Читать книгу Bloomwell - ein recht beschaulicher Ort - Sandra Busch - Страница 6
Montag, 03. Juni
ОглавлениеDer frühe Vogel fängt den Wurm. Aber muss der verdammte Vogel beim Einkaufen einen derartigen Radau veranstalten, als würden zwei gegnerische Hooliganparteien aufeinanderstoßen? Es piepst und flötet seit 04:12 Uhr, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass ich in der letzten Nacht keinen erholsamen Schlaf gefunden habe. Der muffige Geruch des Bettzeugs verbietet es, den Kopf ins Kissen zu vergraben und der lärmenden Natur vor dem Fenster zu trotzen. Ich sehne mich nach frischer Bettwäsche und dem gleichmäßigen Rauschen des vorbeifließenden Verkehrs in Salisbury. Unausgeschlafen krieche ich aus den Federn.
In der Badewanne hockt die dicke große Spinne. Fassungslos starre ich sie an und könnte schwören, dass sie zurückstarrt. Okay, ich blinzle zuerst, damit hat sie das Augenduell gewonnen.
„Habe ich dich gestern nicht rausgesetzt?“
Schweigend krabbelt die Spinne aus der Wanne und an der Wand empor, um sich in einer Ecke der Zimmerdecke zu platzieren.
„Du solltest ausziehen, oder ich mache von meinem Schuh Gebrauch“, drohe ich. Zumindest kann ich eine weitere kalte Dusche nehmen, bevor ich mich rasiere und die Zähne putze. Danach montiere ich die neue Toilettenbrille und wundere mich überhaupt nicht, dass eine der Schrauben zur Befestigung fehlt. Na fein. Bis ich einen Ersatz besorgt habe, werde ich halt aufpassen müssen, dass ich nicht von der Keramik rutsche und einen peinlichen Unfall erleide.
Gekleidet in einen dunkelbraunen Anzug, mit weißem Hemd, dezent gemusterter Krawatte und blitzblank geputzten Schuhen steige ich später die Treppe hinab und trinke den letzten Schluck Tee aus der Thermoskanne. Der Kühlschrank ist leer, was wegen des fehlenden Stroms ein Segen ist.
In der Küche gibt es eine Tür mit Glaseinsätzen, die zum Garten hinausführt. Ein Blick ins Freie zeigt, dass die Botanik dort wie vermutet fröhlich vor sich hin wuchert. Schmetterlinge trudeln von Blüte zu Blüte und das muntere Vogelvolk hopst auf der Suche nach Leckerbissen durch das hohe Gras, das sicherlich seit ewigen Zeiten keinen Rasenmäher gesehen hat. Der Garten entlockt mir ein kleines Lächeln, da mich die wild-romantische Stimmung irgendwie anspricht. Außerdem entdecke ich einen Schuppen, der flüchtig betrachtet einen recht ordentlichen Eindruck macht.
Eine dritte Tür in der Küche führt zu einer Speisekammer, in der wie im Kühlschrank gähnende Leere herrscht. Regale säumen die Wände bis hin zu einer vorsintflutlichen Kartoffelkiste.
Außer der Küche, dem Gäste-WC und der Wohnstube gibt es im Erdgeschoss noch einen Hauswirtschaftsraum, in dem ein Besen und ein betagter Staubsauger lagern. Hoffentlich erfüllt das alte Ding seinen Zweck, denn nach Feierabend werde ich dem Haus dringend eine Grundreinigung verpassen müssen, damit ich es hier aushalte. Quasi als Bonus stehen hier eine Waschmaschine, ein Trockner sowie ein Wäscheständer.
Mehr als der Zustand des Hauses ärgert mich der fehlende Handyempfang und das Telefon im Wohnzimmer ist natürlich ebenfalls stromabhängig. Aus diesen Gründen verschiebt sich der typische Ich-bin-gut-angekommen-Anruf bei den Eltern. Nun will ich zunächst meinen hiesigen Arbeitsplatz inspizieren und hinterher nach Exeter fahren, um mich dem neuen Vorgesetzten vorzustellen.
Heute scheint die Sonne, in deren goldenem Schein sich mein Häuschen präsentiert. Es ist aus grauen Schieferplatten erbaut und mit Rosen auf der einen Seite sowie Efeu auf der anderen bewachsen. Ein riesiger Rhododendron klammert sich an eine Ecke und punktet durch seine lilafarbene Blütenpracht. Die Tür ist genau wie die Fensterrahmen leuchtend blau, obwohl die Farbe an etlichen Stellen abblättert. Dafür befindet sich ein prunkvoller löwenköpfiger Türklopfer an meiner Pforte. Very nice, nichtsdestotrotz wäre mir funktionierende Elektrik lieber.
Ich weiche einigen Pfützen aus, um die Schuhe nicht erneut zu beschmutzen, und wandere den Ziegenpfad zwischen den Heckenrosen entlang in Richtung Dorfmitte. Die Häuser auf beiden Seiten sind mit romantisch verwitterten Schindeln gedeckt, die Schieferplattenfassaden ähnlich wie bei meinem eigenen Heim mit Clematis und anderen Rankpflanzen bewachsen. Allerdings bestimmen hier getrimmte Rasenflächen, sorgfältig gepflegte Blumenrabatten und akkurat geschnittene Hecken das weitere Bild. Die Türen sind in knalligen Farben gehalten und die Türklopferfraktion hat in Bloomwell eindeutig Konjunktur.
