Читать книгу Und morgen die Welt - Samira Mousa - Страница 9
Kein Kuss für Sun
ОглавлениеEine knappe Woche später meldet sich Sun am Abend per WhatsApp: »Du kommst zum Markt jetzt, ja? Ich kommen abholen deine Freundin und dich! Halbe Stunde, ja?« Anja hat ein Zimmer in der Nähe gefunden, schien es bei mir in den letzten Tagen aber trotzdem deutlich bequemer zu finden, und so steht sie gerade wieder bei mir im Badezimmer und schminkt sich.
»Ich verhungere!«, ruft sie mir aus dem Bad zu. »Kannst du es glauben? Ich habe seit Jahren nicht mehr gekocht, weil das ja immer Henrik gemacht hat. Gut, dass das Essen hier so günstig ist. Und überhaupt, das ist so ultrageil hier! Was ich in den letzten Tagen alles erlebt habe … Ich kann gar nicht glauben, dass du die ganze Zeit vorm Laptop hockst. Es ist doch so schön da draußen!« Ich höre nur mit einem Ohr zu. Anja scheint das Prinzip, nach dem ich hier zu leben versuche, nicht so richtig zu verstehen.
»Ich arbeite, Anja«, sage ich leise eher zu mir als zu ihr.
»Was?«, ruft sie mir zu. »Wie ist er eigentlich so drauf, dein Vermieter? Ist er süß?« Keine Ahnung. Ist Sun süß? Darüber habe ich mir, um ehrlich zu sein, noch gar keine Gedanken gemacht.
»Heeey! Wir gehen, kommt!« Ein paar Minuten später steht Sun auch schon vor der Tür und deutet auf seinen Roller im Hof. Ich erkläre ihm, dass wir noch auf Anja warten, als diese auch schon freudestrahlend und nach Kokosöl duftend im Türrahmen auftaucht. Sie hat ihr Haar zu einem Kranz geflochten, der ihr schönes, markantes Gesicht umrahmt wie eine Efeuranke. Ihr Pony fällt ihr ins Gesicht, er ist schweißnass. Auch ihre Arme und ihr Dekolleté glänzen vor Schweiß – ebenso wie meine. Wir treten aus dem Haus, und ein leichter, angenehmer Wind trocknet unsere Haut.
Da wir beide keinen Roller haben, macht Sun kurzen Prozess: »Wir fahren zu dritt, keine Problem.« Ich bekomme einen Helm, Anja auch – Sun fährt ohne. Und so schlängeln wir uns, ich als Kleinste zwischen die warmen Körper vor und hinter mir geklemmt, durch das nächtliche Chiang Mai. Wie bei einem Tetris-Spiel arbeiten wir uns durch den Verkehr. Hinter mir ruft Anja die ganze Zeit begeistert unverständliche Worte, doch durch den Helm und den Fahrtwind fühle ich mich wie in einer kleinen Blase, die für einen kurzen Moment nur mir gehört. Nach einer guten Viertelstunde Fahrt, die uns einmal in die Altstadt und am Northgate wieder hinausführt, krabbeln erst Anja und dann ich mühsam von dem für uns viel zu hohen Roller herunter. Vor uns erstreckt sich ein Nachtmarkt, der so ganz anders aussieht als der in der Nähe meines Hauses: Hier liegen keine Speisekarten auf den Plastiktischen, die unter kleinen Schirmchen gruppiert zusammenstehen. Es gibt auch keine Bilder von dem angebotenen Essen an den Ständen, keine Kokosnusshändlerinnen, keine Buden mit der Aufschrift »Healthy Smoothies«. Die Vielzahl der Gerüche zu beschreiben, die auf meine Sinne einstürmen, ist genauso unmöglich wie der Versuch, eine Sinfonie von Mozart in zwei Worte zu fassen.
»Wir essen jetzt«, sagt Sun bestimmt und lotst uns zu einer Gruppe wackeliger Plastikhocker. »Was trinken?«
»Bier«, sagt Anja.
