Читать книгу Bloomwell - ein recht beschaulicher Ort - Sandra Busch - Страница 5

Sonntag, 02. Juni

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Kreischend, so laut, dass es in den Ohren schmerzt, fährt der Zug an und verschwindet in der dunklen Nacht. Lediglich in Gesellschaft meiner beiden Koffer bleibe ich allein auf dem Bahnsteig zurück, denn ich bin der einzige Fahrgast, den die Bimmelbahn an dieser winzigen Station ausgespuckt hat. Eine Laterne flackert und verbreitet diffuses Licht, das die Gleise schwach beleuchtet. Die Szenerie hätte aus einem alten Gruselfilm stammen können, zumal in diesem Moment ein leichter Regen einsetzt, der meine Laune nicht unbedingt verbessert. Entgegen einer stillen Hoffnung holt mich niemand ab. Das ist nicht weiter verwunderlich, weil ich viel später als geplant eingetroffen bin. Einer der Züge hatte wegen einer technischen Panne Verspätung, weswegen ich den Anschluss verpasste und drei geschlagene Stunden auf den nächsten Milchkannenexpress warten musste, der Bloomwell anfährt. Okay, eine Blaskapelle habe ich ohnehin nicht erwartet. Die Enttäuschung über das fehlende Empfangskomitee hält sich daher in Grenzen.

Mit wenig Begeisterung mustere ich die Umgebung, die sich auf den Lichtkreis der Laterne beschränkt. Eine gusseiserne, von Feuchtigkeit glänzende Bank befindet sich direkt vor mir. Daneben stehen ein Abfalleimer und eine Tafel mit dem Fahrplan und den Ticketpreisen. Ein Fahrkartenautomat rundet das Serviceangebot des Bahnhofs ab.

Wenn der Rest des Dorfes genauso trostlos ist, dann gute Nacht, denke ich niedergeschlagen. Der Regen beginnt mir aus den Haaren zu tropfen und in den Mantelkragen zu laufen. Darum nehme ich die schweren Koffer auf und marschiere entschlossen voran. Eine Wegbeschreibung zu meinem kleinen Haus sowie den zugehörigen Schlüssel habe ich vorab von dem beflissenen Immobilienmakler erhalten. Daher bin ich frohen Mutes, den Weg durch das schlafende Dorf zu finden.

Schmale Gassen mit Kopfsteinpflaster führen mich in Bloomwells Dorfmitte, wo Laternen kaltes Licht spenden und gerade noch einen klobigen Brunnen beleuchten. Auf dem Brunnenrand sitzt ein Mann mit hochgeschlagenem Jackenkragen. Er raucht. Den Regen ignoriert er dabei mit bewundernswerter Gelassenheit. Im Dunkeln ist von seinem Gesicht nicht viel zu erkennen, nur das Ende der Zigarette glüht ab und an orangefarben auf, wenn er die Lungen mit Rauch füllt.

„Guten Abend, Mr. Culpepper, Sir“, grüßt er und tippt sich dabei mit zwei Fingern gegen die Stirn.

„Guten Abend“, entgegne ich mit einiger Verwunderung, weil der Fremde meinen Namen kennt.

„Sie sind spät dran.“

„In der Tat.“

„Sie müssen sich dort drüben rechts halten, Sir.“

„Besten Dank.“ Ich nicke dem Fremden zu und marschiere weiter.

Der Weg führt mich zurück in die Finsternis zwischen den Häusern, deren Vorgärten zum Dorfrand hin größer und üppiger werden. Es platscht, wird nass und kalt. Ich stoppe abrupt und hebe leise fluchend den Fuß aus einer Pfütze, in die ich unachtsam hineingestiefelt bin. Wasser tränkt meine Socke und den Hosenaufschlag, daher krümme ich unbehaglich die Zehen. Mittlerweile ziehen mir die schweren Koffer die Arme in die Länge. Trotzig beiße ich die Zähne zusammen und schleppe sie weiter. Es bleibt mir ohnehin nichts anderes übrig.