„Einen schönen guten Morgen, Mr. Culpepper!“, ruft mir eine Frau zu, die Minze aus einem Kräuterbeet erntet. Sie winkt mir munter zu.
„Guten Morgen“, erwidere ich, ohne im Schritt innezuhalten. Eine getigerte Katze kommt mir entgegen, die mich völlig ignoriert.
„Guten Morgen, Mr. Culpepper.“ Zwei Jogger nicken mir im Vorbeilaufen freundlich zu.
„Guten Morgen.“ Unwillkürlich schaue ich an mir herab. Trage ich womöglich ein Schild mit meinem Namen um den Hals? Bereits gestern Abend wusste jeder, dem ich begegnet bin, wer ich war. Zumindest scheint jedermann gefällig zu sein. Dazu brennt die Sonne vom blauen Himmel und das Dörfchen wirkt recht beschaulich. Möglicherweise ist doch nicht alles so negativ, wie es am Vortag den Anschein hatte.
Die mikrobisch kleine Zweigstelle des Exeter Criminal Investigation Department liegt genau gegenüber dem Gemeindehaus. Nachdem ich den desolaten Zustand der von mir in einer Blitzaktion erworbenen Unterbringung erlebt habe, bin ich auch hinsichtlich des Büros auf einiges gefasst. Die Realität tritt mir wieder einmal lachend in den Arsch. Zunächst entdecke ich zu meiner größten Überraschung ein Polizeisiegel an der Tür, was darauf hinweist, dass die Zweigstelle ein Tatort ist. Da ich den Auftrag erhalten habe, heute hier den Dienst zu beginnen, entferne ich das Siegel. In der nächsten Sekunde starre ich fassungslos auf einen Schreibtisch, der mit losen Papieren übersät ist. Weitere Unterlagen liegen rings herum auf dem Boden, genau wie eine Brille, die halb unter einen Aktenschrank gerutscht ist und die ich vorsorglich aufhebe, bevor sie meinen Absatz kennenlernt. Behutsam klappe ich die Bügel zusammen und deponiere die Brille auf den halbhohen Schrank. Im Papierkorb hat jemand etwas verbrannt. Neugierig spähe ich hinein, finde aber lediglich Asche und einen winzigen Schnipsel, auf dem ich die Buchstaben chester entziffern kann. Ich lege den Fetzen in die Stiftablage auf dem Schreibtisch. Danach sammle ich die einzelnen Seiten vom Boden auf. Jedes Blatt ist mit einem Namen und einem Beruf beschriftet worden: Mrs. Pratcourt – Blumenhändlerin und Mr. Almont – Post und so weiter und so fort. Da ich damit nichts anfangen kann, lege ich die Notizen auf den Papierwust, der den Schreibtisch bedeckt.
Einige beinahe leere Aktenordner fristen in dem Schrank ihr Dasein und oben drauf stehen ein Wasserkocher, eine Holzkiste mit unterschiedlichen Teesorten und vier Tassen samt Unterteller der Wedgwood Edition Arris. Ich bin nicht etwa ein Fachmann für Porzellan, sondern ich weiß darüber Bescheid, weil meine Eltern diese Edition ebenfalls besitzen. Feines Knochenporzellan mit einem goldenen Wabenmuster – unverkennbar. Zuckertüten und kleine Milchportionen ergänzen die Teeküche. Platz für eine Sekretärin gibt es keinen, daher vermute ich, dass ich zukünftig meine Berichte selbst schreiben muss. Dafür finde ich einen Toilettenraum sowie drei leere Zellen, die den Eindruck erwecken, als wären sie noch nie genutzt worden.
Aus meiner Hosentasche hole ich ein Pfefferspray, das der Dienstherr für Notfälle zur Verfügung stellt, und lege es in eine Schreibtischschublade. Dabei bemerke ich, dass am Anrufbeantworter eine rote Lampe blinkt, die anzeigt, dass eine Nachricht aufgezeichnet wurde. Ich drückte den Knopf und höre die Mitteilung an einen lieben Charlie ab, dass er an Tante Grace denken möge, die nächste Woche ihren Geburtstag feiern möchte. Die Aufzeichnung ist zwei Monate alt. Ich lösche sie und sehe auf die Uhr. Ich sollte mich allmählich auf dem Weg nach Exeter machen. An einem Haken neben der Garderobe entdecke ich einen Autoschlüssel.
Wunderbar!
Der muss zu meinem Dienstwagen gehören. Mit dem Schlüssel verlasse ich das Büro und drücke draußen auf den Öffner. Links leuchten auf einem Parkplatz die Lichter eines älteren 3er BMW auf. Sämtliche Reifen sind platt und der schwarze Lack hat eine Wäsche dringend nötig.
„Holy moly!“
„Guten Morgen, Mr. Culpepper. Wie geht es Ihnen?“
Intensiver Schweißgeruch weht mir entgegen.
„Gar nicht schlecht“, antworte ich automatisch und drehe mich um. Ich bin von einem Herrn angesprochen worden, der sich durch einen Wohlstandsbauch, ergrautem Schnäuzer und Schweinsäuglein auszeichnet. Er trägt einen karierten Anzug mit Weste und Taschenuhr.
„Und Sie sind wer?“, frage ich übellaunig.
„Oliver Bones, der Bürgermeister. Ich habe Sie gestern erwartet.“
Ups!
