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Prolog
Begegnung mit dem Todesengel

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In Auschwitz gab es keinen Kalender. Keine Daten, keine Geburtstage oder Gedenktage, nichts, was die Zeit strukturiert hätte. Für die Glücklicheren unter uns, diejenigen, die überlebt haben, wurden aus Nächten Tage, aus Tagen Wochen. Den Ablauf der Monate erlebten nur wenige.

Deshalb weiß ich nicht mehr genau, wann ich krank wurde. Vermutlich war es im Dezember 1943, der so kalt war, wie nur ein polnischer Winter sein kann. In meiner dünnen gestreiften Jacke und den Hosen hätte ich frieren sollen, aber an diesem Morgen war mir heiß, und ich schwitzte.

Wir schliefen zu fünft in den „Kojen“, den dreistöckigen Betten, zusammengepfercht auf den harten, feuchten Holzbrettern, und ich brauchte eine Weile, um festzustellen, dass ich die Körperwärme der anderen jetzt eigentlich nicht mehr spüren sollte. Ich war allein. Es hämmerte in meinem Kopf, und mein Hals schmerzte. Vor dem Krieg war man zum Arzt gegangen, wenn man krank wurde. Und wenn man sich keinen Arzt leisten konnte, blieb man im Bett, packte sich warm ein und nahm ein Aspirin. Aber solche Ärzte gab es in Auschwitz nicht. Und das einzige Krankenhaus dort war ein Ort des Todes: der Häftlingskrankenbau, abgekürzt HKB. Wir alle wussten, dass er das Vorzimmer der Gaskammer war. Also knöpfte ich meine Jacke zu und versuchte, mir den Schüttelfrost nicht anmerken zu lassen, den das Fieber in mir auslöste.

Ich erinnere mich kaum noch an meine Arbeit an der Rampe an diesem Tag. Vermutlich fuhren die Züge ein wie immer, die Wagen ratterten, die Lokomotiven schnauften und ließen zischend den Dampf entweichen. Dann wurden die Türen entriegelt, und die armen verdammten Seelen blinzelten ins Tageslicht. Ich hatte das alles schon so oft gesehen, dass ich es kaum noch wahrnahm. Kleinkinder krallten sich schreiend an ihre Mütter, Frauen umklammerten ihre Kinder, Gemeindeälteste versuchten mit den Wachmannschaften zu reden und verlangten Erklärungen für das Unerklärbare. Alte Leute, zitternd und mit wildem Blick, humpelten die Rampe entlang, angetrieben von den SS-Leuten.

Ich wusste, welche SS-Leute man meiden musste, zu welchen man besser keinen Blickkontakt aufnahm. Ich wusste auch, welchen Hunden man aus dem Weg gehen musste. Und ich erledigte meine Arbeit wie immer. Ich zog die steifen, mit Exkrementen verschmierten Leichen aus den Wagen und versuchte, den Gestank nicht einzuatmen. Wir legten sie auf den Beton, weit hinter den Lebenden, die schon weggebracht wurden. Nach rechts bedeutete Leben. Nach links bedeutete Tod im Gas. Keine Erklärungen, keine Begründungen. Nur eine lässige Bewegung eines Fingers in einem makellos sauberen Handschuh. Rechts, links, links, rechts, links, links.

Ich erinnere mich, dass ich an diesem Tag auf die Rampe hinunterstarrte. Sie sah aus wie ein Schlachtfeld, aber so sah sie immer aus. Die Leichen wurden weggebracht, um Platz für die Stapel von Mänteln und Taschen zu schaffen, eine Puppe, eine Brille. Man hatte ihnen gesagt, sie sollten ihre Sachen dort lassen, sie würden sie nach dem Duschen wiederbekommen. Nach der Entlausung. Nach dem Zyklon B.

In meinem Kopf drehte sich alles. Die Schreie der SS-Leute und der Kapos hallten wie ein Echo in mir wider. Plötzlich schien alles sehr weit weg – der schnaufende Zug, die schnell verschwundenen Kolonnen von Neuankömmlingen. Arbeit macht frei. „Raus, raus! Schnell! Dreckige Juden!“ Arbeit macht frei …

Als ich wieder hochfuhr, wusste ich nicht, wo ich mich befand. Alles war grau, hier und da bewegten sich ein paar schwarze Flecken. Ich sah genauer hin, mein Kopf wurde allmählich klarer. Jetzt wusste ich, wo ich war. Dies war der Krankenblock, dort hatte man die Wände weiß gestrichen, um ihm einen Anschein von Sterilität zu verleihen. Die schwarzen Flecken waren Patienten wie ich. Sie trugen immer noch die gestreifte Häftlingsuniform.

Wie viele Stunden oder Tage ich dort blieb, weiß ich nicht. Ich war nur dankbar für das Bett, das sich nach all den Wochen auf den harten Brettern weich und nachgiebig anfühlte. Die Matratzen bestanden aus Papier und waren mit Sägespänen gefüllt, aber sie waren wenigstens nicht ganz so rau wie unsere üblichen Strohsäcke. Auch hier schliefen wir zu dritt auf einer Pritsche, alle Patienten mit Infektionskrankheiten zusammengepfercht. Die Suppe war ein kleines bisschen dicker, und wir bekamen ein Extrastück Brot. So etwas stärkt den Überlebenswillen. Dafür würden einige Männer im Hauptlager jemanden umbringen. Das Fieber kam und ging, die Kopfschmerzen, der Dauerschmerz in Armen und Beinen und die Schwäche, die mir das Gefühl gab, ein Krüppel zu sein. Ich war siebzehn Jahre alt, aber ich fühlte mich wie ein alter Mann.

