Читать книгу Und morgen die Welt - Samira Mousa - Страница 6
Ankunft im Regen
ОглавлениеDas Klingeln meines Weckers bahnt sich seinen Weg in meinen Traum. Erst bemerke ich ihn kaum, ein kleines Störgeräusch, zu vernachlässigen. Nach wenigen Millisekunden aber pocht er so laut an mein Trommelfell, dass ich von einem Moment auf den anderen wach bin wie eine Katze auf nächtlicher Pirsch.
Ich haue auf den Alarmknopf des Weckers und taste neben mir in der Dunkelheit herum, auf der Suche nach einem Lichtschalter. Mats schläft neben mir, er hält meinen Fuß in seiner Hand. Wie in jeder Nacht, die wir zusammen verbringen. Ich schalte das Licht an und werfe einen Blick auf die Anzeige des Weckers. Kurz vor fünf Uhr morgens. Showtime. Heute geht es los.
Acht Monate Weltreise liegen vor mir wie ein großes Geschenk, auf dessen Öffnung ich 28 Jahre gewartet habe. Viel zu lang. Endlich ist es so weit, endlich darf ich die Bänder lösen und diese verheißungsvolle Zukunft auspacken, die, da bin ich mir sicher, dort draußen auf mich wartet. Ich muss hier weg, weit weg, weg aus Berlin, weg aus Deutschland, raus aus dem tristen Oktobergrau, das sich unbarmherzig und kalt gegen das Fenster drückt.
Wie ein Korsett habe ich in den letzten Jahren plötzlich die Enge gespürt, in die mein Leben, mein Umfeld, meine Verpflichtungen und meine Krankheit mich eingesperrt haben. Ich habe seit fünf Jahren Multiple Sklerose. Ich habe seit zehn Jahren Fernweh. Ich arbeite seit acht Jahren in der Berliner Technoszene, seit zehn Jahren hinter Bars – und seit zwei Jahren an mir. An meinem Inneren. Die Diagnose MS riss für mich ein Loch im Boden auf, in das ich unbarmherzig und hart hineingestoßen wurde. Freifall mit Anfang zwanzig. Lange versuchte ich, den Schmerz, die Unsicherheit, die betäubende Angst zu verdrängen. Ließe ich die Krankheit nicht an mich heran, würde ich, so dachte ich, auch nichts von ihr merken. Ich hatte falsch gedacht. Einige Jahre blieb ich unberührt von der Multiplen Sklerose, machte weiter wie zuvor, lebte für meinen Job und mit der Angst und dem ständigen Versteckspiel. Doch irgendwann kam der nächste Krankheitsschub, der mich aufweckte. Auf einmal spürte ich die harten, kalten Streben des Hamsterrads, in dem ich mich täglich abrackerte, ganz deutlich unter meinen Füßen. Plötzlich begriff ich, dass ich nicht für mich, sondern für eine Firma arbeitete und dass das einzige Ziel dieser Arbeit war, weiter die Karriereleiter hinaufzusteigen, um noch mehr und »wichtigere« Arbeit zu bekommen. Ich hatte mir freiwillig eine Möhre vor die Nase binden lassen und war wie versessen hinter ihr hergerannt. Jeden Tag.
Bis heute. Bis jetzt.