„Tut mir leid, Sir. Mein Zug hatte Verspätung, darum kam ich erst zu fortgeschrittener Stunde in Bloomwell an. Das Dorf ist recht ... dunkel.“
„Das bedaure ich.“ Bones zieht eine geknickte Miene. „Ich habe bereits einen Elektriker beauftragt, sich des Problems mit den Sicherungen anzunehmen. Sie sollten in Kürze in der Welt der Elektrizität ankommen, Mr. Culpepper. Trotz der kleinen Pannen heiße ich Sie in Bloomwell herzlich willkommen. Ich hoffe, Sie bleiben länger als Ihre Vorgänger.“
„Was ist mit denen geschehen?“
„Sie sind vor Langeweile gestorben.“ Bones lacht. „Die meisten haben sich versetzen lassen. Dieses kleine Örtchen bietet nicht genügend Kriminalität, um für Ihresgleichen attraktiv zu sein.“
„Das ist an und für sich ja nicht übel.“
„Was die Fluktuation unserer Polizei angeht, ist es nicht schön.“
Es ist müßig, Bones zu erklären, dass ich strafversetzt worden bin. So bald käme ich daher wahrscheinlich nicht aus diesem Kaff am Ende der Welt weg.
„Vielen Dank für den Imbiss. Der war eine nette Überraschung.“ Wie das undichte Dach und die schäbige Einrichtung, wofür ich den Bürgermeister allerdings kaum verantwortlich machen kann.
„Gehe ich recht in der Annahme, dass dies mein Dienstfahrzeug ist?“ Ich deute auf den BMW.
„Nicht sehr einsatzfähig, nicht wahr? Sei’s drum. Ich gebe Larry von der Tankstelle Bescheid, dass er sich des Wagens annimmt. Larry Coleman. Für kleinere Touren steht Ihnen ein Fahrrad zur Verfügung. Haben Sie schon in Ihren Schuppen geschaut?“
„Noch nicht.“ Ich probiere mich an einem Lächeln. Soll das bedeuten, dass ich mit dem Rad nach Exeter fahren darf?
„Ich muss heute zu meinem Vorgesetzten.“
Bones schlägt mir kameradschaftlich auf die Schulter. „Überhaupt kein Problem. Sie nehmen meinen Wagen.“ Er deutet auf das Gemeindehaus, vor dem ein silberner Audi steht.
„Ich kann un…“
„Oh doch! Sie können. In Bloomwell helfen wir einander. Wir sind wie eine große Familie, Mr. Culpepper. Deswegen geht es hier dermaßen harmonisch zu.“
„Warum benötigen Sie in dieser Harmonie Polizei vor Ort?“
„Aus dem gleichen Grund, warum wir auch einen Arzt in unserem Nest haben. Die Menschen fühlen sich sicherer. Die Polizei hat hier gewissermaßen Tradition und die wünschen wir beizubehalten.“
Die Erklärung klingt merkwürdig.
„Kleine Streitigkeiten, hin und wieder eine Schlägerei im Wirtshaus, durchfahrende Zigeuner … So etwas kommt selbst in der friedlichsten Gegend vor und dann sind Sie gefragt.“
Das hört sich etwas plausibler an.
„Gibt es hier einen Mobilfunkempfang?“
„An den meisten Stellen nicht. Ab und an haben wir sogar Schwierigkeiten mit dem Internet, weiß der Teufel warum. Wenn ich das Chaos bedenke, als die wegen der Kabel die Straßen aufgerissen haben, bekomme ich nachträglich Hirnblutungen.“
Ich schmunzle. „Lieber nicht. Ich habe mir gerade das Büro angesehen.“
„Wir haben nichts verändert. Es ist genau so, wie Ihr Vorgänger, der arme Mr. Welsham, es hinterlassen hat. Seitdem hat niemand die Räumlichkeiten betreten.“
Ich runzle die Stirn. „Ich habe angenommen, dass es wenigstens eine Sekretärin gibt.“
„Nein, Mr. Culpepper. Notrufe gehen direkt im Exeter CID ein und werden auf ihr Handy weitergeleitet.“
„Ohne jeglichen Empfang?“
„In diesem Fall erhalten Sie jeweils eine Meldung auf die Anrufbeantworter bei Ihnen zu Hause und im Büro.“
Ich bin schockiert. „Ich hatte nicht die Absicht, den ganzen Tag über im Büro herumzuhocken.“
„Sie werden sich mit dem miesen Empfang arrangieren müssen“, erklärt Bones und zuppelt an seiner Weste herum. „Sofern Sie im Ort unterwegs sind und es Schwierigkeiten gibt, spüren wir Sie schnell auf. Und außerhalb funktioniert das Handy ja“, fügt er beinahe entschuldigend hinzu. „Sie sind sicherlich die neueste Technik und einige Unterstützung gewohnt.“
„In der Tat“, antworte ich resigniert. Ob meine alten Kollegen über die Versetzung lachen? Wahrscheinlich. Und zwar laut und anhaltend.
Bones räuspert sich, da ich in Gedanken versunken bin. Ich lächle etwas gequält.
„Warum gleich nannten Sie meinen Vorgänger den armen Mr. Welsham, Sir?“
Bones starrt mich einen Moment lang an. „Sie hören sehr aufmerksam zu, Mr. Culpepper“, sagt er schließlich anerkennend.
