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VIII.

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Meine Berufstätigkeit entwickelte sich sehr interessant. Von jeher hatte ich eine besondere Vorliebe für Detektiv-Romane und ging gern in den Spuren des Chevalier Dupin (Poe), Sherlock Holmes (Doyle) oder Mr. Lecocq (Gaboriau), deren Ahnherr ja eigentlich Wilhelm Hauffs Jude Abner ist. Ich suchte die bewährten Methoden dieser Helden zu befolgen und erlangte eine gewisse Fertigkeit, die mich in die Lage versetzte, ganz fremden Leuten, die in meine Sprechstunde kamen, von vornherein anzusehen, was sie zu mir führte. Ich erinnere mich z. B., einen wildfremden Mann, der in mein Zimmer trat, noch bevor er ein Wort gesagt hatte, dadurch in ziemliche Verwirrung gesetzt zu haben, daß ich bemerkte: „Ich gebe zu, daß Sie als Lehrer manchen Versuchungen ausgesetzt sind, aber es ist schlimm, daß Sie sich an den Ihnen vertrauten Kindern in so schwerer Weise vergangen haben.“ Er versuchte zu leugnen, aber als ich ihm sagte, daß ich dann kaum zu solcher Diagnose gekommen wäre, gestand er sein Vergehen. Er wurde dann auch zu längerer Gefängnisstrafe verurteilt.

Bei diesen meinen Neigungen war es natürlich sehr interessant, als ich eines Tages von einem mir nur dem Namen nach bekannten russischen adligen Latifundienbesitzer ein Telegramm bekam, in dem ich aufgefordert wurde, unverzüglich nach München zu fahren, um die Umstände des Todes des Grafen T. aufzuklären. Ich fuhr sofort in die Bayrische Hauptstadt und arbeitete dort mit Hilfe eines Detektivbüros, und indem ich die Bekanntschaft aller möglichen Leute aus der Umgebung jenes Grafen T. machte, drei Tage lang mit größter Intensität, um dann – eigentlich mit großer Enttäuschung – festzustellen, daß der Graf auf die natürlichste Weise nach einer Operation in der Klinik unter Erweisung aller medizinischen Ehren verstorben war. Ich nahm an, daß mein Auftraggeber ebenso enttäuscht sein würde und berichtete ihm telegraphisch und brieflich über den negativen Erfolg meiner Bemühungen. Zu meinem Erstaunen erhielt ich dann ein überaus befriedigtes und verbindliches Dankschreiben und ein reichliches Honorar. Was eigentlich hinter der Sache steckte, habe ich nie erfahren.

In einem andern Falle aber hatten wir, oder in der Hauptsache Alfred Klee, die Gelegenheit, einen Todesfall, der unter eigentümlichen Umständen erfolgt war, wirklich aufzuklären und damit zwei brave Leute von Elend und Schande zu retten. In einem Harzstädtchen war eine alte Frau gestorben, und es ging in dem Ort das Gerücht um, daß ihre Tochter und deren Mann, angesehene Bürger, sie beseitigt hätten. Besonders war es der Bürgermeister, der mit diesen Leuten verfeindet war, der dieses Gerücht verbreitete und schließlich die Staatsanwaltschaft zum Einschreiten veranlaßte. Die Leute wurden in Haft genommen und kamen vor das Schwurgericht in Göttingen. Das Verfahren endete damit, daß die beiden zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Der Arzt aber, der die alte Frau behandelt hatte, beruhigte sich dabei nicht, überzeugt von der Unschuld der Leute und davon, daß die alte Frau eines natürlichen Todes gestorben war. Er wandte sich an hervorragende Sachverständige in Berlin, und man zog schließlich Alfred Klee zu, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens herbeizuführen. Die Aufhebung eines schon rechtskräftig gewordenen Urteils gelingt nur äußerst selten. Klee, nachdem er die Überzeugung gewonnen hatte, daß hier ein Justizmord vorlag, setzte mit ungeheurem Eifer das Wiederaufnahmeverfahren durch, und in der neuen Verhandlung vor dem Schwurgericht erreichte Klee den Freispruch und die vollkommene Rehabilitierung der unschuldigen Angeklagten. Die Leute waren natürlich überglücklich, und die Frau kam eines Tages nach Berlin gefahren, um noch einmal in unserem Büro sich zu bedanken. Sie schilderte eindringlich die Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren, und schloß ihre Rede mit den bezeichnenden Worten: „Mein guter Engel hat mich schließlich zu Ihnen geführt, und so bin ich endlich in gute christliche Hände geraten.“ Sie war wohl nicht die einzige, welche die Erfahrung machen mußte, daß das, was im allgemeinen unter „guten Christen“ verstanden wird, sich sehr oft gerade unter Juden findet.