Jetzt ist aufstehen angesagt, denn sonst hebt mein Flieger nach Bangkok ohne mich ab. Ich ziehe meinen Fuß vorsichtig aus dem Griff meines Freundes, schlüpfe aus dem Bett und schleiche in die Küche. Draußen herrscht absolute Stille, oder eben so viel Stille, wie man sie in Berlin-Friedrichshain bekommt. Irgendwer ist außer mir noch wach im Haus, ein Wasserkessel pfeift, der Ton wird hundertfach von den Wänden des Innenhofes zurückgeworfen. Wer zur Hölle benutzt heutzutage noch Wasserkessel, frage ich mich, während ich auf den Knopf von Mats’ übergroßer vollautomatischer Kaffeemaschine drücke, mit der ich mir seit Jahren einen kleinen Kampf liefere. Heute zeigt sie sich kooperativ und tut, was sie soll: Kaffee machen. Starken Kaffee für einen langen Tag. Schwarz wie die Nacht vor dem Fenster, die noch nicht weichen will. Mats hat nie Milch zu Hause. In Asien gibt es eh kaum Milchprodukte, schießt es mir durch den Kopf, während ich auf das heiße Getränk puste und noch mal im Kopf mein Gepäck durchgehe. Es besteht zu zwei Dritteln aus Medikamenten. Während meine gesamte Kleidung für den Trip in einen Packwürfel passt, der in etwa die Größe eines Tetra Paks aufweist, muss ich mit den bunten Pillen, die mich beim Kampf gegen die MS unterstützen sollen, echt Tetris spielen. Hier noch eine Blisterpackung reingestopft, da auch noch eine. Und noch eine in die Mappe mit den wichtigen Dokumenten gesteckt. Nur für den Fall.
»Weltreise mit MS? Samira, du bist wahnsinnig. Was da alles passieren kann!« Während ich meinen Kaffee austrinke und mich ein letztes Mal an meinem kleinen Handgepäcksrucksack zu schaffen mache, schießen mir die Kommentare meiner Freunde durch den Kopf. Wahnsinnig, bin ich das? Ängstlich, das bin ich gerade. Doch der Schmerz, den mir das Fernweh bereitet, ist größer als die Angst. Größer als die MS. Ob das reichen wird? Wird ein Schmerz, ein unbestimmter Drang, genug sein? Ich habe alles aufgegeben. Meinen Job gekündigt. Ich habe meine Wohnung untervermietet, meinen Kleiderschrank ausgeräumt und seinen Inhalt im Keller verstaut. Was ich jetzt noch habe, passt in meinen 36-Liter-Rucksack. Außerdem habe ich nun vor allem eines: Zeit. Und eine für mich gerade ausreichende Menge an Plänen. Und das war’s dann auch schon.
»Musst du nicht langsam los?« Mats ist aufgestanden und steht mit leicht zusammengekniffenen Augen vor mir im Flur. Wie schafft er es nur, schon um diese Uhrzeit so glatt und schön auszusehen, als käme er gerade aus der Sauna statt aus dem Bett? Seine Augen in der Farbe von dunklem Mahagoni werden von kräftigen Augenbrauen betont. Er hat hohe Wangenknochen und einen unregelmäßigen Dreitagebart. Über seiner sinnlichen Oberlippe prangt seit Neuestem ein kleiner Schnurrbart, der ihn aussehen lässt wie einen Gentleman direkt von der Titanic. Ich selbst habe zwar vor ein paar Minuten versucht, meine Haare etwas zu bändigen, doch in der von der Dusche feuchten Luft im Badezimmer hat es keine Minute gedauert, bis meine Locken sich wieder ringelten, als hätte ich mit nassen Fingern in eine Steckdose gefasst.
»Ja, ich weiß«, sage ich. »Ich habe Angst.«
Langsam kommt Mats näher und nimmt mich in den Arm. Wenigstens sein schwerer Atem verrät, dass er gerade noch geschlafen hat. »Ich werde dich vermissen«, sagt er.
Ich werde dich auch vermissen, denke ich. »Ich muss los«, sage ich. Wir lösen uns voneinander und schauen uns eine Weile an, wie bei einer traurigen Version von »Wer zuerst blinzelt«. Ich blinzle zuerst.
»Na komm, lass uns noch einen Kaffee zusammen trinken«, sagt Mats und geht in die Küche, aus der sofort das mechanische Rattern seines Kaffeemaschinenmonsters erklingt. All diese kleinen Dinge, die unseren Alltag sonst wie selbstverständlich füllen, erscheinen mir heute … rührend. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht beim Anblick meines Freundes in Socken und Unterwäsche in Tränen auszubrechen. Das wäre nicht fair – uns beiden gegenüber. Anderthalb Monate werden vergehen, bis wir uns wiedersehen werden. Anderthalb Monate, die wir beide als intensive Wachstumsphase für uns selbst nutzen wollen, um danach noch mehr am anderen, an unserer Beziehung zu haben. Sie ist gut, unsere Beziehung. Solide, aufregend, spontan. Liebevoll. Ich liebe diesen Mann.
