Читать книгу Wenn Blau im Schwarz ertrinkt - Sandra Andrea Huber - Страница 3
PROLOG
ОглавлениеDie Luft vibrierte, wie der schnelle Flügelschlag eines Kolibris, spaltete sich in eine Anzahl unzählbarer Partikel und öffnete ein Portal, das von der ihm vertrauten in die andere, fremde Welt führte. Kaum dort angekommen, musste Nikolaj einige ausgiebige Atemzüge nehmen und seinen Stand auf beide Beine verlagern, da schwüle Luft in seine Lungen und Hitze gegen seinen Körper presste, die ihn einem Schraubstock gleich einengten.
Er legte den Kopf in den Nacken, sah mit zusammengekniffenen Augen nach oben und fand sich unter einem hellblauen mit weißen Wolken gespickten Himmel wieder, dessen Sonnenrund heiß verzehrendes und blendendes Licht auf ihn hinabströmen ließ. Ähnlich seiner bisherigen Besuche überwältigte ihn auch diesmal ein intensives Gefühl des Aufatmens und der Beklemmung. Zwar wusste er, dass seine Welt einst ihren Ursprung hier genommen hatte, doch waren Mutter und Kind so unterschiedlich, wie es nur möglich war. Als er vor einiger Zeit das erste Mal Menschenboden betreten hatte, war die fremdartige Umgebung wie ein Schlag in die Magengrube gewesen. Alles in ihm, von der Haut hin zu den Eingeweiden und noch tiefer, hatte sich angespannt und zusammengezogen, als ob es sich verschließen und in Sicherheit bringen wollte. Inzwischen war es glücklicherweise nicht mehr ganz so schlimm. Sein Körper schien sich an die neuen Gegebenheiten zu gewöhnen und anzupassen.
Der Auslöser all dieser unwohlen Empfindungen, der entscheidende Unterschied zu der ihm vertrauten Welt, war jedoch nicht einzig im Blau des Himmels, der Intensität der Sonne, der warmen Luft oder dem saftigen Grün der Pflanzen auszumachen. Es war weit mehr als das. Eine allgegenwärtige Präsenz, etwas, das von überall ausströmte. Eine Energie, die in allem verankert und verwurzelt war und niemanden unberührt ließ. Sie war es, die ihn anzog als auch abstieß. Ihn verlockte näherzukommen und zugleich mit Furcht und Abscheu erfüllte.
Er senkte den von der Sonne tränenden Blick, lief den Weg entlang, an dem er den Erdengrund das letzte Mal verlassen hatte und setzte seine Erkundungstour fort. Kaum, dass er einige Meter gegangen war, erfasste er sie.
Ein brünetthaariges Mädchen, nicht älter als elf, lief mit stolpernden Schritten den Gehsteig entlang. Mehrmals fuhr sie sich mit dem Handrücken über Augen und Wangen, um Tränen fortzuwischen, die ihr übers Gesicht laufen wollten. Einige Meter hinter ihr folgten drei weitere Mädchen. Älter, etwa um die dreizehn.
Er entschied sich nicht bewusst dazu. Seine Beine trugen ihn von ganz allein den Mädchen – ihr – hinterher.
Sie verließ den Gehsteig und lief quer über die von der Sonne braun angesengte Rasenfläche des Spielplatzes. Ihre Verfolgerinnen schlossen rasch und zielstrebig zu ihr auf und umstellten sie schließlich zwischen Rutsche und Schaukel. Das Mädchen versuchte aus dem gezogenen Kreis auszubrechen, wurde jedoch von groben Händen hin und her geschubst und so am Entkommen gehindert. In Hoffnung auf Hilfe warf sie verzweifelte Blicke durch die Lücken ihrer Peinigerinnen. Doch ihre Augen fanden niemanden.
Als er die Straße überquerte, auf die Rasenfläche lief und ein peitschendes „Hey!“ durch die Luft schallen ließ, war es abermals keine bewusste Entscheidung, sondern mehr ein Bedürfnis, das er nicht ignorieren konnte.
Alle vier wandten sich zu ihm um.
Ohne Frage war es seine andersartige Aura, die die Mädchen interessiert als auch abschätzend zu ihm starren ließ. Einige Momente lang blieb dieser zwiespältige Blick der älteren Mädchen auf ihm ruhen, ehe sich die mit dem blonden Zopf ein Herz fasste und gebieterisch das Wort ergriff.
„Wer bist du? Und was willst du?“ In ihrer Stimme schwang Erschrockenheit über sein plötzliches Auftauchen, aber auch eine Spur Neugierde mit. Sie hatte offenbar nicht mit Zuschauern gerechnet – schon gar nicht mit jemandem wie ihm.