»Wasser«, sage ich. Ich habe keine Lust, morgen schon wieder nur mit einer funktionierenden Körperhälfte aufzuwachen. Und ich bin auch ein bisschen sauer, dass Anja sich in dieser Woche so gar nicht dafür interessiert hat, wie es mir eigentlich so geht. Kein einziges Mal hat sie mich gefragt – immer ging es nur um sie. Und um Henrik und diese Frau, mit der er sie betrogen hat und die ich noch nicht mal kenne. Ich schlucke meine tristen Gedanken herunter und versuche, mich auf das Spektakel um mich herum zu konzentrieren. Die ältere Köchin, vor deren Wagen wir Platz genommen haben, bietet allen Anlass zur Ablenkung: Sie kommt mir vor wie eine Mischung aus Cowgirl, Cher und Tänzerin aus dem Moulin Rouge. Überall an ihr funkelt und blitzt es: Riesige Kreolen, groß wie Untertassen, baumeln von ihren Ohren. Ihre Augen und Augenbrauen sind stark geschminkt, den Rest des Gesichts hat sie mit weißem Make-up aufgehellt. Die Lippen sind blutrot angemalt, und auf ihrem schwarzen Haar trägt sie einen weißen Cowboyhut aus Lack mit Nieten. Ihre Arme scheinen unter dem Gewicht der unzähligen Ringe, Armreifen und Ketten noch muskulöser und breiter geworden zu sein, als sie es eh schon waren. Ihr üppiger Körper steckt in einem fleckigen dunkelroten Samtkorsett, und um den Hals trägt sie ein eng anliegendes Band aus schwarzer Spitze. Sie schaut uns streng an, während Sun versucht, uns zu erklären, was es hier zu essen gibt.
»Bring uns einfach das Beste!«, sagt Anja und schlägt mit der Hand so fest auf den Tisch, dass Sun und ich zusammenzucken. Ihr Bier ist nach einem Zug schon halb leer. Na ja. Sie hat halt Liebeskummer.
»Okay – schmecken es wird, ich weiß!«
Einige Minuten später ist der Tisch reich gedeckt: Es dampft aus den Schüsseln, auf dem Gemüse glänzt eine dicke Soße. Dazu wird herrlich duftender Reis gereicht. Es ist ein Festmahl, und während wir beherzt zulangen und immer wieder unsere großen Löffel in diese und jene kleine Plastikschale tauchen, entspinnt sich ein angeregtes Gespräch zwischen uns. Sun ist Tätowierer und hat hier in Chiang Mai ein Studio. Davor hat er lange auf Koh Phangan gearbeitet. Die Insel liegt im Süden des Landes und ist bekannt für ihre ausschweifenden Full-Moon-Partys. In den Achtzigern mögen diese noch hippiesk, wild und frei gewesen sein. Heute sind sie ein abstoßender Mix aus Vollsuff, psychedelischen Pilzen, schlechten Ecstasy-Pillen und Fluten an Urin, die die Männer während dieser Nächte ins Meer pinkeln. Dennoch leben die meisten Bewohner der Insel vom Tourismus, und ohne die Full-Moon-Partys würden die Einkünfte ausbleiben.
»Hast du da im Tourismus gearbeitet?«, frage ich Sun. Er zuckt zusammen, was mich wundert.
»Ja, Tourismus«, sagt er kurz angebunden und wechselt das Thema. »Kommt, wir wollen jetzt in Jazzbar gehen – gleich da drüben!« Wir haben unser Festmahl beendet, und Sun will mit uns weiterziehen. Als er die Rechnung bestellt, zögern Anja und ich und tauschen unsichere Blicke aus: Möchte er, dass wir ihn einladen? Gehört sich das so? Was kostet das alles überhaupt? Wir haben gar nicht nachgefragt, so berauscht waren wir von den herrlichen Genüssen. »Habt ihr zweihundert Baht?«, fragt Sun, als er mit einem Zettel in der Hand zurückkehrt, auf dem in für mich unverständlichem Thai die Rechnung notiert ist.
»Was kostet es denn?«
»Fünfhundert. Ich bezahlen den Rest«, sagt er. Auch auf unseren Protest hin dürfen wir nicht mehr bezahlen, und so kostete das Festmahl uns umgerechnet gerade mal zwei Euro fünfzig pro Person.