»Ich liebe dich«, sagt er wie aufs Stichwort und setzt sich mit seinem Kaffee mir gegenüber an den Tisch. »Keine Eifersucht«, fügt er hinzu.
»Keine Eifersucht«, wiederhole ich und berühre unterm Tisch seine Sockenfüße mit meinen. Anderthalb Monate.
Als ich am S-Bahnhof in den Flughafenbus umsteige, geht hinter den rauchenden Schornsteinen des Westhafens gerade langsam die Sonne auf. Mir ist kühl, trotz der leichten Outdoor-Jacke, die ich trage. Sie ist das Abschiedsgeschenk, das ich bekam, als ich die Künstleragentur verließ, in der ich zuvor gearbeitet hatte. Ich weiß, dass man mich dort nicht gern gehen ließ. Ich musste meine Euphorie fast verbergen, das Gefühl der Erleichterung, als ich an meinem letzten Tag im Büro den Laptop zuklappte. Natürlich habe ich meinen Job geliebt. Die Agentur gehört zu einem prestigeträchtigen, alteingesessenen Technoclub in Berlin. Elektronische Musik hat seit meiner späten Jugend mein Ich, meine Interessen und mein soziales Umfeld geprägt. Nicht selten begannen meine Wochenenden am Donnerstag und endeten Montagabend, nur unterbrochen von ein paar Stunden unruhigem Schlaf und Laugenbrezeln. Das war meine Welt, mein Alles – das war ich. Ich war ein Teil der Berliner Szene, die ich vergötterte, als bedeute ich ihr genauso viel wie sie mir. Dass das nicht der Fall war und dass die Protagonistinnen in ihr so austauschbar sind wie die Speichen eines Rades, war eine der schmerzhaftesten Erkenntnisse überhaupt, die mich erst traf, als ich anfing, professionell in diesem Feld zu arbeiten. Plötzlich war Techno, waren Partys nicht mehr Exzess, Spaß und stundenlange sinnlose Gespräche. Mit einem Mal ging es um Deals, Macht, Break-evens und Sales. Ich lernte – und ich war gut darin. Ich gab, was ich konnte.
Dann kam die Krankheit, und von einem Tag auf den anderen hatte ich, so glaubte ich, ein schreckliches Geheimnis zu hüten. Auch darin war ich gut. Denn trotz meiner Krankheit gab ich weiterhin alles. Ich flog geschäftlich nach Tel Aviv, nach Panama und Kolumbien, in die Türkei, nach Beirut. Barcelona, London, Amsterdam. Im Koffer CDs unseres Labels, Kopfschmerztabletten für den Morgen danach und, versteckt ganz weit unten, meine MS-Basistherapie. Plötzlich übernachtete ich in Viersternehotels und flog nur noch Star Alliance. Ich aß in teuren Restaurants und lernte, wie man sich die Stoffserviette richtig über den Schoß legt, dass man das Besteck von außen nach innen benutzt und wie man Scampi mit dem Messer aus der Schale pellt. Ich lernte, die höchstmögliche Gage auf Deutsch, Englisch und Spanisch auszuhandeln. Ich verstand, was man sagen und was man nicht sagen durfte. Meistens landete ich dann sonntagabends, erschöpft von der Arbeit auf den internationalen Events, zurück im vertrauten Grau Berlins, schleifte meinen Hintern ins Bett und kam vor Dienstag nicht mehr heraus. Je mehr sich die Seiten meines Passes mit Stempeln aus fernen Ländern füllten, die zu bereisen immer mein Traum gewesen war, desto leerer fühlte ich mich. Denn ich sah diese Länder nicht. Ich erlebte sie nicht. Ich setzte einen kleinen Zeh auf ihren Boden, bis es am nächsten Tag weiterging: in die nächste Stadt, auf die nächste Party. Ja, wie war Panama City, wie war Bogotá denn? Ich hätte es nicht sagen können. Ich wusste es nicht. Es fühlte sich an, als tanzte mein Traum vom Reisen, vom Weltenbummeln, von der Karriere vor mir her. Das war mir nicht genug. Ich musste aufhören, Länder zu konsumieren, und anfangen, sie zu genießen.
