Читать книгу Wenn Blau im Schwarz ertrinkt - Sandra Andrea Huber - Страница 5
ZWEI
ОглавлениеGwens Fuß verfehlte die nächste Treppenstufe, sodass sie nach hinten taumelte. Glücklicherweise war ein Paar kräftiger Hände zur Stelle, die ihren Rücken stützten und sie in einen festen, sicheren Stand zurückbrachten.
„Verdammt noch mal, Nick! Auch wenn du einen eingebauten Nachtsichtblick hast oder die Umgebung inzwischen so gut kennst, dass du sie im Schlaf gehen kannst: Auf mich trifft weder das eine noch das andere zu! Ich bin blind wie ein Maulwurf und orientierungslos wie eine im Nebel versumpfte Mücke. Gemessen daran, wäre es überaus taktvoll, wenn du zumindest für mich das Licht anmachen könntest.“
Ein samtenes Lachen drang hinter ihr hervor und umfing sie mit Vertrautheit. Zwar klang es nun tiefer, männlicher und rauchiger als früher, aber dennoch klang es immer noch nach ihm.
„In Zukunft werde ich, in Respekt dem Maulwurf gegenüber, das Licht anmachen. Trotz der Tatsache, dass er das nicht nötig hat. Er hat ja schließlich mich, seinen treuen Blindenführer.“
Tiefe Vertrautheit und gleichzeitige Surrealität tanzten durch Gwens Brust. Nick war wirklich da, es war kein Traum, sondern Realität. Es war fast so, als ob die Jahre der Trennung nur eine Illusion gewesen wären und sie in Wirklichkeit niemals voneinander getrennt worden waren. Aber eben nur fast. Denn das waren sie. Sie waren auseinandergezerrt worden. Von Gwens Eltern, was es umso schlimmer machte.
Trotz ihrer Bitte ließ Nikolaj kein Licht aufglimmen. Stattdessen umfasste er ihre Taille, führte sie Stufe um Stufe die Treppe hinauf, dann einen Gang entlang, ehe er vor einer Tür Halt machte.
Gwen konnte hören, wie er in seiner Tasche nach einem Schlüssel kramte. Ein überaus unangenehmes Gefühl von Aufgedrehtheit und Hibbeligkeit pulsierte durch ihren Körper. Um diesem auf irgendeine Art und Weise entgegenzuwirken, begann sie, unsinniges Zeug vor sich herzuplappern. „Ich vermute, alleine würde ich eine ganze Weile vor verschlossener Türe stehen. Vorausgesetzt ich wäre scharf darauf herauszufinden, wie lange ich brauche das Loch zu treffen – also so im Dunkeln. Aber ich würde wohl einfach Licht anmachen. Sag mal, habt ihr Männer dieses Problem etwa ständig? Ich meine, ihr könnt im Schlafzimmer ja nicht mal eben Licht anmachen, wenn ihr…“
Das Schloss klackte und unterbrach ihren peinlichen Worterguss, wofür sie dankbar war. Mehr als sie jemals zugeben würde.
Nikolaj wandte sich zu ihr um und sagte, nicht gänzlich ohne die Spur amüsierter Belustigung in der Stimme: „Madame, immer hereinspaziert.“
Mit dem Gedanken, dass es in diesem Moment doch recht günstig war, dass kein Licht brannte, tat Gwen einige Schritte in die, wie sie vermutete, Wohnung von Nikolaj. Der folgte ihr dicht auf den Versen und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
Zögerlich ging sie noch ein paar Längen weiter in den Raum hinein, ehe sie sich räusperte. „Äh, Nick? Wie wäre es jetzt mit ein wenig Licht für deinen Maulwurf? Sonst-“
Ein dumpfes Geräusch, gefolgt von ihrem eigenen Aufschrei, unterbrach sie. „Autsch! Verdammt!!“
Binnen einiger Sekunden flutete Licht den Raum.
Gwen kniff die Augen zusammen, um ihnen die plötzliche Helligkeit schonend näher zu bringen. War Licht tatsächlich schon immer so hell gewesen? Ihren schmerzenden Fuß reibend, betrachtete sie das soeben umgerannte Möbelstück, das sich als Couchtisch outete.