Seltsamer Weise wurde meine detektivische Neigung auch in der berühmten Konitzer Affäre in Anspruch genommen. Der Fall selbst, die Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter lag freilich Jahre zurück. Um das Jahr 1900 war ein 19jähriger, wegen seines ausschweifenden Lebens recht übel beleumdeter junger Mann, Schüler des Gymnasiums der Stadt Konitz, ermordet worden. Seine Leiche war zerstückelt, und die einzelnen Teile wurden an verschiedenen Stellen aufgefunden. Sofort tauchte das alte Gespenst der Ritualmordbeschuldigung auf. Die antisemitische Presse bemächtigte sich des Falles, und besonders tat sich der Redakteur der Staatsbürger-Zeitung, der berühmte Antisemitenführer Bruhn, hervor. Bis in die weitesten Kreise schenkte man dem Märchen Glauben. Ich erinnere mich, wie ein jüdischer Amtsrichter, der, um sich der unerträglich gewordenen, vergifteten Atmosphäre in Konitz zu entziehen, sich nach Hannover hatte versetzen lassen, – viele Juden verließen damals ihre Heimatstadt – zu seinem Schrecken bei einem Diner von seiner Nachbarin, die den besten und intelligentesten Kreisen angehörte und nicht ahnte, daß ihr Tischherr Jude war, hören mußte: „Sie sind aus Konitz? Da zweifelt doch sicher kein Mensch daran, daß dieser Winter ein Opfer fana­tischer Juden geworden ist.“ – Es kam in Konitz und Umgebung zu ernsthaften Pogromen, und nur das Einschreiten von Polizei und Militär verhinderte Schlimmeres. Die Untersuchungen blieben erfolglos, obwohl sich die gewiegtesten Kriminalisten und Detektive Deutschlands der Sache angenommen hatten. Es gab nun eine Reihe von Meineidsprozessen gegen verschiedene Einwohner der Stadt, die in der Sache als Zeugen vernommen waren, und mehrere von ihnen wurden auf Grund sehr zweifelhafter Aussagen zu schweren Zuchthausstrafen verurteilt. Maximilian Harden hat in seiner „Zukunft“ ausführlich über diese Vorgänge sich ausgelassen. Selbst als ein Gutachten höchster medizinischer Autorität zweifellos fest­gestellt hatte, daß Winter erwürgt war, offenbar bei einem galanten Abenteuer überrascht, brachte das die Hetze nicht zum Stillstand, und der Glaube an den Ritualmord blieb unerschüttert.