„Das ist mein Job. Wieso also bezeichneten Sie ihn als arm, warum erhielt Welsham einen familiären Anruf nicht und konnte vor seiner Abreise aus Bloomwell nicht wenigstens den Schreibtisch aufräumen? Und weshalb war das Büro versiegelt?“
„Weil Mr. Welsham Bloomwell in einem Sarg verlassen hat.“
Oh!
„Er ist tot?“
„Mausetot“, sagte Bones. „Hat sich aufgehängt, der bedauernswerte Mann.“ Der Bürgermeister schüttelt traurig den Kopf. „Wenn wir gewusst hätten, wie gelangweilt er war ...“
„Sie wollen mir ernsthaft erzählen, dass er vor Langeweile Suizid begangen hat?“ Mir ist nach ungläubigem Lachen zumute.
Bones nickt energisch. „Ja, so ist es. Womöglich war er depressiv. Das Büro befindet sich in Unordnung, sagten Sie?“
„In der Tat“, brumme ich.
„Das ist sehr bedauerlich. Eigentlich hätte es vor Ihrem Eintreffen aufgeräumt werden sollen. Ich frage mich, warum sich niemand darum gekümmert hat.“
Bones erscheint mir auf einmal ein bisschen gestresst.
„Okay, es gibt Schlimmeres. Es wirkt zwar wie ein Granatenwurfplatz, haut mich allerdings nicht um“, sage ich, um ihn zu beruhigen.
Bones lächelt mich liebenswürdig an. „Sofern Sie persönliche Gegenstände von Mr. Welsham gefunden haben, können Sie die mir geben. Ich leite sie an seine Familie weiter.“
„Bis auf eine Brille habe ich beim ersten Rundgang nichts entdeckt. Ist sein Tod untersucht worden?“ Ich kann es nicht lassen und hake nach.
„Selbstverständlich. Der DCI aus Exeter war persönlich hier und die Gerichtsmedizinerin schloss Fremdeinwirkung aus.“
„Der Detective Chief Inspector aus Exeter?“
„Exakt der Mann, den Sie nachher kennenlernen werden, Mr. Culpepper.“
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Von sämtlichen Seiten werde ich neugierig angestarrt, als ich durch das Großraumbüro auf die Tür meines Vorgesetzten zumarschiere. Bestimmt haben sämtliche Mitarbeiter dieser Dienststelle von meiner Versetzung gehört. Links wird leise getuschelt. Ein junger Mann mit grellroten Haaren und sehr blasser Haut hängt förmlich mit den Augen an mir. Da ich mir nichts vorzuwerfen habe, hebe ich trotzig das Kinn an und halte den Blick strikt nach vorn gerichtet. Die können mich alle mal. Endlich erreiche ich die angesteuerte Tür. Nach forschem Klopfen trete ich auf ein „Herein!“ in ein gemütliches, wenn auch schlichtes Büro.
„Detective Inspector Alastair Culpepper meldet sich zum Dienst, Sir.“
Ein drahtiger Mann mit Vollbart und einer flippigen apfelgrünen Brille erhebt sich mit einem ehrlichen Lächeln von seinem Platz hinter dem Schreibtisch.
„Willkommen in meinem Team, Mr. Culpepper. Ich bin Detective Chief Inspector Thomas Kilbourne.“
Ich ergreife die mir entgegengestreckte Hand und schüttle sie. Der Griff ist fest und warm.
„Setzen Sie sich. Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“
„Danke, gerne. Ohne Zucker, Sir.“
„Sahne?“
„Einen Schluck.“ Ich beobachte, wie DCI Kilbourne Tee einschenkt und nehme die Tasse mit einem dankbaren Nicken entgegen.
„Sind Sie gut angekommen?“
„Mit einiger Verspätung und im Regen. Aber ich habe mein Heim ohne Umwege gefunden.“
„Es regnet dauernd. Dieses Jahr ist es besonders schlimm.“ Kilbourne nimmt einen grünen Hefter auf und betrachtet das Deckblatt. „Laut Akte haben Sie eine steile Karriere hinter sich. Da wundert es mich, dass es Sie ausgerechnet in einen Ort wie Bloomwell zieht, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen.“
„Bedauerlicherweise hatte ich bei der Wahl meines Arbeitsplatzes keine Entscheidungsfreiheit“, entgegne ich mit einem Pokerface. „Ich nehme an, Ihnen sind die näheren Umstände bekannt.“
„Sie haben mit Ihrem jüngsten Erfolg Ihren Vorgesetzten ordentlich blamiert, der sich auf einer völlig falschen Spur befand und Ihre Einwendungen ignoriert hat. Den Serienkiller haben Sie auf eigene Faust erwischt. Daraufhin hat man Sie zur Belohnung befördert und zur Strafe versetzt, weil hier eine Stelle freigeworden ist. Ist das soweit korrekt?“
„Besser hätte ich es nicht zusammenfassen können, Sir.“
„Glauben Sie nicht, dass Sie vom Regen in die Traufe geraten sind. Ich schätze Mitarbeiter, die des Denkens fähig sind, und scheue mich nicht zuzugeben, wenn ich mich auf dem Holzweg befinde. Immerhin haben wir ein gemeinsames Ziel: Recht und Ordnung.“
„Das klingt perfekt, Sir.“
Kilbourne seufzt. „Ich schätze offene und ehrliche Worte, Mr. Culpepper. Wenn Sie das im Auge behalten, werden wir fantastisch zusammenarbeiten. Ich bedaure es sehr, dass Sie mit Ihren Fähigkeiten ausgerechnet in Bloomwell gelandet sind. Ihre Vorgänger sind regelrecht schreiend aus diesem Ort geflohen.“ Er seufzt erneut. „Bis auf Mr. Welsham. Der konnte lediglich in einem Sarg entkommen. Ich hoffe, Sie haben nicht Ähnliches vor.“
„Einen derart dramatischen Abschied aus Bloomwell habe ich nicht geplant, obwohl ich gestehen muss, dass ich mich tatsächlich nach Herausforderungen sehne. Sollten diese in Bloomwell nicht zu finden sein, würde ich durchaus eine Bewerbung auf einen anderen Dienstposten in Betracht ziehen.“ Damit habe ich meine Aversion gegen Langeweile doch in hübsche Worte verpackt, oder nicht? Kilbourne jedenfalls schmunzelt.