Nikolaj stand immer noch ein paar Meter entfernt von ihr, nahe der Tür, und sah sie halb musternd, halb grinsend an. „Was mach ich nur mit meinem Maulwurf?“
„Ihm ein neues Bein schenken …“, murmelte sie mit zusammengepressten Zähnen und auf einem Bein humpelnd.
Nikolaj zog seinen dunkelblauen Parker aus und warf ihn auf einen der Barhocker an der Küchentheke. Dann trat er vor sie und begann damit, sie aus ihrem Mantel zu schälen.
So nah vor ihr, in hellem Lichtschein stehend, konnte Gwen ihn zum ersten Mal klar und deutlich ins Auge fassen.
Er war groß, etwa um die 1,80, trug schwarze Jeans, ein graues Langarmshirt, das sich straff an ihn schmiegte und die Konturen eines gut gebauten Oberkörpers abzeichnete. Sein Gesicht hatte jegliches pubertäre Aussehen verloren, war durch und durch männlich. Markante Wangen- und Kieferknochen umrandeten sein hellhäutiges Gesicht. Hellbraune Bartstoppeln, die man wohl als Dreitagebart bezeichnen konnte, bedeckten die Haut über der Oberlippe, runter zum Kinn und den seitlichen Rand der Wangen bis hinauf zum Ohrenansatz. Sein Haar war fingerlang, an den Seiten etwas kürzer, und leuchtete in einer Mischung aus braun mit dunkelblonden Strähnen. Am Ansatz war es ungestüm und wild nach oben gestylt. Neben den vollen Lippen, den breiten Brauen und der geraden Nase, waren es vor allem seine Augen, die einen nicht losließen, regelrecht hypnotisierend wirkten. Das magische Blauschwarz der Iris, das Gwen jedoch dunkler vorkam als sie es in Erinnerung hatte, zog einen unweigerlich in seinen Bann. Zusammengefasst sah er schlicht umwerfend aus. Sexy. Markant. Geheimnisvoll. Eine geheimnisvolle Aura, erinnerte Gwen sich, hatte ihn bereits als Kind umgeben – allerdings nicht in jener ausgeprägten Form.
Sie stolperte, leicht überwältigt angesichts dieses Anblicks und seiner Wirkung auf sie, in Richtung Couch, ließ sich darauf fallen und schloss die Augen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so gefühlt hatte, was wohl daher kam, dass sie sich noch niemals so gefühlt hatte, wie in diesem Augenblick. Sie war erschöpft, konnte die Erschöpfung aber nicht in Gänze wahrnehmen, weil sie zugleich unter Strom stand. Es war vergleichbar mit einer gewaltigen Wassermasse, die gegen einen Damm drückte und von diesem am Durchbruch gehindert wurde. In ihrem Fall bestand der Damm aus freigesetztem Adrenalin, das immer noch in ihrem Blutkreislauf zirkulierte und die Erschöpfung von ihr fernhielt. All ihre Sinne waren geschärft, auf das Hier und Jetzt fokussiert, als ob damit zu rechnen wäre, dass jeden Moment etwas passieren könnte, auf das sie schnell reagieren musste. Sie war aufgedreht, hatte regelrecht Hummeln im Hintern und eine ziemlich lose Zunge. „Auf einem Trip sein“ – so würde es ein Drogenabhängiger diesen Zustand möglicherweise bezeichnen. Für sie war es jedoch einfach nur ungemütlich und zermürbend. Niemals würde sie dafür Geld bezahlen – niemals nicht!
Das Klirren von Glas war zu hören, dann das typische Brummen eines Kühlschranks und ein glucksendes Geräusch. Kurz darauf spürte Gwen, dass Nikolaj sich neben sie gesetzt hatte. Sie drehte den Kopf und fing seinen Blick auf.
„Hier, trink das.“ Er hielt ihr ein bauchiges Glas entgegen. „Das hilft gegen die Kälte und den Schock. Etwas mehr Farbe im Gesicht würde dir nicht schaden. Du bist fast so weiß, wie ich.“ Er lächelte.
Gwen nahm ihm das Glas ab und roch Nase kräuselnd daran. „Was ist das? Scotch?“
„Bourbon. Los, runter damit.“
Außerstande sich dieser Aufforderung zu widersetzen, kippte sie das großzügig gefüllte Glas in einem Zug hinunter, sodass sich die Flüssigkeit in einer warmen Wolke in ihr ergoss. Der Alkohol brachte ein deutliches Gefühl für die Grenzen ihres Körpers zurück, drückte ihr aber zugleich Tränen in die Augen.
