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Chapter Eight – Give Me One Good Reason
ОглавлениеIsa starrte gegen Nandos Schlafzimmertür und versuchte zu verarbeiten, was in den letzten Stunden geschehen war. Es hatte eine Schießerei stattgefunden, die Clubs hatten sich den Krieg erklärt, ihr Bruder war verletzt, Patrick und sie konnten unter diesen Umständen nicht zusammen sein – Isas gesamtes Leben war in sich zusammengefallen, mit nur einem Wimpernschlag alles vorbei und das durch die Entscheidungen anderer Menschen. Sie wusste, dass das alles wahr war, aber es fühlte sich total unwirklich an.
Sie hörte ein Scheppern von unten und erwachte aus ihrer Starre. Die Männer ihres Bruders waren nach wie vor hier, saßen auf der Couch und am Esstisch, manche schliefen, manche redeten zu laut. Das untere Stockwerk war wie ein Wartebereich im Krankenhaus. Isa würde sich später darum kümmern, zuerst musste sie mit Nando sprechen.
Leise öffnete sie die Tür und trat ins Zimmer. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, weshalb es im Raum taghell und der Verletzte deutlich zu sehen war. Die Decke war ihm bis zur Hüfte hinuntergerutscht, durch das weiße T-Shirt konnte Isa die Umrisse des dicken Verbands erkennen, der seinen Bauch bedeckte.
Nandos Augen waren geschlossen, sein Gesicht blass und schweißnass. Er atmete schwer und sah furchtbar klein und verletzlich aus, wie er dort in seinem Bett lag. Isas Herz krampfte schmerzvoll in ihrer Brust, und sie musste gewaltsam die Tränen zurückhalten.
So wütend sie auf ihn war, es war ihr schmerzlich bewusst, dass sie ihn heute fast verloren hätte. Und dann wären sie im Streit voneinander geschieden. Sie mussten das, was zwischen ihnen stand, sofort klären; und sie mussten von nun an offener und ehrlicher zueinander sein. Das war ihr klar geworden.
Isa holte den Stuhl von Carmens Schminktisch, stellte ihn neben das Bett und setzte sich. Tief durchatmend verschränkte sie die Finger im Schoß und betrachtete Nandos Gesicht. Seine Brauen schoben sich zusammen, und eine Falte bildete sich zwischen ihnen. Er war wach.
»Wie geht es dir?«, fragte Isa leise.
Er verzog die Lippen, als er ein Stück nach oben rutschte. Es war deutlich, dass ihn jede Bewegung schmerzte. »Alles gut«, raunte er.
»Ist es das.« Das Herz in Isas Brust wurde bleischwer und zog sie förmlich hinab. Sich aufrecht zu halten, kostete sie Unmengen an Kraft. Sie konnte die Gedanken, die sie befallen hatten, als sie in ihrem Zimmer gekauert, geweint und gebetet hatte, nicht wieder abschütteln. »Du bist wie unser Vater.«
Ihre Stimme war nur ein Flüstern, aber er hatte sie verstanden. Flatternd öffneten sich seine Lider, und in seinen Augen erkannte sie eine Mischung aus Schmerz, Wut und Unverständnis.
»Ich habe mich so lange geweigert, es zu erkennen, aber wir beide sind wie unsere Eltern.« Sie wandte den Blick ab, schaute auf ihre Hände und schüttelte den Kopf. »Ich habe immer geglaubt, du würdest besonnener handeln als Papá. Ich dachte, unsere Familie und das friedliche Leben hier wären dir das Wichtigste. Aber du bist genauso berechnend und stolz wie er.« Nando holte Luft, aber Isa ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Und ich nehme es hin. Ich verschließe die Augen vor dem, was du tust, und lebe in meiner eigenen rosafarbenen Blase aus Naivität. Genau wie Mamá.«
Diese Erkenntnis hatte Isa wie ein Schlag getroffen, und auch jetzt musste sie tief durchatmen, um den dicken Kloß zu vertreiben, der sich in ihrer Kehle formte.