„Ihre Herausforderung wird in den katastrophalen Kommunikationsmöglichkeiten liegen. Hier herrscht mittlerweile die Meinung, dass Bloomwell verflucht ist. Der Handyempfang ist grauenvoll und gelegentlich spielen selbst die Festnetzverbindung und das Internet verrückt. Die Techniker sind unfähig, das Problem zu beheben. Die einen sagen, Bloomwell liegt innerhalb eines Funklochs, die anderen behaupten dagegen, es befindet sich außerhalb der Reichweite einer Basisstation. Den wahren Grund werden wir womöglich niemals herausfinden. Und da wir gerade über Kommunikation reden ... Sie haben hier in Exeter natürlich einen Mitarbeiter zur Verfügung, der Ihnen für Recherchen und alle anderen Dinge vorrangig unterstellt ist. Sofern Sie nichts zu ermitteln haben, wird Mr. Middlefort von uns beschäftigt. Ich werde Sie einander vorstellen.“
„Gerne, Sir.“
Kilbourne erhebt sich und geht zur Tür, die er öffnet. „Mr. Middlefort, bitte.“
Sein Aufruf klingt wie der in einer Arztpraxis. Ich verkneife mir ein Grinsen. In der nächsten Sekunde spaziert der junge Mann mit den grellroten Haaren herein, der bereits im Großraumbüro hervorgestochen ist. Er ist von schlaksiger Figur, die Frisur lässt sich offenbar nicht bändigen und er hat babyblaue Augen, die sich von seinem blassen, sommersprossigen Teint abheben.
„Darf ich vorstellen, Mr. Culpepper? DS George Middlefort. Detective Sergeant, Ihr zukünftiger Vorgesetzter, Detective Inspector Alastair Culpepper.“
Ich stehe auf und reiche Middlefort die Hand.
„Es freut mich, Sie kennenzulernen, Sir.“ Middlefort schüttelt mir dermaßen begeistert die Hand, dass er sie mir beinahe ausreißt. Sein Blick wirkt ehrlich und offen, das Lächeln ist nicht aufgesetzt. Sofort ist er mir sympathisch.
„Ganz meinerseits“, erwidere ich.
„Mein Platz ist hier in Exeter, allerdings werde ich unverzüglich springen, sobald Sie pfeifen.“ Damit wiederholt er Kilbournes vorherige Aussage auf eine saloppere Weise. „Sofern Sie etwas benötigen, sei es ein Laborbericht, Recherche, Arbeitsmaterial oder einen Donut ... Ich eile!“
„Das hört sich prima an. Insbesondere was den Donut angeht.“
„Warum nehmen Sie nicht zusammen einen Lunch ein?“, fragt uns DCI Kilbourne. „Dann können Sie sich in Ruhe beschnuppern. Middlefort kann Ihnen offenstehende Fragen beantworten. Für alles andere stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung.“
„Das ist sehr freundlich, Sir.“
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Nachdem sich Detective Sergeant George Middlefort bei seinen Kollegen mit einem „Bin zum pop out!“ abgemeldet hat, was so viel bedeutet, dass er sich zum Lunch begibt, sitze ich ihm fünfzehn Minuten später in einer Fast-Food-Bar gegenüber. Middlefort hat sich einen Smoothie gekauft sowie ein Thunfischsandwich, das sich genau wie mein Eiersandwich in einer Hartplastikverpackung befindet. Dazu habe ich mir ein Mineralwasser genommen. Unser erstes gemeinsames Essen findet damit wenig spektakulär statt.
„Was können Sie mir über Bloomwell berichten, Mr. Middlefort?“, frage ich, bevor ich herzhaft in mein Sandwich beiße.
„Nennen Sie mich ruhig George, Sir. Bloomwell ist ganz hübsch, aber der langweiligste Ort auf Erden. Die größten Verbrechen, die dort stattfinden, sind Falschparken, eine Schlägerei im Pub oder Wilderei. Ab und an hat es in den vergangenen Jahren einen tödlichen Unfall gegeben.“
Letzteres sagt George etwas zögerlich, deshalb hake ich nach.
„Unfälle?“
Er zuckt mit den Schultern. „DS Welsham hat sich kurz vor seinem Tod nach den Unfällen erkundigt.“
„Mit welcher Angelegenheit war er zuletzt beschäftigt?“, will ich wissen und denke dabei an das Papierchaos in meinem neuen Büro.