Er tat einige weitere Schritte bis knapp vor die Gruppe, ließ den Blick abschätzend über ihre Gesichter gleiten, bis er wie gebannt auf dem Mädchen in ihrer Mitte hängen blieb. Er vermochte nicht zu sagen, was es war, dass ihn derart faszinierte. Etwas an ihr war anders, besonders. Sie berührte ihn auf eindringliche Art und Weise, sodass er nicht anders konnte, als sie anzustarren.
Nicht sicher, ob sein Auftauchen nun Rettung oder noch mehr Peinigung bedeutete, hatte das Mädchen ihr Gesicht starr auf den Boden gerichtet, schien sich seines taxierenden Blickes aber dennoch bewusst zu sein.
Nach einer längeren Weile entzog er ihr mühsam seine Aufmerksamkeit und richtete sie erneut auf die vermeintliche Anführerin der Truppe. „Mein Name ist Nikolaj und ich will, dass ihr verschwindet. Sofort. Ihr werdet nie wieder in ihre Nähe kommen – ist das klar?“ Er sprach mit Autorität und Bestimmtheit, die dem Mund eines Kindes nicht zuzutrauen gewesen wären. Doch genau genommen war er ja auch kein normales Kind, kein normaler dreizehnjähriger Junge. Er war jemand, der anderen drohen konnte.
Obwohl seine Worte sichtliches Unbehagen über das vorlaute Mädchen und ihre Begleiterinnen hinweg rollen ließ, brachte die Blondhaarige trotzig eine Erwiderung hervor. „Du hast uns gar nichts zu sagen! Für wen hältst du dich eigentlich? Hast du mal in den Spiegel gesehen? Du siehst aus, wie ein Gespenst!“ Sie kicherte, doch es war ein wackeliges Kichern.
Er taxierte sie. Sein Gesicht verriet weder einen seiner Gedanken, noch eine seiner Emotionen. Es gab nichts von dem Preis, was in ihm aufzüngelte; verriet nicht, dass sich der Rand seines Blickfeldes schwarz färbte.
Ein paar Sekunden verstrichen, ohne dass sich die Szenerie änderte, dann gab eines der Mädchen plötzlich keuchende Atemgeräusche von sich und fing an zu schreien.
Erschrocken drehten sich die beiden anderen in ihre Richtung, würgten, ehe auch sie hektisch die Hände ans Gesicht hoben, um einen Fluss karmesinroten Bluts aufzufangen, der ihnen aus der Nase quoll, ihre Lippen besprenkelte und über das Kinn den Hals entlanglief.
Nikolaj beobachtete das Geschehen ohne die geringste Regung oder Erschrockenheit. Beobachtete, wie die Mädchen mit Panik und Unverständnis auf den Gesichtern zurückwichen, über den Spielplatz zur Straße liefen, um eine Ecke bogen und verschwanden.
Auch das Mädchen hatte das Geschehen wortlos, aber mit überrascht geweiteten Augen verfolgt und wandte sich nun, da sie alleine waren, vollends ihm zu. Eine lange Weile sah sie ihn stumm an, damit beschäftigt ihre Gedanken zu ordnen und sich eine Meinung über ihn zu bilden.
Er drängte sie nicht, wartete jedoch überaus angespannt auf ihr Urteil. Als er das Gefühl kaum noch ertragen konnte, machte sie endlich einige zögerliche Schritte auf ihn zu, lächelte und sagte mit leiser, aber fester Stimme: „Danke.“
Eine Duftwolke süßlichen Aromas wogte ihm entgegen, kitzelte verlockend in seiner Nase und ließ ihn tiefer einatmen. Als er ihr antwortete, gingen die Worte aus einer Leichtigkeit hervor, die ihm fremd war. „Gern geschehen.“
Wie bereits zuvor konnte er den Blick nicht von ihr abwenden. Angetrieben von einer inneren Sehnsucht, vom Blut, das durch seine Adern rauschte, drängten sich die Worte von ganz allein aus seinem Mund. „Du gehörst jetzt mir.“
Sie kniff die Augen zusammen, neigte den Kopf zur Seite und bedachte ihn mit einem nachsinnenden Ausdruck. „Niemand gehört irgendwem. Aber wir können Freunde sein, wenn du möchtest. Ich bin Gwen.“ Sie hob die Hand und hielt sie ihm entgegen.
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Ihre Antwort verärgerte und irritierte ihn, ließ Trotz und Widerwillen in ihm aufkommen, ebenso wie sie ein warmes Gefühl in seiner Brust aufwallen ließ, das sich mit dem lieblichen Duft paarte und durch ihn tanzte.
Im Griff dieses inneren Chaos nahm er ihre Hand und erwiderte mit Blick ihre hellbraunen Augen: „Du kannst mich Nick nennen.“