„Die Freuden des Alkohols scheinen nicht die deinen zu sein.“ Nikolaj besah sie mit einem schiefen Grinsen. „Warum nur, habe ich so etwas geahnt? Sieh es einfach als gut potenzierte Medizin an. Gänzlich verschreibungsfrei.“
Das Gesicht immer noch verzogen, mühte Gwen sich ein Lächeln ab. „Verschreibungsfrei vielleicht, aber wohl nicht gänzlich ohne Nebenwirkungen, oder?“
Nikolaj strich ihr das Haar über die Schulter zurück. „Ist alles in Ordnung?“ Seine Stimme hatte einen unüberhörbar besorgten Tonfall inne. „Geht’s dir gut?“
Gwen fokussierte ihn, dann verschwamm ihr Blick ins Leere. Das war eine gute Frage – nein, eigentlich waren es zwei wirklich gute Fragen. War alles in Ordnung? Ging es ihr gut?
Diese Nacht war verrückt – auf unzählige Arten. Die Männer hatten sich an ihr vergehen wollen – hatten es jedoch nicht. Sie war heil davongekommen, war in Sicherheit. Die Männer hatten mit ihrem Leben bezahlt. Konnte man das als in Ordnung bezeichnen? Sie hatte keine Wunden oder Verletzungen davongetragen, fühlte sie aber dennoch wie niedergeprügelt und auseinandergenommen. Und gerade jetzt, in diesem Augenblick, befand sie sich eine Handbreit von Nick entfernt, hielt sich in dessen Wohnung auf. Bedeutete das, dass es ihr gut ging? Dass alles in Ordnung war?
Gwen wusste nicht, was sie antworten sollte, daher sprach sie die ungefilterten Bruchstücke einzelner Gedanken aus. „Das war viel heute Nacht, sehr viel auf einmal. Ich hatte eine anstrengende Schicht im Krankenhaus. Frau Clarkson von Zimmer 347 hat mal wieder gegen ihre Medikamente rebelliert. Hat die halbe Station damit aufgeweckt. Und auf dem Heimweg, diese Kerle, ich habe es geahnt, aber ich dachte, ich schiebe nur Paranoia. Er war so stark, ich konnte ihn nicht von mir schieben. Wenn du nicht gekommen wärst, dann … Und jetzt, du sitzt wirklich neben mir und ich bilde mir das nicht nur ein.“ Sie hielt kurz inne und suchte Nikolajs Blick. „Und die Männer, Nick. Sie sind tot. Du hast sie getötet.“
„Ich weiß.“ Mehr sagte er nicht, doch lag hinter diesen beiden Worten weit mehr verborgen. In diesem Moment konnte Gwen nicht greifen, was es war, das in ihm vorging. Außer, dass es weit mehr war, als er ihr offenbarte.
Schweigend, den Kopf voller Fragen und Stimmen, musterte sie den Mann, der ihr trotz der Trennung so vertraut vorkam, als würde allein seine Anwesenheit allen Zellen ihres Körpers ein Update verpassen und eine Verbindung herstellen, die sie beide im gleichen Takt ankommen ließ.
Zwar war Nikolaj schon immer jemand gewesen, der nicht freizügig mit seinen Gefühlen und Gedanken hausieren ging, sondern viel mit sich selbst ausmachte, doch hatte sie trotzdem oft zu sagen gewusst, was er gefühlt oder gedacht hatte. Oder mehr, dass er nicht gedacht und gefühlt hatte, was er nach außen hin preisgegeben hatte. Möglicherweise rührte dieses Wissen aus jener Verbindung und vielleicht konnte nicht nur sie, sondern auch Nikolaj es empfinden. Auch er schien oftmals gewusst zu haben, was sie gedacht hatte, noch ehe sie es laut ausgesprochen hatte.
Seit jenem Tag auf dem Spielplatz war es so gewesen. Von diesem Tag an, hatten sich ihre Leben miteinander verwoben und das ließ sich nicht mehr rückgängig machen, auch wenn ihre Eltern genau das versucht hatten. Sich darum bemüht hatten, das Band zwischen ihnen zu zerschneiden, indem sie Gwen von Nikolaj fernhielten – versuchten, sie von ihm fernzuhalten. Sie hatten ihre Freundschaft, ihre besondere Verbindung, nie verstanden. Sie hatten Angst vor ihm gehabt.