»Was redest du denn da, mi pequeña? Hör mal, es tut mir leid, dass ich dich gestern im Flur derart angegangen bin, aber …«
»Darum geht es nicht. Und hör auf, mich so zu nennen, ich bin nicht deine Kleine.« Sie schnaubte. »Ich habe zugelassen, dass du mich wie ein Kind behandelst, mich hier einsperrst und mir meine Stimme nimmst.«
Er versuchte sich aufzusetzen, verzog jedoch stöhnend das Gesicht und sank wieder hinab. Danach beschränkte er sich darauf, Isa finster anzufunkeln. »Ich war immer gut zu dir, Isabella. Ich habe alles für dich getan, dich immer beschützt …«
»Übertrieben hast du, Fernando.« Isas Herz klopfte heftig. Sie massierte sich die Stirn und mahnte sich selbst zur Ruhe. »Es spielt keine Rolle, weshalb du es getan hast, doch du hast mich wie eine Prinzessin in den Turm gesperrt und von allem und jedem abgeschottet. Und ich bin mindestens genauso schuldig an meinem verpassten Leben, denn ich habe es geschehen lassen, keine Fragen gestellt und deine Befehle befolgt. Ich war immer die artige Schwester, die sich nicht einmischt. Dabei habe ich schon lange bemerkt, was aus dir geworden ist.« Die Verbitterung war ihr deutlich anzuhören. »Von heute an werde ich nicht mehr schweigen. Ich sehe keine Minute länger dabei zu, wie du uns alle ins Unglück stürzt.«
Nando kräuselte die Nase und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Hältst du das hier wirklich für den idealen Zeitpunkt, um diese Diskussion zu beginnen? Wie du vielleicht mitbekommen hast, wurde ich heute angeschossen. Und so eine Kugel tut scheißweh, das kann ich dir sagen.«
»Daran bist du selbst schuld, das weißt du.« Isa erwiderte seinen eisigen Blick und verschränkte krampfhaft ihre Finger miteinander, damit sie ihn nicht vor Zorn schüttelte. Ja, sie hielt den Zeitpunkt für ideal, denn endlich konnte er einmal nicht vor ihr fliehen. Er war gezwungen, ihr zuzuhören. »Ich bin nicht dumm, Nando, nur gutmütig. Glaubst du ernsthaft, ich bekomme nicht mit, was hier läuft? Du hast diesen Krieg gewollt – wieso solltest du sonst mit dem ADIOS-Patch an der Kutte zu einem Treffen mit den Advocates fahren? Du hattest deine Entscheidung bereits getroffen, ehe die Nachbarn Gelegenheit hatten, sich zu erklären.«
Er musterte sie überrascht. »Du hast keine Ahnung, wovon du redest.«
»Dann erklär es mir. Wieso holst du einen Krieg an den Ort, wo deine Familie lebt? Wieso bringst du alle in Gefahr, die du anscheinend beschützen willst? Wenn ich dich falsch eingeschätzt habe, dann sag mir doch, wie du wirklich bist.«
Schnaubend drehte er den Kopf von ihr weg. »Halt dich da raus, Isabella. Es geht dich nichts an.«
»Ach, nein? Wieso stecke ich dann mittendrin?« Sie nahm sein Kinn in die Finger, drehte sein Gesicht zu ihr und blickte ihm durchdringend in die Augen. »Ich wollte ein normales Leben führen und nichts mit all dem hier zu tun haben. Aber das geht nicht, und weißt du, wieso? Weil ich nicht ›normal‹ bin. Und ich werde es auch nie sein können. Denn ich bin, wer ich bin, und ich gehöre in die Welt, in die ich geboren wurde – es wird Zeit, dass wir beide das akzeptieren. Mein ganzes Leben lang hast du meine Entscheidungen getroffen, das nimmt hier und heute ein Ende. Das ist keine Bitte, sondern eine Tatsache, verstehst du? Also sag mir jetzt sofort, wieso du diesen Krieg begonnen hast.«
Isa war fest entschlossen, die Wahrheit aus ihrem Bruder herauszuquetschen. Sie war es so leid, im Dunkeln gelassen zu werden, nicht zu wissen, was direkt vor ihrer Nase vorging. Vor allem jetzt, da an der ganzen, schrecklichen Situation irgendetwas nicht stimmte und sie keine Ahnung hatte, welcher der beiden Männer, die sie liebte, ein falsches Spiel mit ihr spielte.