In der Jazzkneipe gegenüber finden wir gerade noch Platz. Sie ist vollgestopft mit jungen Touristinnen aus den USA, die sich durch ihren starken Akzent verraten. Sie tragen tiefe Ausschnitte und kurze Röcke und werden gierig von so ziemlich jedem Mann in dieser Bar beäugt. Ihr vom Alkohol angestacheltes Gekreische mischt sich mit den Klängen der Band, die am hinteren Ende des Raumes aufgebaut ist. Hippe junge Thais mit runden Brillen und Beinen in Skinny-Jeans jammen dort und machen einen grandiosen Job. Wir stehen auf, tanzen, lassen uns von der warmen, durch die Ventilatoren aufgewirbelten Luft umarmen und umarmen uns schließlich auch wirklich. Meine Anja und ich. Auch wenn sie mich nicht gefragt hat, wie es mir eigentlich geht, obwohl mein linkes Bein sich immer noch schwer und etwas verkrampft anfühlt. Meine Freundin strahlt, sie flirtet mit Sun, sie tanzt. Gestern hat sie mich gefragt, ob sie je wieder lachen würde. Ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich mit meiner Antwort recht behalten habe.
Später sitzt Anja mir gegenüber, sie sieht entspannt aus.
»Ach, von mir aus könnte ich echt für immer hierbleiben … Ich will gar nicht los«, sagt sie. Es ist ihr letzter Abend in Chiang Mai. »Ernsthaft, Samira. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll … Das war meine Rettung hier, das war genau, was ich brauchte. Ich habe jetzt keine Angst mehr … Ich werde es schaffen.« Wir plaudern noch ein bisschen über ihre Beziehung, ihre Pläne, wieder über Henrik. Über ihr Befinden, ihre Gedanken. Und irgendwann, als ich bereits im Begriff bin, die Rechnung zu bestellen, fragt Anja mich: »Sag mal – wie geht es dir denn überhaupt?« Ich zucke unwillkürlich zusammen. Ich will ins Bett, ich will nicht in die letzten zehn Minuten unseres Abends kurz hineinquetschen, wie es mir geht.
»Alles okay, mir geht es gut so weit«, sage ich. In meinem Kopf aber überschlagen sich die Gedanken, die Ängste und die Rastlosigkeit. All diese Gefühle, über die ich hier mit noch niemandem sprechen konnte, weil die einzige Person, mit der ich hätte reden können, die ganze Zeit über sich sprach. Es regt sich ein Unwohlsein in mir, und ich spüre, wie eine leise Wut in meinem Bauch aufsteigt. »Lass uns gehen«, sage ich barscher als beabsichtigt.
Schweigend laufen wir durch das nächtliche Chiang Mai zurück, Sun ist schon vorgefahren. Um uns herum fressen Katzen Essensreste aus Mülltonnen, der Geruch von Abwasser liegt in der Luft, steigt aus den Ritzen zwischen den unebenen Gehwegplatten empor und vermischt sich mit dem lauten Zirpen der Grillen.
»Es tut mir leid«, sagt Anja, als wir vor ihrem guest house stehen bleiben.
»Ja«, sage ich und starre auf meine schmutzigen Füße. »Ich weiß.«
Sie nimmt mich in den Arm.
»Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich hoffe, du findest, was du suchst«, flüstert sie mir ins Ohr.
»Ja, ich auch«, sage ich und löse mich schnell aus der Umarmung. Zu viel. Es ist zu viel, zu nah, zu traurig. Ich bin zu traurig und auch zu wütend. Ich möchte mich nicht so verhalten, wie ich mich gerade verhalte, aber bevor ich weiß, was los ist, habe ich bereits einige Hundert Meter zwischen uns gebracht.
»Ich hab dich lieb!«, ruft Anja mir hinterher.
Ich dich auch, denke ich, und mein Herz fühlt sich so an, als hätte es jemand in ein kühles Kettenhemd gesteckt.