Ich hatte Typhus, die Krankheit, die man auch Gefängnisfieber nannte, weil sie in Gefängnissen und Lagern so häufig ausbrach. Wie passend, dass ich sie ausgerechnet in Auschwitz-Birkenau bekam, dem ultimativen Gefängnis. Hier nannte man sie „Judenfieber“. Wenn man heute nachschlägt, erfährt man, dass Typhus, Rickettsia typhi, bei Kälte und schlechten hygienischen Bedingungen besonders häufig auftritt. Er geht mit Fieber bis 41 °C und einem bellenden Husten einher. Den Husten habe ich heute noch. Ohne angemessene Behandlung beträgt die Sterblichkeitsrate bis zu 60 Prozent.

Damals wusste ich das alles nicht. Ich wusste auch nicht, dass die rohe Zwiebel, die man mir statt eines Medikaments gab, nichts nützte. Ich wusste lediglich, dass ich furchtbar krank war, aber mein Überlebenswille spornte mich an und ermöglichte es mir, aufzustehen und mit den anderen Patienten in Habachtstellung vor den Betten zu stehen, als Mengele kam. Natürlich hatte ich ihn oft an der Rampe gesehen, diesen höflichen, gut aussehenden SS-Offizier in der makellosen Uniform, der die Neuankömmlinge beobachtete, wenn sie aus den Waggons taumelten. Die Bewegung seines Fingers in den teuren grauen Handschuhen aus Rehleder. Rechts hieß Leben, links hieß Tod. So hatte ich auch meine Familie verloren. Sie waren Verlierer in der entsetzlichen Lotterie, die die Nazis ins Leben gerufen hatten.

An jenem Tag trug er seinen weißen Arztkittel über der Uniform und ein Stethoskop um den Hals. Um ihn herum standen Untergebene, SS-Männer mit Klemmbrettern und Listen. Eine Visite aus der Hölle. Als er an mein Bett kam, zitterte ich vor Angst. Alle hier wussten, wer nicht vor dem Bett stehen konnte, ging sofort ins Gas. Und dieser Mann hatte die letzten Monate damit zugebracht, Selektionen durchzuführen, mit einem Blick über Leben und Tod zu entscheiden. Was war ich? Ich war gute eins fünfundsechzig groß und wog noch weniger, als ich angesichts meiner Zeit im Ghetto und hier im Lager hätte wiegen sollen. Aber durch die Lebensmittel, die ich auf der Rampe ergattern konnte, war ich kräftiger als die meisten anderen. Trotzdem zitterte ich unkontrollierbar am ganzen Körper. Es wollte einfach nicht aufhören.

Er brauchte nur eine Sekunde, der Finger zeigte nach links. Ins Gas. Ins Krematorium. Das Ende. Dachte ich in diesen furchtbaren Sekunden, ich würde meine Familie wiedersehen? Dachte ich, jetzt hätte das Elend endlich ein Ende? Vielleicht. Aber mein Überlebenswille war mächtiger. Ich wollte den nächsten Morgen heraufziehen sehen, wollte noch ein Stück Brot essen. Ich brach in Tränen aus, warf mich ihm zu Füßen und platzte heraus, man sollte mich erschießen, nicht ins Gas schicken. Ich glaube, ich habe ihm sogar die blitzblank geputzten Stiefel geküsst.

Die Stiefel entfernten sich. Und bis heute weiß ich nicht, warum es geschah. Alle Berichte, die ich über Mengele gelesen habe, stimmen darin überein, dass er sich nie von einem Juden erweichen ließ. Als Arzt untersuchte er viele von ihnen, aber nach seinen eigenen Spielregeln und für seine eigenen Zwecke. Schon dafür, dass ich ihn angefasst hatte, hätte man mich erschießen können. Ich habe ihm an diesem Tag nicht ins Gesicht gesehen und weiß nicht, warum er es sich anders überlegt hat. Kannte er mich von meiner Arbeit an der Rampe? Gab er nach, weil er hörte, dass ich deutsch sprach? War es überhaupt Mengele oder einer seiner Untergebenen, der irgendwelche anderen, mir unbekannten Motive hatte? Ich weiß nur, dass die Visite weiterzog, die Stiefel auf dem Boden knallten und der Finger auf einen anderen armen Teufel zeigte. Der Todesengel war fort.

Die Wachen nahmen den anderen Mann mit, der erstarrt war. Nie mehr würde er aus seiner Erstarrung erwachen. Einer der Wachleute, ein selten freundliches Gesicht in all der Feindseligkeit, beugte sich zu mir herunter, half mir hoch und sagte: „Keine Sorge, Szlamek, du kannst hierbleiben.“ Weinend brach ich auf meinem Bett zusammen.

Während der drei oder vier Tage, die ich im Krankenblock verbrachte, hatte ich Zeit zum Nachdenken. Ich war dem Tod so nahe gekommen, wie es nur ging, und solche Erlebnisse führen dazu, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ich war siebzehn Jahre alt. Meine Familie hatte ich verloren. Ich war allein. Aber es war nicht immer so gewesen. Früher einmal – vor gerade einmal vier Jahren – hatte es eine zauberhafte Zeit gegeben, in der niemand an den Tod dachte oder davon sprach. Eine Zeit des Lebens. Meine Kindheit.

Der letzte Überlebende

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