Sie wusste, dass Nando es von jeher gewöhnt war, eine Frau nicht mit einzubeziehen. Für Isa war es immer schon unverständlich gewesen, wie diese Männer ihre old Ladys behandelten: Wie Dekoobjekte, die schön neben ihnen aussahen, aber keine Stimme besaßen. Sie wurden nicht in das Leben des anderen mit einbezogen, konnten nicht für ihren Partner da sein, wie er es verdiente – und umgekehrt. Erst bei Patrick hatte Isa bemerkt, dass es auch anders ging.
Er hatte mit ihr geredet. Ihm war es wichtig, dass sie wusste, wie und wer er wirklich war. Und sie musste zugeben, dass sie immer zu ihm gestanden hätte. Denn ihre Liebe war größer als ihre Furcht.
Beim Gedanken an Patrick spürte sie einen gewaltigen Stich im Herzen. Sie hatte sich mit Leib und Seele auf diesen Mann eingelassen, und nun konnte sie nicht bei ihm sein, weil ihr Bruder es so bestimmt hatte. Seine Entscheidung, einen Krieg gegen den Mann zu führen, den sie liebte, machte sie so sauer, dass sie ihn am liebsten ohrfeigen wollte.
»Rede endlich!«, herrschte sie ihn an. »Nenn mir einen guten Grund, warum es nötig war, uns alle in Gefahr zu bringen und eine jahrelange Freundschaft aufzukündigen.« Sie legte sich eine Hand auf die Brust. »Ich hatte ebenfalls eine Freundin in Wolfville. Und nun soll ich sie hassen, weil du es so beschlossen hast?«
Er griff unvermittelt nach ihrem Handgelenk und zog sie mit erstaunlicher Kraft zu sich. So nah, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. »Sie waren nie unsere Freunde. Von Anfang an haben sie uns getäuscht, betrogen und ausgenommen. Ich bin nicht wie unser Vater, Isa, ich habe alles versucht, aber sie haben mich immer wieder herausgefordert.«
Isa löste sich sanft aus seinem Griff und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das war keine Antwort. Sag mir, was passiert ist und gib mir die Möglichkeit, mein eigenes Urteil zu fällen.«
Er schnaubte. »Das sind Clubangelegenheiten.«
»Ach, wenn mir Kugeln um die Ohren fliegen, sind das dann immer noch Clubangelegenheiten?« Sie erhob sich und krallte die Finger in die Lehne des Stuhls. »Wenn du nicht mit mir reden willst, fahr ich eben rüber und frage Emma. Vielleicht erfahre ich da die Wahrheit.«
Er langte nach ihr und stöhnte, weil er sich zu ruckartig bewegt hatte. »Du verlässt dieses Haus nicht, Isa!«
»Versuch mich aufzuhalten.« Sie wusste, dass sie sich kindisch verhielt, aber allmählich war sie verzweifelt. Irgendwie musste sie Nando zum Reden bringen.
»Setz dich bitte wieder hin.« Sein ergebener Tonfall und dass er plötzlich ungesund erschöpft aussah, veranlassten sie dazu, seiner Bitte nachzukommen. Sie hatte ihn nicht aufregen wollen, immerhin war er verletzt und brauchte Ruhe, dieses Gespräch konnte jedoch nicht warten.