Einerseits habe ich die Woche mit Anja sehr genossen. Sie hat sich von Tag zu Tag mehr von einem Schwan mit gebrochenem Flügel in eine unternehmungslustige und strahlende junge Frau zurückverwandelt. Sie wurde von Tag zu Tag mehr sie selbst. Ich konnte sie dabei beobachten, ihre Schritte mit ihr gehen. Doch meine Schritte hatten taube Sohlen. Und das konnte ich ihr nicht sagen, und sie fragte auch nicht danach. Tief in mir sehnte ich mich nach Ruhe, nach Zeit für meine Schreibarbeit, nach Einsamkeit und Stille. Anja sehnte sich nach allem, was Spaß machte, laut und hochprozentig war und ganz bestimmt nicht vor vier Uhr morgens endete. Sie ist wieder ganz die Alte geworden – doch ich bin nicht mehr die Alte. Seit Jahren nicht mehr. Ich möchte mir nicht anmaßen, über das Leid anderer zu urteilen. Man kann ein gebrochenes Herz nicht mit einem gekappten Nervenstrang vergleichen. Doch das eine heilt und vergeht wieder, während das andere bleibt – mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt. Wie eine dunkle Erinnerung an einen besonders kalten Winter, an lange dunkle Tage, so schwebt auch meine Erkrankung oft über mir wie ein unsichtbarer Schatten. Noch gelingt es mir nicht, diesen Schatten mal länger als ein oder zwei Wochen am Stück abzuschütteln. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht an meine Krankheit denke. Kaum eine Woche vergeht, in der ich nicht die Symptome spüre, selbst wenn sie nur leicht ausgeprägt sind. Dennoch, ich leide unter ihnen, wenn sie wieder mal über mich hereinprasseln wie ein Eisregen. Lange habe ich mit mir gehadert, habe mich gefragt, ob ich krank genug sei, um ab und an auch mal leiden zu dürfen. Um mich beschweren und auch mal selbst bemitleiden zu dürfen. Als wäre eine Krankheit nur dann beklagenswert, wenn sie einen vollkommen dahinrafft. Ich frage mich manchmal, ob es nicht die größere Last ist, etwas in sich zu tragen, von dem man nicht weiß, wie es sich in den nächsten Monaten und Jahren verhalten wird. Still? Langsam voranschreitend? Oder wird die MS eines Tages bei mir einschlagen wie eine Bombe, wird sie mich gehunfähig machen, unfähig zu sprechen, mich anzuziehen oder zu sehen? Manchmal habe ich das Gefühl, ich trage eine tickende Zeitbombe in meinem Gehirn und dass ich weniger tun kann, um diese Bombe zu entschärfen, als mir lieb ist. Ja, ich finde, ich habe das Recht, zu leiden. Jeder Mensch, egal was ihm widerfahren ist, hat das Recht, in dem Maße zu leiden, wie er oder sie es für angemessen hält. Es gibt keinen Katalog, in dem festgelegt wird, ab welchem Punkt eine Krankheit leidenswert wird. Der Verlust der Unbeschwertheit, der Verlust des Urvertrauens und des Glaubens, dass alles sich schon finden wird – das ist es, was die Krankheit mit mir gemacht hat. Sie mag mir nicht meine Gehfähigkeit oder meine Sinne genommen haben, und ich möchte fest daran glauben, dass sie das niemals tun wird. Aber sie hat meiner Fähigkeit zu träumen einen großen Knick versetzt. Einen Knick, den ich auf meiner Weltreise wieder etwas glätten möchte. Ich möchte wieder daran glauben, dass mir Gutes widerfährt, weil ich Gutes verdient habe. Ich möchte wieder glauben, dass es Halt und Hoffnung und so viel Schönheit auf der Welt gibt, dass es einen mit Glück erfüllt und man selbst ganz klein, unwichtig und demütig wird. Ich möchte dankbarer sein. Ich möchte spüren, aufsaugen, weinen, lachen. Ich möchte die Welt umarmen und von der Welt umarmt werden. Von Wellen umspült, vom Wind zerzaust und von der Hitze erdrückt werden. Ich möchte alles spüren, intensiv, jetzt und für immer. Ich möchte berührt werden, tief in meinem Inneren. Von der Schönheit der Welt, der Schönheit der Seelen, mit denen ich meine Tage teile. Der Schönheit der Natur, des Wassers, des Himmels. Komm schon, Leben. Gib mir alles. Ich bin bereit.