Nun, viele Jahre später, kam zu mir eines Tages höchst aufgeregt der Redakteur Julius Moses, der spätere sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, und erklärte, er glaube, jetzt auf der Spur jenes Mörders zu sein. Es fand eine Konferenz bei dem schon oft von mir genannten M. A. Klausner statt, und dort wurde mir nun mitgeteilt, daß gewisse Indizien auf einen Konit­zer Schulmann hinweisen. Man meinte, daß dieser jenen unglücklichen jungen Mann beim Verkehr mit seiner Tochter ertappt habe, und daß dann im Jähzorn jene Tat von ihm begangen sei. Das mir vorgelegte Material war sehr dürftig. Es handelte sich in der Hauptsache nur um Hypothesen, die jene Darstellung in den Bereich der Möglichkeit, aber kaum in den der Wahrscheinlichkeit rückten. Immerhin ließ ich mich bei der Bedeutung, die die Angelegenheit für die jüdischen Interessen hatte, dazu bewegen, der Sache nachzugehen. Es gelang mir, Einsicht in die längst reponierten Akten zu nehmen, und ich überzeugte mich, daß wirklich mit überaus großem Eifer und Scharfsinn von den Behörden an der Aufklärung gearbeitet war. Aber doch kam ich schließlich in der Tat auf ein Indiz, das den Untersuchungsbeamten bisher entgangen war. Der Kopf jenes unglückseligen Winter war in eine Zeitung gewickelt gefunden worden, deren Datum seltsamer Weise mehrere Jahre gegenüber dem Mordtage zurücklag. Das fiel mir auf. Ich fragte mich, wer nun ein Interesse haben könnte, eine Nummer des Konitzer Tageblatts jahrelang aufzubewahren. Ich stöberte im Zeitschriften-Lesezimmer der Königlichen Bibliothek jene Nummer auf und studierte sie sorgfältig. Zu meinem höchsten Erstaunen fand ich das, was ich gesucht hatte, nämlich eine Todesanzeige, die die betreffende verdächtige Persönlichkeit in der Tat nahe berührte. Damit war allerdings nun eine gewisse Grundlage für ein weiteres Vorgehen geschaffen. Aber dann stellte sich heraus, daß diese Person schon seit Jahren verstorben war, und daraufhin beschlossen wir, die Sache als aussichtslos liegen zu lassen.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich sagen, daß nach meiner Auffassung, zumindest in dem Deutschland jener Zeit, in der ich dort wirkte, es wohl selten zu einem Justizmord kam. Wohl mögen oft Vorurteile aller Art, Klassenvorurteile, Rassenwahn und irgendwelche Ressentiments bei der Urteilsfindung mitgewirkt haben, ohne daß sich die Richter über ihre Vorein­genommenheit im klaren waren. In solchen Fällen liegt eine Rechtsbeugung vor, bewußter oder unbewußter Art. Ein Justizmord liegt aber nur dann vor, wenn objektive und unabhängige Richter in gutem Glauben zu einem Fehlurteil kommen. Im andern Falle kann der Fehlspruch nicht der Justiz, sondern nur ihren Vertretern zur Last gelegt werden. Viel häufiger natürlich, als daß ein Unschuldiger verurteilt wird, geschieht es natürlich, daß ein Schuldiger freigesprochen wird. Im Grunde genommen ist auch das ein Justizverbrechen.

Im Zivilprozeß freilich kann es sehr oft geschehen, daß das Gericht zu einem falschen Urteil veranlaßt wird. Eine ganz besondere Gefahr stellte in Deutschland das Kapitel von Arresten und einstweiligen Verfügungen dar. Eine solche einschneidende Maßnahme konnte sehr leicht z. B. erwirkt werden, wenn glaubhaft gemacht wurde, daß das spätere Urteil im Auslande vollstreckt werden müßte. Auf diese Weise konnte es geschehen, daß ein notorischer französischer Millionär wegen einer ganz geringfügigen Summe durch Personal-Arrest verhaftet wurde. Und leichtfertige und gewissenlose Menschen hatten es in der Hand, auf diese Weise nicht wiedergutzumachenden Schaden anzurichten. So wurde ich eines Tages kurz vor den hohen Feiertagen angerufen: Ein russisch-jüdischer Herr, der auf der Durchreise von Kissingen begriffen war, und der im Elite-Hotel in Berlin abgestiegen war, wurde plötzlich wegen einer angeblichen Forderung von einem Gerichtsvollzieher, der mit einem Haftbefehl versehen war, aufgesucht. Als ich ins Hotel kam, war der Herr bereits in das Gefängnis nach Moabit abgeführt. Ich jagte nach Moabit, und es gelang mir, obgleich es gegen Mitternacht war, entgegen allen Vorschriften, ihn zu sprechen. Der Herr war natürlich in größter Aufregung, behauptete, daß die Forderung betrügerisch sei, und jammerte, er müsse unbedingt seine Reise fortsetzen, um die Feiertage in seiner Familie verleben zu können. Der Arrest war vom Amtsgericht Oeynhausen erlassen, und der Mann war nur frei zu bekommen, wenn die Summe – es handelte sich, wenn ich nicht irre, um 35.000 Mark, sofort bei diesem Amtsgericht hinterlegt würde. Das mußte am nächsten Morgen geschehen, wenn der Mann noch seinen Zug erreichen sollte. Es gelang mir, noch in der Nacht die Summe aufzutreiben, und früh um 6 Uhr fuhr mein Sozius, Dr. Fritz Simon, nach Oeynhausen, und mittags kam das Telegramm, das die Freilassung meines Klienten verfügte. Einige Wochen später fand dann die Verhandlung in Oeynhausen statt. Auf Wunsch meines Klienten fuhr ich zu diesem Termin. Es ist niemals aufgeklärt, wieso der Gegner dazu gekommen war, gerade bei diesem Amtsgericht Arrest zu beantragen. Mein Klient war niemals in diesem Orte gewesen. Das Amtsgericht war in keiner Weise zuständig, und es lag eine haarsträubende Fahrlässigkeit des Gerichts vor, das die einfache Frage der Zuständigkeit überhaupt nicht geprüft hatte. Auch die ganze Forderung war einfach aus der Luft gegriffen. Aber der Kläger war inzwischen verschwunden, und die Kosten, die ihm vom Gericht natürlich auferlegt wurden, waren nicht beizutreiben. Für seinen Schrecken bekam mein Klient keinerlei Entschädigung.