»Es war nicht allein meine Entscheidung, dich nicht einzubeziehen. Du hast alles abgeblockt, was mit dem Club zu tun hatte.«
»Ich weiß. Aber ich habe erkannt, dass das falsch war.«
»Was ist passiert, dass du zu dieser Erkenntnis gelangt bist? Wieso bist du so verändert?«
Ja, sie wollte offener und ehrlicher sein. Aber für dieses Gespräch war die Zeit definitiv noch nicht gekommen. »Es geht jetzt nicht um mich, Nando.«
Er seufzte tief. Vielleicht gab er nicht Isa zuliebe auf, sondern weil er Schmerzen und eine Menge Medikamente geschluckt hatte und endlich seine Ruhe wollte, aber das war momentan egal. Hauptsache, er redete. »Ich möchte diesen Krieg nicht, glaub mir. Ich bin nicht wie Papá und wollte auch nie wie er werden. Wieso hätte ich den Advocates nach seinem Tod sonst vorgeschlagen, alles zu vergessen und in Frieden neu zu beginnen? Obwohl sie Papá auf dem Gewissen haben und wir allen Grund hätten, nach Vergeltung zu streben?«
Sie nickte. Carlos Ramirez war ein herzloser Prolet gewesen, der nur zum Spaß Streit angefangen und die Menschen, die er liebte, andauernd in Gefahr gebracht hatte. Er war der Grund, weshalb Isa solche Angst vor dieser Welt gehabt hatte. Vielleicht war es doch etwas zu hart, Nando mit ihm zu vergleichen.
»Ich hatte keine andere Wahl.« Er schloss die Augen und atmete tief durch. Er schwitzte jetzt weitaus mehr, also nahm Isa ein Taschentuch vom Nachttisch und tupfte ihm das Gesicht trocken.
»Was haben sie getan?«, hakte sie nach.
»Wir haben ihnen so oft den Arsch gerettet, haben ihre Kämpfe mitgeschlagen, sie unterstützt. Ich wollte, dass sie uns vertrauen, dass wir einen freundschaftlichen Umgang pflegen, aber es war eine Einbahnstraße. Diese Typen nehmen nur und geben niemals etwas zurück.« Er blickte zur Decke hoch, ordnete vermutlich seine Gedanken, bevor er fortfuhr. »Wir stellen ein Produkt her, drüben im Pahrump Valley. Das ist Advocates-Gebiet.«
»Drogen, ich weiß. Ich bin weder blind noch taub.«
Er schielte zu ihr herüber und knabberte an seiner Unterlippe. Anscheinend überraschte ihn tatsächlich, wie viel sie wusste. »Wir betrieben den Standort bereits, bevor sie sich dort breitgemacht haben. Sie wollten nicht abrücken und verlangten sogar Schutzgeld für Transporte durch ihr Gebiet, aber um des Friedens willen habe ich diese Frechheit geschluckt. Wir bezahlten sie, und sie schützten unsere Ware vor den Scavengers. Das ist eine Gang aus dem Death Valley, mit der wir hin und wieder … Meinungsverschiedenheiten haben.« Er räusperte sich, und Isa reichte ihm das Wasserglas, das auf dem Nachttisch stand.
»Unser Vater hätte dieses Geld wohl niemals bezahlt«, nahm sie an.