Als ich bei meinem Gasthaus ankomme, klingelt mein Handy. Meine Mutter ruft an, bei ihr in Deutschland ist es früher Nachmittag. Mein Herz macht einen freudigen Sprung, und ich will schon auf den grünen Hörer drücken, um das Gespräch anzunehmen – doch dann zögere ich. Gerade bin ich so bei mir, so in Gedanken. So unsicher, ob ich mich richtig verhalten habe. Was meine Mutter wohl zu der Situation zu sagen hat? Ich kann mir mein Leben ohne meine Mama nicht vorstellen, und generell haben wir ein sehr gutes Verhältnis, aber manchmal kann sie ziemlich kritisch sein. Das eine oder andere Mal sind wir deswegen schon aneinandergeraten. Meine Mutter ist der Grund, warum ich ein so ehrgeiziger Mensch geworden bin, das weiß ich. Und dafür liebe ich sie mit einem weinenden Herzen.
»Hey, Mom!« Schließlich drücke dich doch den grünen Knopf auf dem Display und gehe ran. Im Hintergrund höre ich den Ton, den die Berliner S-Bahn macht, bevor sich die Türen schließen, und stehe augenblicklich in Gedanken neben meiner Mutter auf dem zugigen Bahnsteig der Station Friedrichstraße.
»Hey, meine Süße! Du hast ja gar nichts von dir hören lassen. Wie ist es denn? Gefällt dir Chiang Mai?« Ich kann hören, dass ihre S-Bahn sich mit einem metallenen Kreischen in Bewegung setzt.
»Ja, alles ist gut. Die letzte Woche war ganz schön hart, um ehrlich zu sein. Anja hat mich besucht, ganz spontan. Henrik, du weißt doch, ihr charmanter Freund … na ja. Er hat sie betrogen, so charmant ist er also doch nicht. Um sich davon zu erholen und den Kopf ein bisschen freizubekommen, hat sie mich hier besucht«, erzähle ich und gieße mir ein Glas Wasser ein, mit dem ich mich auf dem riesigen Sofa niederlasse.
»Oh nein, das tut mir schrecklich leid für sie. Wie geht es ihr denn? Hattet ihr eine schöne Zeit?«
Ich schlucke, drehe das Wasserglas in meiner Hand und lasse einen kleinen Strudel entstehen. Ich weiß es nicht. Hatten wir eine schöne Zeit? Ich habe das Gefühl, dass wir zwar ein paar sehr witzige Momente zusammen erlebt haben, ich aber im Großen und Ganzen bei ihrem Besuch komplett auf der Strecke geblieben bin. Dass vielleicht nicht genug Platz für unser beider Leid war, weil ihres akuter war – und ich mir dennoch ein wenig mehr Interesse von meiner Freundin gewünscht hätte. Dafür schäme ich mich, doch ich kann es nicht abschalten. Noch bevor ich überlegen kann, ob ich diese Gedanken meiner Mutter anvertrauen soll, habe ich sie bereits ausgesprochen. Ich kann fast hören, wie sie am anderen Ende der Leitung den Kopf schüttelt.
»Ach, Kind«, sagt sie in dem mir so bekannten Tonfall. Augenblicklich bin ich wieder drei Jahre alt und kriege Ärger, weil ich etwas Böses gemacht habe. »Samira, jetzt mal ehrlich. Da kommt deine Freundin einmal um die Welt geflogen, um dich zu besuchen, hat ein gebrochenes Herz – und das Einzige, woran du denken kannst, ist, wie es dir damit geht? Ich meine – komm schon, Samira. Du bist doch eigentlich ein sehr einfühlsamer Mensch! Ich finde nicht, dass sie sich etwas hat zuschulden kommen lassen. Dafür sind Freunde da. Sie war sicher einfach sehr mit sich selbst beschäftigt. Dafür musst du doch ein bisschen Verständnis haben, findest du nicht?«
Ich schlucke. »Mama … ich weiß nicht. Ich finde nicht, dass ich etwas falsch gemacht habe. Eigentlich wünsche ich mir schon, dass meine Beziehungen zu anderen Menschen ausgewogen sind! Hätte sie nicht wenigstens einmal danach fragen können, wie es mir geht? Funktionieren erwachsene Beziehungen nicht so?«
Stille am anderen Ende. Verkehrsrauschen. »Hm, vielleicht hast du recht. Mein erster Impuls war irgendwie, dir Kontra zu geben … Aber ich war ja schließlich nicht dabei. Und du brauchst meine Unterstützung. Irgendwie finde ich schon auch, dass sie wenigstens mal kurz hätte fragen können, wie es dir geht. Dazu sind Freunde schließlich auch da.«
»Danke, Mama. Das bedeutet mir viel«, sage ich und spüre, wie sich der eisige Knoten in meiner Brust ein wenig lockert.