Die schmale Gasse verwandelt sich in einen nicht asphaltierten Ziegenpfad, der zwischen Rosenhecken entlangführt. Und jetzt geht der letzte Rest meiner Laune flöten, als ich mit den teuren Lederschuhen durch den Matsch stapfen muss. Zu allem Überfluss nimmt der Regen kräftig zu.

Blöder Mist!

Mühsam unterdrücke ich einen hässlichen Fluch.

Plötzlich ertönt ein tiefes Knurren. Bei dem unerwarteten Geräusch jagt mein Puls wie eine Rakete in die Höhe. Erschrocken bleibe ich mit wild klopfendem Herz stehen, während die Hände um die Koffergriffe herum schwitzig werden. Angestrengt versuche ich, in der Finsternis etwas zu erkennen.

Da!

Ein Lichtkegel!

„Guten Abend, Mr. Culpepper.“

Aus dem Regen und der Dunkelheit schält sich die Gestalt eines älteren Mannes mit Regenmantel und Gummistiefeln. In einer Hand hält er eine Taschenlampe, mit der anderen führt er an einer Leine einen verflixt großen Mischlingshund, der weiterhin knurrt. So wie der Hund aussieht, hat er von sämtlichen Rassen das Hässlichste und Gemeinste in sich vereint.

„Kein nettes Begrüßungswetter, nicht wahr? Aber Sie haben es ja gleich geschafft.“

„Das ist korrekt. Sofern ich mich auf dem richtigen Weg befinde.“ Ich drehe den Kopf zur Seite. „Das Licht blendet.“

„Ich bitte vielmals um Verzeihung.“ Der Strahl der Taschenlampe richtet sich auf den Boden. „Sie müssen bloß ein paar Yards dort runter. Das letzte Haus ist Ihres.“

„Vielen Dank, Mr. … Äh?“

„Fairchild. Oscar Fairchild. Mir gehört der Antiquitätenladen.“

„Also vielen Dank, Mr. Fairchild. Weiterhin einen schönen Abend.“ Ich drücke mich auf dem schmalen Weg an dem Hund vorbei, was mit den Koffern kein leichtes Unterfangen ist. Zumindest hat Fairchild nicht gelogen, denn in weniger als eine Minute erreiche ich einen wackligen Gartenzaun, der sich lediglich wegen der ungehindert wuchernden Vegetation aufrecht hält. Inmitten des verwilderten Gartens liegt ein Häuschen. Es scheint sich zu ducken, als ob es keine Aufmerksamkeit erregen will. Wie heißt es so schön im Volksmund? Der erste Eindruck ist ein bleibender?

„Holy moly!“

Ich stelle einen Koffer ab, um das Gartentor zu öffnen – und lasse den zweiten fallen, damit ich das Tor auffangen kann, das mir für eine wenig zärtliche Umarmung entgegenkippt.

„Marode“, knurre ich angefressen, lehne das Tor gegen einen Strauch und nehme das Gepäck erneut auf. Langhalmiges Gras und Blumenstängel streifen meine Hosenbeine, als ich dem Natursteinweg zum Haus folge. Wie mag der Garten erst bei Tag aussehen? Die Haustür befindet sich jedenfalls im festen Griff eines Rosenstocks, sodass ich mich ducken muss, um nach dem Öffnen eintreten zu können. Endlich im Trockenen! Zur Krönung des Tages passiert nichts, als ich den Lichtschalter betätige.

„Ruhig bleiben. Ruhig bleiben.“

Die Koffer stelle ich im Flur ab und tappe wie ein Zombie mit ausgestreckten Armen langsam voran. Prompt stolpere ich über eine Türschwelle und taumle in einen Raum hinein. Es handelt sich dabei offenbar um die Küche, denn ich berühre die Knöpfe eines Backofens und den Griff an einem Kühlschrank. Im nächsten Moment ramme ich mit der Hüfte eine Tischkante.

Autsch!

Das tut weh.

„Bloody hell!“

Meine suchenden Finger gleiten über die Tischplatte, ertasten eine Öllampe und ein Feuerzeug. Zwei Sekunden später habe ich Licht und atme erleichtert auf. Neben der Lampe entdecke ich eine Papiertüte mit Sandwiches, eine Thermoskanne, einen Schlüssel und eine handgeschriebene Nachricht, die ich mir sofort greife.