»Darauf kannst du wetten.« Er trank einen Schluck, gab ihr das Glas zurück und ließ seinen Kopf ins Kissen sinken. »Aber sie waren nicht nur so dreist, Geld zu verlangen, sie erhöhten den Betrag auch noch regelmäßig. Ihr letzter Vorschlag war so unverschämt hoch, dass ich mich geweigert habe zu bezahlen. Und das nach allem, was wir getan haben … Wir haben ihnen geholfen, die old Lady ihres VP zu befreien, haben dichtgehalten, als ein paar ihrer Leute ein Kartell in unser Gebiet gelockt haben, standen gegen die Kings immer an ihrer Seite, sodass es diese Arschlöcher jetzt auch auf uns abgesehen haben.«
Isa streichelte beruhigend mit einer Hand über seinen Arm. Es klang, als hätte er tatsächlich alles versucht, um ein freundschaftliches Verhältnis zu den Nachbarn aufzubauen. »Aber es kam nie etwas zurück?«
Er schnaubte. »Niemals. Ich sagte ihrem Pres, dass uns die Kings auf die Pelle rücken. Willst du wissen, was er geantwortet hat? ›Na, dann können wir ja froh sein, dass ihr als Puffer zwischen uns steht.‹«
Isa schüttelte den Kopf. »Was für ein Arschloch.«
Ihr Kommentar schien seine Zunge noch mehr zu lockern. Als das Schweigen erst gebrochen war, schoss die Wahrheit plötzlich ungehemmt aus Nando heraus. Vielleicht war er froh, sich einmal alles von der Seele reden zu können, ohne dabei vor seinen Männern der starke President sein zu müssen.
»Deswegen wollte ich diesen weißen Abschaum loswerden. Ich gebe es zu, ich wollte ihren Club hochgehen lassen, bevor sie uns zerstören, aber es hat nicht funktioniert. Und nachdem ich mich geweigert hatte, ihre beschissene Erhöhung zu bezahlen, steckten sie den Scavengers schließlich unsere Transportroute. Die Kerle haben unsere gesamte Lieferung geklaut, Isa. Wir reden hier von richtig viel Geld. So viel, dass es den Club und alle, die mit ihm verbunden sind, gewaltig in Schwierigkeiten bringt. Und das wissen sie. Die Advocates haben unsere Köpfe absichtlich in Schlingen gelegt und warten nur noch darauf, dass unsere Geschäftspartner sie zuziehen.« Er malte mit dem Kiefer. »Das Schlimmste daran ist: sie tun es mit einem breiten Lächeln im Gesicht.«
Isa schob die Brauen zusammen. Sie konnte sich schlichtweg nicht vorstellen, dass die Advocates die Bribones wegen ein bisschen Geld derart ins offene Messer laufen ließen. Patrick würde so etwas niemals zulassen. Und auch die Member der Advocates hatten Familien – wieso sollten sie aufgrund solcher Lappalien einen Krieg beginnen? Aber Nando log nicht, das konnte Isa ihm ansehen.
»Als wir uns trafen, gab ich ihnen zwei Optionen: Entweder sie machen rückgängig, was sie angerichtet haben, oder der Waffenstillstand ist Geschichte. Diese feigen weißen Wichser hatten aber nicht einmal die Eier, die Sache zuzugeben. Sie ritten nur darauf herum, was wir getan haben.« Er nahm ihre Hand und drückte ihre Finger. »Ich hatte keine andere Wahl, Isa. Seit Jahren versuchen sie mich wie eine Witzfigur aussehen zu lassen. Wenn ich mein Gesicht nicht verlieren wollte, durfte ich ihnen das nicht durchgehen lassen.«
Isa atmete tief durch und nickte. Überraschenderweise verstand sie ihn. Allerdings erinnerte sie sich in diesem Moment auch an Pats Worte: Er hat zuerst geschossen. »Wer hat die Schießerei begonnen?«
Als Nando sich wieder wegdrehen wollte, hielt sie sein Kinn fest und zwang ihn, sie anzusehen.
»Einer von ihnen zog eine Waffe«, sagte er. »Ich war nur schneller.«
Isa nickte einmal mehr. Er hatte zuerst geschossen. Sonst wäre er erschossen worden. Die Frage, wen er erwischt hatte, lag ihr auf der Zunge, aber sie traute sich nicht, nachzuhaken. Stattdessen reichte sie ihm erneut das Wasser.