Da sie bei diesem Kontaktverbot nicht mitgespielt hatte, war sie durch einen Urlaub, der sich schließlich als getäuschter Umzug entpuppt hatte, aus der Stadt gebracht worden. Eine Entführung gewissermaßen. Arrangiert von den eigenen Eltern.
Gwen hatte keinerlei Möglichkeit gehabt, sich von Nikolaj zu verabschieden oder ihm zu sagen, wo sie hinfuhr. Sie hatte überhaupt keine Möglichkeiten gehabt. Damals war sie gerade Mal sechzehn gewesen und da ihre Eltern die überspitzte Überzeugung geteilt hatten, ihre Tochter in Sicherheit bringen zu müssen, war es ihre Meinung gewesen, die durchgesetzt worden war. Es hatte zu ihrem Besten sein sollen, das wusste Gwen. Doch das Beste hatte für jeden eine andere Bedeutung.
Als sie endlich volljährig geworden war, hatte sie ihre Sachen gepackt und war gegen die Bitten ihrer Eltern ausgezogen, um sich auf die Suche nach Nick zu machen. Sie war zurück in ihre einstige Heimatstadt gefahren, in der sie so viele gemeinsame Stunden mit Nick verbracht hatte. Doch weit und breit hatte sie kein Lebenszeichen von ihm finden können. Niemand hatte ihr eine Adresse oder irgendeinen Hinweis auf seinen Verbleib geben können. Niemand hatte von einem Jungen namens Nick oder Nikolaj gewusst. Die Tatsache, dass sie keinen Nachnamen hatte nennen können, war nicht sonderlich hilfreich gewesen.
Nicht, dass sie ihn niemals danach gefragt hatte. Nach seiner Familie, seinem Nachnamen, seinem Zuhause. Allein schon deshalb, weil ihre Eltern sie mit diesen Fragen bedrängt hatten, hatte sie es getan. Doch in dieser Hinsicht hatte Nikolaj eine klare und unüberwindbare Grenze gezogen. Anfangs hatte sie gedacht, sie würden sich noch zu wenig kennen und er würde es ihr nicht sagen, weil er ihr noch nicht genug vertraute. Dieser Gedanke war mit der Zeit jedoch immer unwahrscheinlicher geworden. Nick hatte schlicht und einfach nicht darüber sprechen wollen. Nur einmal hatte er sich dazu geäußert und gesagt, dass seine Familie speziell sei und dass eine Begegnung für beide Seiten nicht positiv wäre. Irgendwann hatte sie aufgehört ihm Fragen darüber zu stellen, wo er hinging, wenn er fort war oder was er tat, wenn er nicht bei ihr war. Er hätte ohnehin nicht geantwortet und darüber hinaus war es für sie nicht so wichtig gewesen. Als sie jedoch nach ihm gesucht und ihren Gegenübern zu beschreiben versucht hatte, nach wem sie suchte, hatte die Erkenntnis über ihre Unwissenheit sie mit einer Welle von Unverständnis und Enttäuschung überrollt.
Für einen kurzen Augenblick blitzte die Frage, ob ihre Eltern angesichts der jüngsten Ereignisse mit ihrer vermeintlichen Vorsicht Nikolaj gegenüber richtig gelegen hatten, in ihrem Geist auf. Bereits im nächsten Augenblick konnte sie nicht fassen, dass sie das auch nur gedacht hatte. Ja, Nikolaj hatte die beiden Männer getötet, aber nicht grundlos oder vorsätzlich. Er war ihr zu Hilfe gekommen. Er hatte es getan, um sie zu retten. Er hätte sie nicht töten müssen, aber er war kein kaltblütiger Mörder aus Spaß an der Tat. Die Kerle hätten nicht gezögert ihn mit dem Messer zu bearbeiten. Er hatte sich nur selbst verteidigt. Das hatte er doch?
Derart in Gedanken versunken hatte Gwen nicht mitbekommen, dass Nick nochmals aufgestanden und ihre Gläser neu aufgefüllt hatte. Erst jetzt, als er ihr ein weiteres volles Glas entgegenhielt, kam sie wieder im Hier und Jetzt an.