Sehr geehrter Mr. Culpepper.

Ich heiße Sie in Bloomwell herzlich willkommen.

Hoffentlich hatten Sie eine angenehme Anreise.

Leider sind die Sicherungen Ihres Häuschens defekt, sodass ich Ihnen die Öllampe für diesen Abend überlasse. Gleich morgen werde ich einen Elektriker aus Doddiscombsleigh mit der Reparatur beauftragen.

Anbei ein kleiner Imbiss, der hoffentlich Ihren Geschmack trifft, und die Schlüssel für das Büro.

Ergebenst,

Oliver Bones

Bürgermeister.

Kaputtes Gartentor, schadhafte Sicherungen. Hoffentlich stürzt das Dach nicht ein. Was für ein Start ...

Ich seufze, ziehe den nassen Mantel aus und hänge ihn über eine Stuhllehne. Dabei schaue ich mich um. Die Küche in lindgrünem Landhausstil ist zweckmäßig gehalten. Neugierig auf den Rest des Hauses schnappe ich mir die Öllampe und kehre in den Flur zurück. Ein winziges Gäste-WC liegt an dessen Ende und direkt gegenüber der Küche finde ich das Wohnzimmer. Helle Stellen an der geblümten Tapete deuten darauf hin, dass dort einst Bilder hingen. Ein fadenscheiniges Sofa und ein monströser Ohrensessel rahmen einen dreibeinigen Couchtisch ein. Zusammengeknüllte Laken in einer Ecke lassen die Vermutung zu, dass die Polster zum Schutz gegen Staub abgedeckt waren. Ein kleiner Röhrenfernseher steht auf einem Schränkchen und an einer Wand befindet sich ein zerkratztes Sideboard. Das Highlight des Raumes ist eine vergilbte Häkeldecke, die die Sofalehne schmückt, sofern man vom Perserimitatteppich absieht, der den Boden bedeckt und abgetreten und alt ist. Uralt.

„Reizend. Ganz vortrefflich sogar, wenn man auf Sperrmüllschick abfährt.“

Vielleicht kann von meiner Laune noch etwas gerettet werden, nachdem ich erst einmal heiß geduscht und trockene Kleidung angezogen habe. Womöglich würde die Welt namens Bloomwell danach gleich freundlicher wirken. Außerdem lockt mich der Imbiss, von dem Bones geschrieben hat.

Mit der Öllampe in der einen und dem schwersten Koffer in der anderen Hand erklimme ich die knarzende Treppe ins Obergeschoss. Viele Stufen sind es nicht, die einzelnen Etagen zeichnen sich nicht gerade durch besonders hohe Decken aus. Hier oben gibt es drei weitere Räume. Etwas, das gewiss ein Büro darstellen soll, aber die Ausmaße einer Abstellkammer hat, sowie ein Bad und ein Schlafzimmer. Meine Stimmung sinkt bei dem Anblick der Räume auf den absoluten Nullpunkt. Was wird mir hier eigentlich zugemutet? Das Bett unter der Dachschräge und ein weniger wuchtiger Sessel als im Wohnzimmer sind ebenfalls mit Laken abgedeckt. Ein beinahe schwarzer, klobiger Schrank nimmt eine komplette Zimmerseite ein. Es gibt ein Nachttischchen im gleichen Stil wie Bett und Schrank und eine dazu passende schmale Kommode neben der Tür zum Bad. Zwei leere Bierflaschen wurden zu illustren Kerzenständern umfunktioniert. An ihnen lehnt ein Streichholzbriefchen. Um die Ölfunzel beim Licht spenden zu unterstützen, entzünde ich die Kerzen und hoffe, die Örtlichkeit bei hellerer Beleuchtung besser genießen zu können. Leider verschönert das weiche Licht nicht die Optik des Schlafzimmers. Der Dielenboden gehört abgeschliffen. In das innenseitige Türblatt hat jemand zwei Nägel geschlagen, die als Kleiderhaken dienen. Die Tapete war einst beige oder blassrosa mit Blümchendruck. Heute wirkt sie, als hätten schmutzige Fliegenfüße ein Muster hinterlassen. Gardinen hängen keine, allerdings sind die Fensterläden geschlossen. Ich lasse sie zu, um zu vermeiden, dass heute Nacht noch eine Scheibe aus dem Rahmen fällt. Schwere Balken ziehen sich an der Decke entlang. Ich muss aufpassen, dass ich nicht mit dem Kopf dagegenschlage. Ein Eimer und zwei Schüsseln neben meinen Füßen fangen Regentropfen auf, die durch das Dach sickern. In diesem Haus sind nicht bloß die Sicherungen defekt. Wenigstens steht das Bett trocken.