Er trank einen kleinen Schluck, ehe er ihr das Glas zurückgab. Das Gespräch hatte ihn sichtlich angestrengt, er war noch blasser als zuvor.
»Du darfst nicht glauben, ich wäre wie Papá«, raunte er und bedachte sie mit einem flehentlichen Blick. Was sie von ihm hielt, schien ihm sehr viel wichtiger zu sein, als Isa je vermutet hätte. »Ich will nicht wie er sein.«
Liebevoll drückte sie den Arm ihres Bruders. »Das bist du nicht. Schlaf jetzt ein bisschen.« Sie zog die Decke bis zu seiner Brust und küsste ihn auf die Wange. »Ich mache dir etwas zu essen. Du musst wieder zu Kräften kommen.«
Er brummte etwas Undeutliches, sank sichtlich erleichtert in die Matratze, und direkt fielen ihm die Augen zu.
Isa betrachtete ihn, bis er ganz ruhig und tief atmete. Sie hatte sich nicht in ihm getäuscht. Nando war anders als ihr Vater. Er hatte versucht, die Angelegenheit zu klären, war jedoch gescheitert. Aber das bedeutete dann wohl, dass sie sich stattdessen in Patrick getäuscht hatte.
Isas Knie zitterten, als sie sich schließlich in Bewegung setzte und das Zimmer verließ. Sie verstand das alles einfach nicht. Da passte doch nach wie vor irgendetwas nicht zusammen.
Sie atmete tief durch, dann ging sie die Treppe hinunter und ins Wohnzimmer, wo die meisten der Bribones und einige Member der Supporterclubs herumhingen. Nachdem sie auf die Schwester ihres Presidents aufmerksam geworden waren, bedachten sie sie mit fragenden, vorsichtigen Blicken, und die Unterhaltungen verstummten.
Isa straffte die Schultern und ging zielstrebig auf Chino zu, der auf dem Sofa saß. Resolut schob sie seine Bikerstiefel vom Couchtisch. »Ihr seid hier nicht im Clubhaus, benehmt euch gefälligst wie anständige Menschen.«
»Tut mir leid.« Chino blickte entschuldigend zu ihr auf. »Wie geht’s dem Pres?«
»Er schläft. Und ihr solltet das auch tun.« Sie wedelte in Richtung Haustür. »Fahrt nach Hause zu euren Familien, beruhigt eure Frauen. Hier könnt ihr nichts ausrichten.«
Die Männer erhoben sich tatsächlich. Isa wunderte sich immer wieder, wieso sie ausgerechnet auf sie hörten, aber in diesem Moment war sie heilfroh darüber. Sie wollte jetzt einfach nur ihre Ruhe.
»Ruf an, wenn was ist«, sagte Chino.
»Wenn du etwas brauchst, melde dich«, bot auch Matador an und legte eine seiner fleischigen Hände auf ihre Schulter.
Isa nickte, blinzelte die Tränen weg und winkte weitere gut gemeinte Kommentare ab. Als die Männer im Flur verschwunden waren und sie die schweren Stiefel hintereinander nach draußen marschieren hören konnte, drehte sie sich um und ging in die Küche.
Sie wollte einen ordentlichen Eintopf kochen, den sie Nando vorsetzen konnte, wenn er aufwachte. Wahllos zog sie Gemüse aus dem Kühlschrank und ließ die Hälfte davon fallen. Sie hatte bis dahin gar nicht gemerkt, wie zittrig ihre Hände waren.
Als sie in die Hocke ging, um die Lebensmittel wieder aufzusammeln, kniete plötzlich Fredo neben ihr. Der VP legte das Gemüse auf die Arbeitsplatte, dann nahm er Isa bei den Schultern und blickte ihr eindringlich in die Augen.