„An keiner aktuellen, soweit ich weiß.“ George lächelt mich entschuldigend an. „Bloomwell gibt kaum etwas Kriminelles her. Eine Schlägerei zwischen zwei Einwohnern war seine letzte Aufgabe. Er sperrte beide über Nacht in jeweils eine Zelle und hielt das für eine ausreichende Strafe. Am nächsten Morgen hatten sie sich beruhigt und daher ließ er sie gehen.“
„Um wen ging es dabei?“
„Die Namen müsste ich Ihnen heraussuchen, Sir.“
Ich winke ab. „Wenn der Vorgang abgeschlossen ist, halte ich das für unnötig.“
„Passen Sie nur gut auf sich auf“, murmelt George.
„Muss ich das?“
„Na ja.“ Er druckst ein bisschen verlegen herum. „DS Welsham hat sich erhängt und sein Vorgänger stürzte betrunken von einer Brücke, wobei er sich das Genick gebrochen hat.“
„Oh!“ Zunächst bin ich überrascht, denn ich bin von lediglich einem tödlichen Verlust unter meinen Vorgängern ausgegangen. Doch gleich darauf zucke ich mit den Schultern. Alkohol ist in Großbritannien ein ziemliches Problem. Auch Polizisten sind davor nicht gefeit.
„Ich neige weder zur Trunkenheit noch zur Langeweile.“
„Warum sind Sie hier, Sir? Sie haben in Salisbury ausgezeichnete Arbeit geleistet.“ Georges Wangen laufen krebsrot an. „Habe ich zumindest munkeln hören.“
„Ich bin unbequem geworden“, antworte ich. „Meinem Vorgesetzten gefiel es nicht, als Versager entlarvt zu werden.“
„Und dafür wurden Sie befördert?“ Mit großen Augen mustert er mich.
„Den Erfolg konnte man mir nicht abstreiten.“ Wütend denke ich an die Arschlöcher in der alten Dienststelle zurück. „Ich erwarte, dass wir beide als Team agieren. Sollten Sie mit meinen Entscheidungen nicht konform gehen, dürfen Sie mir Ihre eigenen Überlegungen gerne erläutern. Ich bin wegen meines Ranges kein besserer Mensch, verstanden?“ Ich reiche George die Hand. „Auf gute Zusammenarbeit.“
Breit lächelnd schlägt er ein und ich weiß, dass ich einen Freund gefunden habe.
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Ich parke das Auto des Bürgermeisters auf dessen Parkplatz und überreiche seiner Sekretärin mit einigen Worten des Dankes die Schlüssel. Insgeheim wurmt es mich, dass ich keine Hilfe vor Ort habe. Natürlich begreife ich, dass es Schwachsinn wäre, wenn sich zwei Detektives in Bloomwell die Eier schaukeln, trotzdem wäre es schön gewesen, wenn ich mich ab und an mit George Middlefort hätte austauschen können.
Meine Eltern habe ich von Exeter aus angerufen und ihnen von der miserablen Verbindung in Bloomwell berichtet. Sie sollen sich keine Sorgen machen, wenn sie mich kontaktieren wollen und ständig nicht erreichen. Ein Blick auf das Handy zeigt mir, dass der Empfang eben zumindest einen Balken aufweist.
Hurra!
Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert, dem Zeitalter der Technik und Industrialisierung! Ob die Bloomweller wissen, dass längst Menschen auf dem Mond waren?
Ein wenig ratlos stehe ich nun in meinem Büro und frage mich, was ich hier eigentlich soll. Nachdem ich mir eine Tasse Tee gekocht habe, setze ich mich an den Schreibtisch, schiebe sämtliche Papiere darauf zusammen und staple sie auf einen Haufen. Danach fahre ich den Computer hoch, logge mich in meinen Polizeiaccount ein und prüfe, ob irgendwelche Nachrichten eingegangen sind.
Negativ.
Also nehme ich das oberste Blatt von dem Papierstapel und überfliege es, um das Chaos zunächst zu sortieren. Vielleicht finde ich auf diese Weise heraus, woran Charlie Welsham gearbeitet hat.
Kurz nach Feierabend habe ich es geschafft, aus einem Stapel fünf weitere zu bilden.
Nummer Eins ist der kleinste Stoß Papier. Er enthält handschriftliche Vermerke, die ich nicht lesen kann. Welsham muss eine Schnellschrift wie Stenographie verwendet haben. Erschwerend kommt hinzu, dass die Notizen wie dahingeschmiert wirken. Es ist fraglich, ob das jemals jemand entziffern kann.
Der zweite Stapel enthält eine Auflistung. Pro Blatt wurde der Name eines Dorfbewohners nebst dessen Beruf aufgeführt. Auf einigen wenigen Seiten hat Welsham zusätzlich notiert, wo sich die Leute an bestimmten Tagen und Uhrzeiten aufgehalten haben. Ein paar der Daten liegen einige Jahre zurück und scheinen sich um ein Dorffest zu drehen.
Zettelberg Nummer Drei beinhaltet Ausdrucke von Zeitungsnachrichten, die Bloomwell betreffen und im Papierberg Nummer Vier ihre Fortsetzung finden, wobei sich diese Artikel mit Unfällen rings um Bloomwell befassen.
Der letzte Stapel besteht bloß aus drei Seiten, auf denen Welsham begonnen hatte, die Verwandtschaftsbeziehungen, Arbeitsverhältnisse und Freundschaften der Dorfbewohner aufzuzeichnen.