»Wir bitten alle Passagiere des Flugs EW765 nach Bangkok, sich zum Boarding zu Gate C37 zu begeben!«, tönt es aus den Lautsprechern. Ich bin mittlerweile am Düsseldorfer Flughafen. Um mich herum bricht diese ulkige Abflugshektik aus: Dickbäuchige Männer, die jetzt schon so braun gebrannt sind, als lebten sie in Thailand und nicht in Deutschland, schieben ihre Wampen in Richtung Gate. Ihre nervösen Ehefrauen haben säuerliche Mienen. Kinder quengeln in den Armen ihrer Mütter. Bitte lass sie nicht neben mir sitzen, denke ich unwillkürlich. Ich bin – sagen wir es mal so – kein großer Fan von Kindern. Und noch weniger von lauten Kindern.
Wir steigen ein, und meine Sorge bleibt unbegründet: Die Babys halten Sicherheitsabstand. Dafür sitzt neben mir ein junger Mann mit blonden Haaren. Er hat sie zu einem Dutt hochgebunden und trägt einen rötlich schimmernden Dreitagebart. Das ist sicherlich so ein Typ, der alles tausendmal besser weiß. So ’n blöder deutscher Besserwisser-Backpacker. Hoffentlich lässt er mich in Ruhe, schießt es mir durch den Kopf. Wenn ich auf meinen Geschäftsreisen eines gelernt habe, dann das: Nichts ist schlimmer als erzwungene Kommunikation auf einem Langstreckenflug. Small Talk ist nämlich nur dann entspannt und easy, wenn er schnell wieder vorbei ist und man nicht über mehrere Stunden angegurtet nebeneinandersitzt.
»Hey, I’m Martin«, sagt mein Sitznachbar prompt, bevor ich mir meine Kopfhörer aufsetzen kann. Er streckt mir die Hand hin, die wie sein Kinn und seine Unterarme von rotem Haar überzogen ist.
»I’m Samira«, antworte ich und bin erstaunt, dass es sich bei ihm doch nicht um einen Deutschen handelt.
»Ich komme aus den USA«, sagt er lachend, als er mir meine Verwunderung ansieht. Mist. Bei den meisten Amis, die ich kenne, ist ein unbändiges Mitteilungsbedürfnis vorprogrammiert … Ich entschuldige mich und sage ihm, ich sei müde. Schnell setze ich meine Kopfhörer auf. Sorry, Man.
Ich muss tatsächlich eingenickt sein. Hastig fummle ich mir die Kopfhörer von den Ohren. »Was ist los?«, frage ich Martin, der mich mit einer sanften Hand auf meiner Schulter geweckt hat.
»Nichts«, grinst er. »Aber es gibt was zu essen! Ich dachte mir, du hast bestimmt Hunger.«
Oh, Martin. Du guter, guter Mensch. Ich habe dich falsch eingeschätzt. Dankend drehe ich mich zum Gang und sehe den verheißungsvollen Wagen mit den Tabletts näher kommen. Ich habe tatsächlich so großen Hunger, dass es mir egal ist, dass die Nudeln in einer undefinierbaren Soße schwimmen und nach Pappe mit Ketchup schmecken.
»Hab ich es mir doch gedacht«, sagt mein rotbärtiger Sitznachbar, während auch er es sich, so gut es eben geht, schmecken lässt. »Wohin reist du weiter?«, fragt er mich.
»Ich fliege gleich weiter nach Chiang Mai«, lautet meine Antwort. »Dort habe ich vor, an meinem Buch zu arbeiten«, erzähle ich ihm. Außerdem: Yoga, gutes Essen, Meditation, Ausflüge. Fahrrad in den alten Straßen fahren, Anschluss finden, vom Laptop aus arbeiten. Einfach leben.