Noch grotesker lag folgender Fall: Ein holländischer Kaufmann wurde im Zentralhotel in Berlin ausgepfändet, und zwar diesmal nicht aufgrund eines Arrestes, sondern aufgrund eines rechtskräftigen Urteils, das in Wiesbaden gegen ihn ergangen war. Mein Klient war außer sich, er war niemals in Wiesbaden gewesen, hatte nie von diesem Prozeß gehört, ebenso wie er bestimmt wußte, daß er dem Kläger überhaupt nichts schuldig war. Ich war seinen Angaben gegenüber zunächst sehr skeptisch, denn es lag nicht nur ein rechtskräftiges Urteil vor, sondern es ergab sich aus den Akten, daß er persönlich die Ladung zu dem Termin in Wiesbaden im Hotel entgegengenommen hatte und dann vor Gericht nicht erschienen war. Auch das Urteil war ihm ordnungsgemäß zugestellt. Mein Klient blieb aber dabei, daß er niemals in Wiesbaden gewesen war, – und ich stellte mit Mühe folgenden Sachverhalt fest: Der geriebene Kläger hatte sich selbst in Wiesbaden unter dem Namen meines Klienten einquartiert, hatte als dieser die Klage entgegengenommen und ebenso sich das Urteil zustellen lassen. Das war nun freilich ein raffinierter Betrug, dem jedes Gericht zum Opfer fallen mußte. Die Sache war hier viel bedenklicher als bei einem Arrest, da das Geld in diesem Falle dem Kläger direkt hätte zufallen müssen, und es sich nicht bloß um eine vorläufige Sicherstellung handelt wie bei einem Arrest. Glück­­licherweise konnte ich zur rechten Zeit noch intervenieren und meinem Klienten die sehr große Summe retten.

Natürlich habe auch ich bisweilen, und sogar recht häufig, Arreste erwirkt, aber gerade dann habe ich mir die sorgfältigste Prüfung zur Pflicht gemacht, ehe ich solch einschneidende Maßnahmen traf. Von einem Fall möchte ich kurz berichten, da er zeigt, wie selbst bei den als so überaus korrekt berühmten preußischen Gerichten nur mit Wasser gekocht wurde: Ein großes russisch-jüdisches industrielles Unternehmen hatte mich beauftragt, einen Mann, der unter Hinterlassung gewaltiger Schulden über die Grenze nach Deutschland gegangen war, aufzuspüren und ihre Forderung beizutreiben. Ich erreichte den Mann in einem Badeort in der Nähe des Rheins, und es gelang mir, bei dem dortigen Amtsgericht einen Personal-Arrest zu erwirken, – ich muß sagen, zu meiner Überraschung, da außer meiner Überzeugung davon, daß die Forderung gerecht war, mir kaum irgendwelche Waffen zu Gebote standen. Ich hatte nicht einmal eine korrekte Vollmacht, und alle Unterlagen fehlten mir. Aber jedenfalls gelang es mir, das Gericht sozusagen zu überrennen, und ich konnte das Kapital meinen Auftraggebern retten. Aber nun kommt das Kuriose: Es war, wie gesagt, im Sturm genommen. Der amtierende Richter war der Sache nicht gewachsen, und ich habe selbst im Gericht den Haftbefehl, und was an Urkunden sonst nötig war, entworfen, von den verstörten Richtern unterschreiben lassen und mich mit diesen Urkunden auf die Jagd begeben. Und nun bekam ich nach einigen Monaten einen Brief von dem Gericht des Inhaltes, es wäre damals alles so eilig zugegangen, daß man vergessen hätte, überhaupt Akten abzulegen. Das einzige, was dort gefunden wäre, wäre meine Visitenkarte. Man bäte mich doch, ihnen die Unterlagen für die nachträgliche Anfertigung der Akten zu geben. Natürlich verschaffte ich der verunglückten und lahmen Frau Themis die notwendigen Krücken und Prothesen.

Erinnerung an meine Jahre in Berlin

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