»Na klar, ich stehe immer auf deiner Seite, das weißt du doch?«
»Ja, das weiß ich«, antworte ich viel zu schnell. Aber stimmt das auch wirklich? Manchmal bin ich mir da nicht so sicher … Egal. Ein bisschen Flunkern ist doch ab und an drin, wenn es dem Frieden zwischen Mutter und Tochter dient. Oder?
»Samira! Komm!«, ruft es von draußen. Grinsend steht Sun im matten Sonnenlicht, in der einen Hand hält er einen Motorradhelm, mit der anderen winkt er mir zu. »Habe ich ein ganz besonderes Überraschung für dich!«, sagt er, als ich verwundert auf den Rücksitz seines Rollers klettere und er den Motor anlässt. »Wirst du sehen. Wirst du mögen!«
Wir düsen durch den morgendlichen Verkehr, und die Fahrt vertreibt meine dunklen Gedanken der letzten Nacht. Ich denke nach vorn, nicht zurück. Zumindest versuche ich es. Bald verlassen wir die Stadt über eine vielspurige Autobahn und schlängeln uns in Serpentinen einen Berg hinauf. Die Luft wird kühler, frischer. Die Bäume rauschen, der Verkehr dünnt merklich aus.
»Wir gehen zum höchsten Tempel auf Berg, heiliger Ort!«, schreit Sun mir über die Schulter zu. Überall mäandern kleine Wasserfälle die Hänge hinab. Aus ihrer Richtung stäubt ein feiner Niesel zu uns herüber, der meine Arme überzieht und mich angenehm frösteln lässt. Als immer mehr kleine Stände und Buden die Straße säumen, verlangsamt Sun die Fahrt und kommt zum Stehen. Wir steigen ab, kaufen eine Kokosnuss und wenden uns den Treppen zu, die hinter dem Stand beginnen und hinauf zum Tempel führen.
»Du fleißig! Viele wollen nehmen den Aufzug, schau«, sagt Sun und deutet auf eine Art Fahrstuhl, vor dem sich eine lange Schlange aus Wartenden gebildet hat.
»Quatsch. Wir laufen!«, gebe ich zurück, und gemeinsam erklimmen wir Stufe um Stufe den Berg. Die Treppen werden von einem Geländer gesäumt, das mit einer Art dunkelgrünem Mosaik überzogen ist. Oben angekommen, mündet das aus kleinen Steinen bestehende Muster auf beiden Seiten in einem imposanten Drachenkopf.