Verwirrt lehne ich mich in meinem Stuhl zurück und betrachte die vielen Notizen. Wieso hat sich Welsham damit beschäftigt? War er irgendetwas auf der Spur gewesen? Oder handelte es sich hierbei wirklich um eine Beschäftigungsmaßnahme aus purer Langeweile? Löste man in einer derartigen Situation nicht eher Kreuzworträtsel oder Sudokus, bevor man dermaßen von seinem Dasein angeödet ist, dass man freiwillig aus dem Leben scheidet? Bringen sich Polizisten um, wenn es keine Kriminellen gibt? Irgendetwas ist faul, das sagt mir mein Bauchgefühl.
Ich suche mir einen leeren Aktenordner sowie einige Trennblätter und hefte die Papierstapel sorgfältig ab. Dabei kommt mir der Gedanke, dass Welsham womöglich weiteres Material auf seinem Account gespeichert hat. Wenn ich es ganz frech probiere ... Ich tippe den Namen meines Vorgängers in das Anmeldefeld und werde zur Passworteingabe aufgefordert. Wie unter einem Zwang beginne ich auf dem Schreibtisch herumzusuchen, öffne die Schubladen und sehe mich im Büro um. Die meisten Kollegen schreiben ihre Passwörter auf, was eigentlich untersagt ist, und verstecken die kleinen Zettelchen. Mein Blick bleibt am Drucker hängen und einer Eingebung folgend klappe ich das Fach für den Einzelblatteinzug auf. Dort klebt ein gelbes Post-it mit der Aufschrift Kings ES. Sofort fällt mir das verfilmte Buch des Schriftstellers Stephen King ein, in dem das Böse in Gestalt eines Clowns in dem Städtchen Derry umgeht. Wie versteinert sitze ich da, starre den Klebezettel an und wittere es förmlich: Ich bin tatsächlich auf einen Fall gestoßen.
Den Zettel ziehe ich ab, klappe das Druckerfach zu und klebe die Haftnotiz in den Aktenordner. Erst danach tippe ich mit vor Aufregung leicht zitternden Fingern das Passwort in die EDV. Zu meiner größten Enttäuschung erhalte ich die Meldung, dass der Account gelöscht wurde. Okay, schließlich ist Welsham tot. Trotzdem ist das merkwürdig, weil die Verwaltungsmühlen normalerweise recht langsam mahlen. Stutzig geworden greife ich zum Telefon.
„Detective Sergeant Middlefort, was kann ich für Sie tun?“
„Culpepper hier. George, ich habe eine Frage zu Welshams Account. Wissen Sie, warum der bereits gelöscht wurde?“
„Aber ja. Wir benötigten seine Zugangslizenz, damit wir für Sie einen Account anlegen konnten.“
„Was ist mit meiner Lizenz aus Salisbury?“
„Die ist dort verblieben. Das ist ein haushaltsrechtliches Ding, Sir. Jeder Distrikt verwaltet und kauft seine Lizenzen selbst. Ihr Account wurde von einer auf die andere verschoben, damit Ihre Daten erhalten bleiben. Doch dafür musste die von DS Welsham gelöscht werden.“
Haushaltsrecht! Behördlicher Finanzkram! Teufel, weiche von mir!
„Okay, das habe ich begriffen. Danke, George. Ich mache jetzt Feierabend.“
„In Ordnung, Sir. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.“
„Ihnen auch, bye.“ Ich lege verärgert auf. Nicht wegen George Middlefort, sondern wegen der blöden Verwaltungsvorgänge. Ich nehme den Aktenordner in die Arme, als müsste ich die unruhigen Geheimnisse, die er birgt, in den Schlaf wiegen. Gleich darauf lache ich amüsiert. Kaum habe ich einen neuen Dienstposten angetreten, vermute ich, dass es ein Verbrechen gegeben haben muss. Wegen eines x-beliebigen Passworts, das mein Vorgänger wahrscheinlich aus dem Grund ausgewählt hat, dass das Buch, der Film oder beides bei ihm Anklang gefunden hat. Lesen ist übrigens gleichfalls eine Option, wenn man sich langweilt. Kopfschüttelnd stelle ich den Ordner zu den wenigen anderen in den Aktenschrank und wasche meine Teetasse ab.
Feierabend!
Daheim würde ich genug zu tun haben.
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Gelächter und Wortfetzen dringen aus dem Haus, als ich durch die Lücke im Zaun trete, wo sich bis gestern Abend ein Gartentor befunden hat. Die Haustür steht sperrangelweit offen und der dort wuchernde Rosenstock ist soweit beschnitten worden, dass man den Flur betreten kann, ohne sich an den Dornen aufzuspießen.
„Oh! Da ist er!“, zwitschert eine hohe Altfrauenstimme. Der Geruch nach Gebackenem dringt in meine Nase. Prompt knurrt der Magen.
„Hallo, Mr. Culpepper!“, tönt es mir dreistimmig entgegen, gefolgt von einem: „Willkommen in Bloomwell!“
Bevor ich reagieren kann, werde ich an die Hand genommen und in die Küche gezogen.
„Wie kommen Sie hier herein?“, fauche ich drei sich sehr ähnelnden Ladies mit weißen Ringellöckchen und Blümchenkleidern an und schüttle meine Hand frei.
„Na, der Schlüssel lag unter dem Blumentopf.“ Eine der Damen deutet auf einen Zweitschlüssel, der auf dem Küchentisch liegt. „Wir haben geputzt und Ihnen eine Gemüsetarte gebacken. Sie sollen sich schließlich wohlfühlen. Der Elektriker war vorhin da. Sehen Sie?“
Die Dame schaltet das Licht ein und aus, was völlig unnötig ist, denn ohne Elektrizität würde der Herd nicht funktionieren.