Auf ein aufmunterndes Nicken von Nikolaj hin, kippte sie auch dieses Glas in einem Zug hinunter, was ihre Speiseröhre mit einem ätzenden Hustenanfall quittierte.
Er klopfte ihr auf den Rücken, sodass sie wieder zu Atem kam. „Wie wär’s, wenn du dich etwas hinlegst? Schlaf würde dir sicherlich gut tun und mein Bett ist wirklich bequem.“
In Absicht rasch zu antworten folgte ein neuerlicher Hustenanfall. „Nein, ich will jetzt nicht schlafen. Wie sollte ich jetzt schlafen, Nick? Jetzt, wo du mir nichts, dir nichts, neben mir sitzt?“
Gwen atmete mehrmals durch, ehe sie leiser und weniger aufgebracht fortfuhr. „Es tut mir leid, Nick. Ich habe es nicht gewusst. Meine Eltern … ich konnte dir nichts sagen, ich konnte nicht-“
„Ich weiß“, unterbrach er sie sanft. „Ich habe rausbekommen, dass sie dich weggebracht haben. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie nicht wollten, dass du dich mit mir abgibst.“ Obwohl er in ruhigem Tonfall sprach, lag deutlich wahrnehmbarer Zorn unter seinen Worten verborgen, den er mit Mühe zu verstecken versuchte.
Gwen registrierte es nur am Rande. Sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt als dass sie ihn darauf ansprechen konnte. Stattdessen gab sie ihrem Drang sich zu erklären und Antworten zu erhalten nach und verfiel dabei in einen immer energischeren Tonfall. „Nie hätte ich gedacht, dass sie so etwas tun würden! Ich habe ihnen gesagt, dass sie blanken Irrsinn reden, dass du nicht gefährlich bist und mir nie etwas antun würdest. Ich hab ihnen gesagt, wie wichtig du mir bist, aber das ging alles glatt durch sie hindurch. Vor sechs Jahren bin ich zurück in unsere alte Straße, hab nach dir gesucht, hab überall herumgefragt, aber niemand konnte mir irgendetwas sagen. Ich konnte ihnen ja nicht mal genau erklären, wen ich suche, weil ich es ja genau genommen selbst nicht gewusst habe. Ich kenne weder deinen Nachnamen noch deine Familie oder weiß, wo du zu Hause bist – oder warst. Warum weiß ich das alles nicht, Nick?“ Sie beendete ihre Wörterflut mit einem verzweifelten und flehentlichen Tonfall, der ihre innere Aufgewühltheit widerspiegelte.
Nikolaj sah sie mit einem durchdringendem Blick an, ehe er zögernd, so, als würde er jedes Wort genau abwägen, erwiderte: „Ich war nicht mehr dort. Nachdem deine Eltern mit dir verschwunden sind und klar war, dass du nicht wiederkommst, habe auch ich der Stadt den Rücken zugekehrt. Was hätte mich noch dort halten sollen?“ Es war eine rhetorische Frage, die durch seinen ernsten und durchdringenden Tonfall beantwortet wurde.
Gwen sah ihn mit leicht geöffneten Lippen an.
„Mir war sehr wohl bewusst, dass du einiges von mir nicht gewusst hast, schließlich war ich derjenige, der dir absichtlich nichts davon erzählt hat. Alles, was“, er hielt kurz inne, „von Bedeutung war, das wusstest du.“
„Was soll das heißen? Absichtlich nichts davon erzählt? Alles erzählt, was von Bedeutung war? Wer deine Familie ist, wo du lebst, wer du bist – das ist nicht wichtig?!“ Sie rang um Gewalt über ihre Gedanken und ihre Stimme. Das hier war ein weiterer Tropfen, in dem ohnehin schon vollen und aufgewühlten Gewässer ihres Geistes.