»Echt? Ich liebe Chiang Mai! Ich hab selbst mal vier Jahre dort gewohnt«, fällt er mir begeistert ins Wort. »Aber Fahrrad fahren? Nee. Lass das mal lieber, das ist da echt gefährlich.«
Na, endlich packt er den erwarteten Erklärbär aus, denke ich mir. Doch während sich zwischen uns ein tatsächlich interessantes Gespräch entwickelt, entspanne ich mich langsam. Er scheint ganz einfach das zu sein, was ich ihm aus einem unerfindlichen Grund nicht zugetraut habe: ein guter Kerl. Und das Beste: Er ist in zwei Wochen auch in Chiang Mai!
»Du musst unbedingt im Healing House vorbeikommen«, sagt er. Dort, erklärt er mir, habe er damals gewohnt. Ein Haus am Rande der Altstadt, in dem, so sagt er, Menschen ihr Seelenheil fänden.
»Klingt wie eine Sekte …«, sage ich.
Er lacht, warm und weich und gar nicht aufgesetzt. »Nein, keine Sekte. Es ist einfach ein wunderbarer Ort. Menschen öffnen sich dort, sie teilen ihre Ängste und Träume und ihre dunklen Gedanken. Vor allen anderen. Jeden Freitag findet dort ein Open Mic statt. Was da passiert – das ist Magie.«
Ich habe auch Lust auf Magie, und wir tauschen Nummern aus. Als das Flugzeug mit einem leisen Rumpeln auf der regennassen Landebahn aufsetzt, bin ich fast traurig, dass ich nicht früher den Kontakt zu Martin gesucht habe. Ich bin froh, dass er mich nicht ohne ein Wort hat davonkommen lassen. Wie gut, dass er durch meinen hart antrainierten Schutzwall aus Arroganz und Unsicherheit gestochen hat, um mal zu schauen, was für eine Samira wirklich dahintersitzt. Er hat mich geknackt wie eine Nuss, die sich in ihrer harten Schale schon lange nicht mehr wohlfühlt. Thank you, Martin.
An der unübersichtlichen Passkontrolle in Bangkok verlieren wir uns recht schnell aus den Augen. Doch ich weiß: Wir werden uns wiedersehen.
Der Weiterflug nach Chiang Mai verläuft ohne Probleme. Unter mir erstrecken sich zwischen grauen Wolkenfetzen die dunkelgrün bewaldeten Berge. Sie werden von der Sonne in goldenes Licht getaucht, und ich fühle mich so aufgeladen vor Glück, als würden diese Strahlen direkt in mich hinein und durch mich hindurch scheinen. Immer noch kann ich es kaum fassen: Ich habe mich wirklich getraut. Ich habe all meinen Mut, meine Hoffnung und das Quäntchen Naivität, das mir die MS noch nicht genommen hat, in einen Topf geschmissen und bin losgeflogen. Habe ich Angst? Natürlich. Aber es ist eine gute Art von Angst. Die Art von Angst, die einen befällt, bevor man vom Zehn-Meter-Turm springt. Denn man weiß, wie stolz man auf sich sein wird, nachdem man sich nur getraut hat. Meine Diagnose vor fünf Jahren war mein Weckruf, mein Sprungturm. Und nun breitet sich mein Abenteuer vor mir aus wie ein unendlich tiefer See. An seinen mir noch unbekannten Ufern werden mein Geist und meine Seele wachsen können. Ich werde dort wachsen können. Das habe ich mir fest vorgenommen.
Es ist bereits später Nachmittag, als wir über der größten Stadt im Norden Thailands durch die sich immer mehr zusammenziehende graue Wolkendecke stoßen und uns langsam der Landebahn nähern. Wir setzen mit einem sanften Ruck auf, und kurz darauf stoppt das Flugzeug. Alles um mich herum beginnt zu wuseln, zu packen und zu räumen. Ich selbst habe ja nur mein kleines Handgepäck und lehne mich entspannt zurück. Aufkommender Regen schlägt gegen das Fenster neben meinem Sitz. Der ganze Flughafen scheint im Nebel zu versinken, und ich gebe mir Mühe, mich davon nicht runterziehen zu lassen.