»Ich bleibe, keine Widerrede. Lass dir helfen, Isa.«
Sie schüttelte den Kopf. Nicht weil sie seine Hilfe nicht annehmen wollte, sondern weil plötzlich ein riesiger Kloß in ihrem Hals saß und sie nicht mehr sprechen konnte.
»Dein Bruder wurde angeschossen. Heute ist kein Tag, an dem du stark sein musst.«
Seine sanften Worte in Verbindung mit dem liebevollen Blick rissen bei ihr alle Dämme ein. Sie schluchzte und spürte, wie dicke Tränen über ihre Wangen rollten. Sofort zog Fredo sie hoch in seine Arme und streichelte behutsam über ihren Rücken.
Dankbar ließ sie sich von ihm halten. »Was ist mit deiner Frau, deinem Sohn?«, flüsterte sie, weil sie ihrer Stimme nicht traute.
»Ich habe mit Maria telefoniert, und sie wäre schwer von mir enttäuscht, wenn ich dich und Fernando jetzt im Stich lassen würde.«
Isa wusste nicht wieso, aber seine Freundlichkeit löste eine weitere Flut der Tränen in ihr aus.
»Er wird wieder der Alte, Isa.« Fredo hielt sie fest und wiegte sie hin und her, wie er es vermutlich mit seinem Sohn ebenfalls tat, wenn jener weinte. »Wir kriegen das wieder hin, versprochen.«
»Blödsinn, das ist doch nur der Anfang.« Sie löste sich von ihm und wischte mit dem Ärmel über ihr tränennasses Gesicht, bevor sie ihn ansah. »Der Krieg hat erst begonnen. Wer wird der Nächste sein, der blutend nach Hause kommt? Oder gar nicht mehr?« Ihre Stimme brach.
In Fredos dunklen Augen erkannte sie, dass er sich diese Frage auch schon gestellt hatte. Er lehnte sich gegen die Küchenarbeitsplatte.
»Das muss aufhören«, flüsterte Isa und krallte sich an seine Kutte. »Könnt ihr nicht einen Weg finden, euch mit den Advocates auszusöhnen?«
»Wenn du einen kennst, sag Bescheid.« Fredo wirkte ebenso verzweifelt, wie Isa sich fühlte. Und das schmetterte den letzten Rest Hoffnung in ihr nieder. »Niemand von uns will das hier, glaub mir. Aber hab bitte keine Angst.« Er strich eine Strähne ihres schwarzen Haars über ihre Schulter und versuchte sich an einem Lächeln, das ihm nicht recht gelingen wollte. »Ich passe künftig besser auf Nando auf.«
Das beruhigte sie nicht, kein bisschen. Aber hier zu stehen, sich zu sorgen und zu heulen, brachte sie schließlich auch nicht weiter. Vielleicht fiel den Männern eine Lösung ein, wenn sie den Abend erst einmal verdaut hatten.
Isa schüttelte ihre zitternden Finger aus und atmete tief durch. »Danke, dass du hier bist, Fredo. Du bist ein wahrer Freund.«
»Du warst auch immer irgendwie meine kleine Schwester, Isa.« Er legte einen Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. »Ich würde alles für dich und Nando tun, das vergisst du leider viel zu oft.«
Isa musste sich auf die Lippen beißen, um nicht wieder in Tränen auszubrechen.
»Also was wolltest du gerade tun?« Er deutete auf das Gemüse. »Sieh mich als deinen Küchenknecht.«
Isa erwiderte sein verkrampftes Lächeln, und in der nächsten Stunde versuchten sie, sich gegenseitig abzulenken. Allerdings kehrten Isas Gedanken andauernd zu Patrick zurück, und auch zu dem armen Kerl, der heute sein Leben verloren hatte. Wer immer es war, er hatte vielleicht auch eine Schwester, eine Mutter oder sogar ein Kind zurückgelassen. Für seine Familie musste in dieser Nacht eine Welt untergegangen sein.
Es war so furchtbar sinnlos.