Nikolaj taxierte sie abermals voller Intensität, dann sagte er bestimmend: „Ich glaube, du solltest dich jetzt wirklich hinlegen. Du brauchst Ruhe. Du brauchst-“
Gwen sprang energisch von der Couch auf, schrie ihn lauter als beabsichtigt und mit überspitztem Timbre in der Stimme an. „Ich will mich jetzt nicht hinlegen, Nick! Ich will eine Antwort! Ich will verstehen, warum meine Eltern das gemacht haben! Ich will, dass es niemals passiert ist! Ich will wissen, warum du etwas vor mir verheimlicht hast! Ich will Antworten! Ich will die Wahrheit!“ In ihr wirbelte ein Orkan aus Taubheit, Verwirrung und Hysterie, dessen sie nicht Herrin war.
Nikolaj griff sie am Arm, zog sie zurück aufs Sofa, an seine Brust. „Schschsch, alles ist gut, es ist gut. Beruhig dich. Ich werde alle Fragen beantworten, die du hast. Alle, auf die ich antworten kann. Das verspreche ich dir.“
Noch nicht besänftigt drückte sie sich ein Stück von ihm weg. „Du hast mir damals die Wahrheit vorenthalten. Warum?“
Als er antwortete, lag ein müder und zermürbter Ausdruck in Nikolajs Augen. „Ich weiß, dass ich das getan habe. Ich wollte nicht, dass sich die Wahrheit zwischen uns drängt. Denn das kann sie – so wie vieles andere. Deine Eltern sind das beste Beispiel. Aber von jetzt an werde ich ehrlich und offen dir gegenüber sein. Keine Geheimnisse mehr. Du hast mein Wort.“
Sie registrierte, dass etwas in ihm tobte und ließ ihre Stimme sanfter werden. „Und warum? Was ist jetzt anders als früher? Gibt es nun keinen Grund mehr die Wahrheit zu verbergen?“
„Nichts ist anders“, erwiderte Nikolaj hohl lächelnd und mit einem Hauch von Zynismus in der Stimme. „Nichts hat sich verändert. Wenn überhaupt, ist alles noch verworrener und schlimmer, als es früher der Fall gewesen ist. Aber …“, er sah ins Leere, als ob er dort etwas sehen könne, was sie nicht sah, „ich will dir nichts mehr verschweigen oder dich belügen. Die Wahrheit ist womöglich das Einzige, was ich dir geben kann. Alles andere liegt nicht in meinen Händen.“
Er richtete sich etwas auf, als er weitersprach. „Tu mir nur einen Gefallen. Denk gut darüber nach, ob du die Wahrheit wirklich wissen möchtest. Einmal ausgesprochen ist sie nicht mehr zu widerrufen oder zu vergessen.“
Gwen musterte ihn noch einen Augenblick lang nachdenklich, ehe sie sich erneut an seine Brust schmiegte und die Lider senkte. Wie hatte sie die Augen seither nur offenhalten können? So schwer, wie sie waren?
Als sich ihre Atmung beruhig und eingependelt hatte, hauchte er in ihr Ohr: „Ich werde dir alle Antworten geben, die du haben möchtest - aber das muss nicht jetzt sein.“
Gwen blieb ihm eine Erwiderung schuldig, grub sich enger in seine Umarmung, genoss den immer noch unwirklichen Moment seiner Nähe und das wundervolle Gefühl, das damit einherging.
Es dauerte nicht lange, bis sich das herrliche Gefühl in einen herrlichen Traum verlief, der ihrem Körper und Geist endlich die dringend ersehnte Pause verschaffte.
* * *
Nikolaj war sich darüber bewusst, was er in der Gasse getan hatte und dass mehr als in dem Moment, als er es getan hatte. In der Gasse war er nicht bei klarem Verstand gewesen, hatte sich vielmehr in einer Art Rauschzustand befunden, der ihn einfach hatte handeln lassen. Instinktiv. Egoistisch. Ohne Rücksicht auf Verluste. Er hatte neben sich gestanden, allerdings ohne sich bei seinem Handeln beobachten zu können. Er war einfach nur beiseitegetreten.
Ein Teil von ihm hasste all das. Diesen Rausch und das, was er dann tat. Was er heute getan hatte. Der andere Teil verachtete ihn, weil er sich davon derart mitgenommen fühlte, sich den Kopf darüber zerbrach. Diesem Teil war es schlichtweg egal, was er tat. Was er mit den beiden Männern getan hatte. Was er irgendwann mit irgendjemandem getan hatte oder tun würde.