Endlich, nachdem auch ich das Flugzeug verlassen und die Passkontrolle hinter mich gebracht habe, stehe ich draußen vor dem kleinen Flughafengebäude. In der tropischen Hitze, die hier trotz des grauen Wetters herrscht, fühlt es sich an, als besprenkelte man mich mit Badewasser. Während sanfter Nieselregen auf mich niederstiebt, suche ich mir ein Taxi und springe hinein. Die Adresse meiner Unterkunft scheint nicht weithin bekannt zu sein, und so quälen wir uns im Schneckentempo und bei mittlerweile strömendem Regen durch die trostlosen Straßen. Über uns ziehen sich Stromkabel dahin, gespannt zwischen Strommasten, die unter der Last der an ihnen befestigten Kabelmengen einzuknicken drohen wie Streichhölzer. Ich habe mir online eine Unterkunft gemietet, ein Einzelzimmer in einem Gasthaus. Dort, so hoffe ich, werde ich die perfekte Mischung aus Gesellschaft und Privatsphäre finden.
»Du willst hin dort? Sicher?«, fragt mich der Taxifahrer mit einem Stirnrunzeln.
Ich deute das als schlechtes Zeichen. »Ja, genau, zu der Adresse. Wieso? Ist das so unüblich, dorthin zu wollen?«
Der Taxifahrer fängt an, leise zu lachen. »Nein, ist okay, ist okay. Du sehen, es ist okay«, brabbelt er vor sich hin. Jetzt bin ich wirklich verunsichert.
Der Regen wird immer stärker, wir fahren quasi durch einen Wasserfall hindurch. Die Scheibenwischer dienen mittlerweile nur noch dem guten Ton, haben aber sonst keinerlei Wirkung. Zu viel Wasser. Ich fühle mich wie in einem U-Boot, der Regen ist so laut, dass er die Welt, die sich außerhalb des Autos abspielt, komplett übertönt und meinen Kopf ganz ausfüllt. Wir surfen quasi die Straße entlang, bevor das Taxi endlich vor einer kleinen Einfahrt hält. Nichts deutet auf ein Gasthaus hin. »Aussteigen!«, sagt der Taxifahrer barsch. Ich zahle, ziehe schnell den Regenschutz über meinen Rucksack und gehorche. Plötzlich erkenne ich eine kleine Gestalt, die durch den Regen auf mich zukommt. Es ist eine alte Dame, deren Gesicht einer Rosine gleicht: Tiefe Falten führen von Nase, Augen und Mund zum Kinn. Doch sie lächelt, und in der Hand hält sie einen Regenschirm. Trotz meines Protests schiebt sie mich darunter und läuft selbst durch den Regen. Ein kurzer Fußweg führt uns um das Haus herum auf den Hinterhof, wo ein weiteres niedriges Gebäude steht. Es ist aus dunklem Holz gebaut, das nass vom Regen glänzt wie ein polierter Flügel.
Die Frau redet in schnellem, leisem Thai auf mich ein, während ihre kleinen Augen mich aus ihren tiefen Höhlen anfunkeln wie kleine schwarze Käfer. Ihre Haare liegen klatschnass an ihrem Kopf an, doch sie scheint sich daran nicht zu stören. Dennoch deutet sie meine flehenden Blicke in Richtung Türschloss richtig und lässt mich endlich hinein. Schnell schließt sie die Tür hinter uns, und es umfangen uns zugleich Dunkelheit und Stille. Diese ist im Gegensatz zum vorher herrschenden Straßenlärm so intensiv, dass ich unbewusst flüstere, als ich nach meinem Zimmer frage. Als Antwort schaltet die Dame das Licht an und führt mich unter emsigem Getrappel ins Obergeschoss. Das ganze Haus wirkt eingestaubt und verlassen. Wie lange hier wohl schon keine Gäste mehr übernachtet haben? Meinen Unmut lasse ich mir nicht anmerken, als die Frau mir mein Zimmer zeigt und von einem Ohr zum anderen grinst. Wieder erhalte ich alle nötigen Infos in mir unverständlichem Thai. Ich nicke höflich und trete ein. »WiFi?«, frage ich noch. »Oooh! No WiFi! Broken!«, lächelt die Frau. Meine böse Vorahnung bestätigt sich also. Denn wenn ich eines wirklich dringend zum Arbeiten brauche, dann ist es WLAN. Seit drei Jahren arbeite ich nun daran, mir ein Geschäftsmodell aufzubauen, mit dem ich überall auf der Welt arbeiten kann. Schreiben in Thailand, Bloggen in Kolumbien, Beratungen von der Strandhütte in Mexiko aus: Das alles ist kein Problem für mich. Wenn es denn Internet gibt. Dieses schreiben sich die meisten Hotels zwar auf die Fahne, doch oft findet man es schlicht und einfach nicht vor – so wie hier.