»Dieser Ort ist sehr, sehr heilig«, sagt Sun und reicht mir einen Schal, damit ich mir diesen um die Hüften binden kann. »Hier in Thailand man darf mit nackig Beine nicht in Tempel. Ist nicht gut für Buddha.« Ich schäme mich ein wenig, aber natürlich habe ich auch nicht gewusst, wohin wir überhaupt fahren – wie hätte ich mich da passend anziehen sollen? »Komm, wir gehen rein«, sagt Sun, und ich laufe ihm hinterher, meine Schritte durch den engen, langen Schal abgebremst. Als wir durch den Torbogen ins Innere des Tempels treten, habe ich das Gefühl, jemand hätte mir einen goldenen Pfeil direkt in die Pupille geschossen. Vor uns vollzieht sich eine wahre Explosion des edlen Metalls, hell leuchtend und glänzend im smogfreien Sonnenlicht, tausendfach reflektiert in den kleinen goldenen Statuen, Tempelspitzen, Messingkannen und den Kameralinsen der Touristen aus aller Welt. Sun tauscht einen Geldschein gegen Münzen ein, die wir in die Messingkannen werfen – je eine Münze pro Kanne. Wir entzünden Öllichter an einem kleinen Schrein vor einem Tempel, immer wieder knien wir hier und da vor einer Buddhastatue nieder. Mein Begleiter beugt sich mit der Stirn bis auf den Boden und berührt diesen mit seinen Händen, während ich meine Hände in den Schoß falte. Ich bin sehr ergriffen davon, wie hingebungsvoll er betet. Er murmelt vor sich hin, lächelt mich immer wieder an, spricht aber nicht viel zu mir. Ich tue, was er tut, und versuche, so respektvoll wie möglich zu sein.
»Jetzt wir besuchen den Mönch«, sagt er. Wir betreten einen Tempel, über dem eine ausladende Goldkuppel thront. Drinnen ist die Luft erfüllt vom Geruch brennender Räucherstäbchen. Teppiche liegen aus, die Schuhe haben wir vor dem Tempel ausgezogen. Der Mönch, der direkt vor uns sitzt, ist in ein orangefarbenes Tuch gehüllt, seine nackten Arme und Schultern schimmern im schräg einfallenden Sonnenlicht. Sein Kopf ist kahl rasiert, und auf seinem Gesicht liegt ein so gelassener, ruhiger Ausdruck, dass ich nicht anders kann, als eine tiefe Bewunderung, ja, Verehrung für diesen heiligen Menschen zu empfinden. Diesmal neige auch ich mich hinab, bevor ich überhaupt darüber nachdenken kann. Als Sun das sieht, strahlt er übers ganze Gesicht. Immer noch auf Knien entfernen wir uns wieder von dem Mönch, unsere Gesichter halten wir ihm weiterhin zugewandt.
»Einem Mönch du nie zeigen deine Rückseite«, erklärt Sun, als wir wieder draußen stehen. Ich fühle mich ganz ruhig und gelassen, fast so, als wäre ein Millionstel des inneren Friedens, den dieser Mönch ausgestrahlt hat, auf mich übergegangen. Als hätte ich in seinen Augen gesehen, dass alles – egal was es ist – irgendwann in Ordnung sein wird.
»Jetzt fahren wir zu dem Essen«, sagt Sun und packt meine Hand. Ich bin überrascht und ziehe sie hastig weg. Vielleicht war es nur eine freundschaftliche Geste von ihm, aber ich fühle mich nicht wohl dabei. Er lässt sich nichts anmerken und kauft uns beiden ein Eis, das wir genüsslich verzehren, während wir die Treppen hinabsteigen. Immer noch fühle ich mich sehr ergriffen von der andächtigen Stimmung im Tempel und erzähle Sun davon.
»Ja, das macht Buddha. Er mich gerettet hat.« Wir essen schweigend das Eis auf, steigen auf Suns Roller und fahren die Serpentinen wieder hinunter. Die Luft wird langsam wärmer, die Vegetation verändert sich nach und nach. »Fisch?«, ruft Sun nach hinten. Ich gehe davon aus, dass die Frage sich auf das geplante Essen bezieht, und schreie ein lautes »Ja!« zurück. Wir fahren nicht zurück in die Stadt, sondern biegen links ab und fahren durch friedlich daliegende Reisfelder, weg von dem riesigen Berg in unserem Rücken. Bald erstreckt sich vor uns ein großer See, um den herum ich so etwas wie Bootshütten erahne. Als wir näher an den See heranfahren, sehe ich, dass es keine Bootshütten sind, sondern kleine schwimmende Tische auf Pontons mit einem Überdach aus Schilfrohr.
»Oh, wie schön!«, stoße ich begeistert aus. Sun grinst zufrieden und hält den Roller an.