Er wollte an dem ersten Teil in sich festhalten, auch wenn er wusste, dass es mehr Kraft und Anstrengung kostete. Und trotzdem. Die Vorstellung, jeder Gedanke an das, was die Kerle mit Gwen vorgehabt hatten, jeder Blick, den er auf ihr schlafendes Gesicht warf, ließ sämtliche Gewissensbisse zu einem lodernden Feuer des Hasses und Zorns werden, das ihn sich wünschen ließ, er hätte noch ganz andere Dinge mit den beiden Männern angestellt.
Er atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen und seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken. Er wollte nicht so denken, nicht so fühlen. Nicht in Gwens Nähe. Vor allem nicht in Gwens Nähe.
Sanft, ohne spürbaren Druck, strich Nikolaj ihr über den Kopf. Ihr hellbraunes Haar war immer noch leicht feucht und krause. Seine Finger wanderten wie von allein zu ihrem Gesicht, glitten über Stirn, Schläfe und Wange. Dort, wo seine Fingerspitzen sie berührten, begann seine Haut zu kribbeln und zu pulsieren, als hätte jeder Nerv einen eigenen Pulsschlag. Er wanderte langsam weiter nach unten. Am Ende ihres Hals, am Übergang zum Schlüsselbein angelangt, zog er die Hand hastig zurück, als hätte er sich verbrannt. Als würde er Gwen verbrennen, wenn er sie weiter berührte.
Er wollte sie nicht wecken, wollte nichts tun, das sie womöglich nicht wollte. Doch es kostete ihn viel Selbstbeherrschung sie nicht weiter zu berühren. Überall zu berühren.
Sein Blick blieb an ihren fein geschwungenen Lippen hängen, verfing sich darin wie eine Fliege in einem Spinnennetz. Sie mussten sich weich und warm anfühlen, mussten süß schmecken. Er wollte nur zu gern seinen Mund darauf pressen, doch er widerstand auch diesem Drang.
Stattdessen lehnte er sich zurück, zog ihren Körper enger an sich und schloss die Augen.
* * *
Es war Nacht. Milde Luft wogte im freien Raum.
Das Gras unter Gwens nackten Füßen fühlte sich angenehm weich an und hinterließ ein sanftes Kitzeln auf ihrer Haut. Neugierig drehte sie sich um die eigene Achse, um ihr Umfeld vollständig in Augenschein nehmen zu können. Sie befand sich auf einer großen Rasenfläche, die von unterschiedlich großen Bäumen umschlossen wurde. Obwohl Nacht herrschte, war es nicht vollkommen dunkel. Der Vollmond und die Sterne leuchteten am Himmelszelt und tauchten den Erdboden in feines, silberglänzendes Licht.
Plötzlich sah sie eine Person auf sich zukommen. Sie schien etwas in den Händen zu halten, denn ihre Silhouette machte um die Mitte herum einige Auswüchse, die eindeutig nicht zu ihrem Körper gehörten. Nach ein paar weiteren Schritten konnte Gwen erkennen, wer es war, der da auf sie zukam.
Es war Nick. In den Händen hielt er eine große Decke. Dicht vor ihr blieb er stehen und lächelte sie an. „Eine schöne Nacht um Sterne zu beobachten, meinst du nicht auch?“
Sie erwiderte sein Lächeln, freudig, aber auch eine Spur wehmütig. „Es ist so lange her, dass wir das gemacht haben.“
Nikolaj begann die Decke auszubreiten, sie half ihm dabei. Gemeinsam legten sie sich rücklings darauf und blickten gen Himmel. Die Sterne funkelten hell und kräftig. Der Mond war ein leuchtender Rund, der magisches Licht verströmte.
In Gwen stieg das Gefühl auf, sich unter einem riesigen Zelt zu befinden, welches sie sicher und geborgen umspannte.
Nach einer Weile legte sich ein wohliger Druck um ihre Hand. Als sie den Kopf wandte, traf sie Nicks Blick. Er sah sie mit einem warmen und liebevollen Ausdruck an. Das silberne Licht des Himmels spiegelte sich in seinen Augen und malte ein wunderschönes Farbenspiel in das Blau und Schwarz hinein.
Es war ein perfekter Moment, der nach Gwens Meinung für immer hätte andauern können. Alles, was von Bedeutung war, umgab sie. Freiheit. Geborgenheit. Stille. Frieden. Und Nick.