Ich schnaube, nehme den Schlüssel entgegen und versuche mir noch ein halbwegs freundliches Dankeschön abzuringen. Die Dame trippelt von dannen, und ich höre, wie unten die Tür ins Schloss fällt. Prompt umgibt mich wieder diese gedämpfte Stille, unterbrochen nur vom Geräusch des Regens, der unermüdlich gegen die dünnen, gewellten Fensterscheiben prasselt, und dem leisen »Pock pock pock« der Wassertropfen, die von meinem Rucksack auf den Holzboden fallen. Es ist wirklich herrliches Holz: Der Boden, das Dach und die Balken, die es halten, sind aus alten, dunklen Bohlen gefertigt, die wie die nächtliche Oberfläche des Meeres glänzen. Ich fahre mit meinen Händen darüber, möchte es fühlen, möchte ankommen. Ich spüre die alten Risse, die Unebenheiten, den Staub. Diese Art von Haus steht hier oft schon über hundert Jahre. Mit einem Mal ist es mir richtig unangenehm, die typische Deutsche zu sein, die sich wegen des Schmutzes und des fehlenden Internets beschwert. Ich widerstehe dem Impuls, der kleinen Dame nachzulaufen, um mich bei ihr zu entschuldigen, und schaue mich in meinem Zimmer um.
Bastmatten liegen auf dem Boden, an der Wand steht ein schmales Einzelbett. Daneben ein kleiner Hocker aus demselben Holz, mit Schnörkeln verziert. Sonst nichts. Ich stelle meinen Rucksack in eine Ecke, schäle mich endlich aus den viel zu warmen Kleidungsstücken, die ich vor vielen Stunden in Berlin angezogen habe, und lege mich probeweise aufs Bett. Es ist herrlich hart, genau so, wie ich es mag. Die Laken riechen gut, irgendwie warm und trocken. Ihr Geruch vermischt sich mit dem deutlichen Heugeruch, den die Bastmatten auf dem Boden verströmen, zu einer beruhigenden Duftmischung. Sie lässt mich entfernt an die Tage denken, an denen meine Mutter mit meinem Bruder und mir ins Berliner Umland gefahren ist, um dort auf dem Heuboden einer Scheune, die zu einem Kinderbauernhof gehörte, zu spielen. Danach waren wir immer völlig erschöpft, aber auch glücklich. Wir aßen Stockbrot am Feuer, während unsere Wangen glühten und die Nacht sich um das knisternde Lodern der Flammen schloss. Das Entfernen der pikenden Strohhalme, die überall in unserer Kleidung steckten, würde meine Mutter wieder einige Stunden Arbeit kosten. Sie hatte es nicht leicht, so ganz allein mit zwei Kindern. Nie hatten wir Geld, nie hatten wir Überfluss. Aber wir hatten ja uns.
Ich starre an die Decke, die ebenfalls mit Bastmatten bedeckt ist, und lasse mich treiben. Eingehüllt in den Geruch meiner Kindheit, in den Geruch des thailändischen Waschmittels und mit dem stetigen Klopfen des Regens an die dünnen Scheiben im Ohr döse ich ein.