Auf weitere Katastrophen gefasst, öffne ich die Tür zum Bad. Ein schlichtes Spiegelschränkchen hängt über einem Waschbecken, das einen langen Sprung aufweist. Die Toilette besitzt keine Brille, dafür lehnt eine nagelneue Verpackung neben ihr an der Wand, die genau das fehlende Utensil verspricht. Auch ein Paket Toilettenpapier hat man mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Eine Wanne ohne Duschvorhang steht auf verschnörkelten Füßen wie verschämt an der Seite. Darin hockt eine dicke Spinne.

„Holy moly!“

Sie ist gigantisch und fällt garantiert unter die Rubrik Tarantel. Ich kann mir eine Grimasse nicht verkneifen und stelle die Öllampe ab. Angeekelt schnappe ich das zappelnde Vieh an einem der langen Beine, renne mit ihr im Dunkeln die Treppe hinunter, öffne die Haustür und schleudere sie kurzerhand in den Regen hinaus.

Zurück im Schlafzimmer ziehe ich missmutig die Laken von den Möbeln und werfe sie in eine Ecke. Die Bettwäsche riecht muffig, wie ich wenig begeistert feststelle. Heute Nacht kann ich es leider nicht mehr ändern. Fakt ist, dass ich einen großen Teil des Ersparten opfern muss, wenn ich das Haus notdürftig einrichten will. Die Blöße, heulend und jammernd bei der alten Dienststelle angekrochen zu kommen, gebe ich mir auf keinen Fall. Die Genugtuung gönne ich meinem ehemaligen Vorgesetzten nicht. Oh nein, Sir. Mannhaft werde ich die Verbannung in den hintersten Winkel der Welt ertragen und das Beste daraus machen. Trotzdem muss ich allmählich hart schlucken. Dieses trostlose Haus, das trübe Wetter, die mangelnde Begrüßung … Es setzt mir durchaus ein wenig zu. Dabei kann ich froh sein, in Bloomwell ein günstiges Häuschen gefunden zu haben.

„Kneif die Arschbacken zusammen. Alles Lamentieren ändert nichts an der Gesamtsituation“, rede ich mir tapfer ein. Als Nächstes wuchte ich den Koffer auf den Sessel und öffne ihn, um Pyjama und Morgenmantel nebst Hausschuhen herauszusuchen. Gleich darauf schlüpfe ich aus den nassen Kleidern und hänge sie zum Trocknen an die Nägel in der Tür. Die feuchten Schuhe finden einen Platz unter dem verschlossenen Fenster. Mit der Kulturtasche und einem Handtuch unterm Arm betrete ich erneut das Bad. Mein Weg führt direkt in die Badewanne. Mit der Brause in der Hand setze ich mich wegen des fehlenden Vorhangs hinein. Nachdem ich den Wasserhahn aufgedreht habe, kommt es zu einem quietschenden Ereignis.

„Iiiiiiiiek!“

Lediglich kaltes Wasser strömt aus der Leitung. Sicherlich hängt das mit dem fehlenden Strom zusammen.

„Mein Name ist Glückspilz“, grummle ich resigniert, absolviere eine Katzenwäsche und trockne mich wenig später hastig ab. Danach schlüpfe ich in die bereitgelegte Nachtwäsche und fühle mich wieder halbwegs wie ein Mensch.

Und jetzt?

Jetzt werde ich den Imbiss verspeisen, anschließend schlafen gehen und darauf hoffen, dass der Albtraum nach diesem Abend vorbei ist.

Bloomwell - ein recht beschaulicher Ort

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