnete Schaubild zeigt den Zahn als Zusammensetzung aus einer Vielzahl von Kanten und Übergangsbereichen, wo es unendlich viele Variablen gibt und jedes kleine Detail zum Protagonisten wird.
Wenn man verstehen möchte, wie die Okklusalfläche eines Molaren beschaffen ist, muss man sie in ihre strukturellen Bestandteile zerlegen. Wenn man den mesiobukkalen Höcker eines oberen Molaren (Abb. 19) zerlegt, erkennt man folgende Bestandteile:
• Spitze des umlaufenden Höckergrats;
• bukkaler Wulst;
• Dreieckswulst.
Bei genauerer Betrachtung hat der Dreieckswulst weitere Bestandteile:
• Kamm des Wulstes;
• mesiale und distale Abhänge, die in zwei Nebenfissuren enden.
Daraus lässt sich folgern:
• Jeder Kamm eines Wulstes wird durch eine Seite des Höckers, an dem der Wulst seinen Ursprung hat, durch die Abhänge (mesial und distal), die seine lateralen Grenzen darstellen, sowie durch die Fissuren, in denen die Abhänge des Wulstes enden, abgegrenzt;
• jeder Abhang befindet sich zwischen einem Kamm des Wulstes und einer Fissur, und jede Fissur befindet sich zwischen zwei Abhängen und kann mit anderen Fissuren verbunden sein.9
Abb. 19 Zerlegung des Dreieckswulsts in die Spitze, den mesialen und den distalen Abhang und die Fissuren.
Die Wechselbeziehung, die zwischen den Bestandteilen des betrachteten Objekts besteht, konkretisiert sich in der Ausdruckskraft des wahrgenommenen Bildes: Wir sehen die Spitze des Wulstes, weil Abhänge und Fissuren vorhanden sind. Wir sehen einen Abhang des Wulstes, weil er durch eine Spitze des Wulstes und eine Fissur abgegrenzt ist. Wir sehen eine Fissur, weil sie sich zwischen zwei Abhängen befindet.
Alles hängt davon ab, was wir sehen und aus welcher Perspektive wir es betrachten.
Rudolf Arnheim schreibt: „Die Wahrnehmungsform ist das Ergebnis der Interaktion zwischen dem physischen Objekt, dem Medium Licht, das die Informationen überträgt und den jeweiligen Bedingungen im Nervensystem des Betrachters. Die Form des Objekts, das wir sehen, hängt jedoch nicht nur von seiner Projektion auf die Netzhaut zu einem bestimmten Zeitpunkt ab: Das Bild wird durch die Gesamtheit der visuellen Erfahrungen bestimmt, die wir im Laufe unseres Lebens mit diesem Objekt oder einem ähnlichen Objekt gemacht haben“.10
In Bezug auf die Betrachtung der Dinge im Allgemeinen weist Arnheim darauf hin, dass „das Detail das Ganze ist“ und die Gesamtform nichts anderes ist, als eine Gesamtheit von Details, die sie ausmachen: Ohne das Detail gibt es keine Form.
Ein Zahn setzt sich anatomisch aus einer Gesamtheit von „Details“ zusammen, die durch ihre Interaktion miteinander die wahrgenommene Gesamtform bilden.