»Ist eine besondere Ort, den ich nur für dich habe ausgesucht.«
Der See ist umrahmt von Restaurants, die ziemlich ähnlich aussehen und alle solche schwimmenden Tische haben, doch Sun scheint genau zu wissen, welches das beste ist. Er unterhält sich mit dem flinken Kellner, der höflich nickt und uns anschließend über wackelige Bambusstäbe, die als eine Art Brücke dienen, zu unserem schwimmenden Tisch führt. Der Boden ist mit Teppichen ausgelegt, und wieder ziehen wir unsere Schuhe aus. Sun würdigt die Karte keines Blickes, sondern bestellt direkt beim Kellner. Er schenkt uns Wasser ein, und wir blicken schweigend auf den braunen See. Ich lasse meine Füße ins Wasser baumeln und denke über Sun nach. Er scheint so viele Geheimnisse in sich zu bergen.
»Als du sagtest, dass Buddha dich gerettet hat – wie hast du das gemeint?«, frage ich ihn.
»Du weißt, ich früher auf Koh Phangan gearbeitet, ja?«, sagt er, und ich nicke. »Dort ich viele Frauen gehabt. Viele. Ich arbeiten, viel Geld verdienen. Aber ist keine gute Arbeit, keine ehrliche Arbeit. Ist schlimm verbotene Arbeit gewesen.« Während er spricht, bewegt er sich keinen Millimeter. Er sieht mich nicht an, sein Blick ist auf die leicht gewellte Oberfläche des Sees geheftet, als wollte er sie durchstoßen.
»Was hast du gearbeitet, Sun? Willst du es mir erzählen?«
»Ich habe Drogen verkauft. Ich auch habe tätowiert, aber vor allem ich habe Drogen verkauft. An die Touristen. Viel Party. Ich viel getrunken, viele Frauen gehabt, so viele. So viel Party. War gut, kurz, dann war irgendwann sehr schlecht. Sind nicht sehr gute Leute, die so was machen, weißt du. Sagen, sie sind Freunde. Aber ich habe keine Freunde. Sie nicht meine Freunde gewesen. Nur Buddha ist mein Freund. Er helfen mir, als ich so war. Er helfen mir, nicht mehr zu trinken und nicht mehr Drogen verkaufen. Jetzt nehme ich keine Drogen, kein Trinken. Es ist drei Jahre her, dass ich war auf Koh Phangan. Und jetzt ich suche Frau.« Bei diesen Worten wendet er sich mir zu und schaut mir direkt in die Augen. »Wenn du hättest keinen Freund – du würdest mich jetzt küssen?«
Ich bin komplett überfordert von dieser etwas unbeholfenen Frage, die er doch, das kann ich sehen, komplett ernst meint. »Äh … ich … nun, ich weiß nicht! Ich kann es nicht sagen, ich habe ja nun mal einen Freund, und auch noch einen ganz schön tollen!«, gebe ich stotternd zurück.
Er wirft mir einen Blick zu, der mir zu sagen scheint, dass ich nicht wisse, was mir entgeht. »Ist deine Pech«, sagt er zwinkernd und zuckt die Schultern.
Der kleine flinke Kellner taucht auf und bringt uns unser Essen. Immer mehr und mehr duftende Gerichte füllen den Tisch: ein Oktopussalat, eine Steinschale, in der ein Fisch in einer roten Soße mit vielen Kräutern blubbert, Reis, noch mehr Fisch, Austern. Es ist ein wahres Fischfest, und die durch Suns Frage etwas angespannte Stimmung lockert sich sofort, während ich unter seinen belustigten Blicken nach jedem Bissen »Mmmhs« und »Ooohs« ausstoße. Es ist köstlich, phänomenal. Irgendwann setzt mein Sättigungsgefühl ein, und ich lege fast wehmütig mein Besteck zur Seite.
»Das war himmlisch, aber jetzt bin ich so voll, dass ich gleich platze«, sage ich zu Sun und strecke wieder die Beine ins Wasser. Einen langen Moment sitzen wir noch so da, lassen den Blick schweifen und das Essen nachwirken.
»Ich weiß, dass du mich hättest geküsst«, sagt Sun – vielmehr zu sich selbst –, als wir uns auf den Rückweg zu seinem Roller machen.