„Emmy, der Junge ist ja vollkommen verwirrt. Nicht wahr? Damit haben Sie nicht gerechnet, Mr. Culpepper.“
Am Arm werde ich zum Tisch geführt. Kaum sitze ich, wird mir Tee eingeschenkt. Gleich darauf hocken wir zu viert beisammen.
„Wir sind die Talbott-Schwestern. Emmy, Clara und ich bin Bridget.“
Nach dieser erhellenden Mitteilung bin ich deutlich schlauer.
„Wir wollten Sie überraschen.“
„Das ist Ihnen gelungen“, entgegne ich und ernte freudige Gesichter, obwohl ich es nicht positiv gemeint habe. Ich hasse es, wenn sich Fremde in mein Privatleben drängen. Noch dazu ungefragt.
„Werden Sie zu Hause gar nicht vermisst?“, erkundige ich mich.
„Oh, wir sind Witwen“, erzählt Emmy.
„Jede von uns“, ergänzt Clara. Sie trägt als Einzige eine pinkfarbene Brille mit dicken Gläsern. Dafür hat Bridget Talbott neben dem linken Mundwinkel eine knubbelige Warze sitzen. Obendrein riechen die drei Grazien aufdringlich nach Parfum. Emmy nach Veilchen, Bridget nach Rosen und Clara nach Jasmin. Der Mischmasch betäubt allmählich meine empfindsame Nase und ich stelle fest: Was die Damen zu viel aufgelegt haben, hat der Bürgermeister eindeutig zu wenig.
„Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar ...“ Mein Versuch, sie zu einem Abschied zu bewegen, scheitert.
„Haben Sie Familie, Mr. Culpepper? Eine Freundin vielleicht?“, will Bridget wissen.
„Nein, ich ...“
„Julie Filgrave ist zu haben. Sie ist nicht besonders hübsch, aber sie kann hervorragend kochen.“ Bridget nickt kräftig zu ihren Worten, als würde ich mir anmaßen, ihre Mitteilung zu bezweifeln.
„Liebe geht bekanntlich durch den Magen“, sagt Emmy und alle drei Ladies kichern.
„Bislang war ich dienstlich zu sehr einge...“
„Ein attraktiver junger Mann wie Sie sollte keine Probleme haben, die richtige Frau fürs Leben zu finden.“ Clara tätschelt mir tröstend die Hand.
„Tja, eine Frau ...“
Bridget unterbricht mein Outing. „Ein Mann muss doch ordentlich versorgt und umhegt werden, wenn er nach der Arbeit heimkommt.“
„Und er muss Kinder haben!“, ruft Emmy so laut, dass ich zusammenzucke. „Viele Kinder!“
Clara beugt sich vertraulich zu mir. „Uns sind Kinder leider verwehrt geblieben.“
„Ich ...“
„Sie wären sicherlich ein guter Vater.“ Bridget schaut mich an, als würde sie sich ihre Chancen bei mir ausrechnen.
Gütiger Himmel!
Als ob ich mich auf eine Achtzigjährige werfen wollte!
Emmy kichert wieder. „Sie wirken ein bisschen erschlagen, Mr. Culpepper.“
Dankbar greife ich nach diesem Strohhalm. „Ich bin gestern zu recht später Stunde angekommen. Mir fehlt es an Schlaf.“
„Ach, Sie Armer!“ Bridget erhebt sich und scheucht ihre Schwestern in die Höhe. „Wir gehen besser, damit Sie sich ausruhen können.“
Ich lächle ehrlich und voller Erleichterung.
„Sie sind sehr liebenswürdig“, säusle ich, was haargenau den Nerv der Ladies trifft, wie ihre funkelnden Äuglein und die zart geröteten Wangen verraten. Höflich begleite ich die Schwestern bis zur Haustür. Dorf fällt Bridgets Blick auf das Gartentor, das nach wie vor an einem Busch lehnt.
„Wir geben Nathan Scatterfey Bescheid, dass er sich um Ihr Tor kümmert.“
„Nathan Scatterfey?“
„Er hat Schreiner gelernt“, berichtet Emmy. „Ein außerordentlich talentierter Mann. Er übernimmt auch zahlreiche andere Handwerkerarbeiten. Wenn ein Rohr verstopft oder ein Dach undicht ist ...“
Wie meines. Das ist dringlicher zu erledigen als das olle Gartentor.
„Ich würde mich wirklich freuen, sollte Mr. Scatterfey etwas Zeit erübrigen können.“
Lächeln. Immer weiter lächeln, selbst wenn Gesichtskrämpfe drohen. Es gilt, die ausgiebige Abschiedszeremonie der Ladies ohne einen katastrophalen Nervenzusammenbruch von meiner Seite zu überstehen.
Endlich sind sie weg und ich habe meine Ruhe. Aufseufzend lehne ich mich gegen die Haustür. Eine solch übertriebene Höflichkeit bin ich einfach nicht gewohnt. Natürlich kann ich eine Großstadt nicht mit dem winzigen Bloomwell vergleichen, in dem sich sämtliche Leute kennen. Auf jeden Fall benötige ich für den Zweitschlüssel ein anderes Versteck als den obligatorischen Blumentopf.
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Langsam gehe ich von Raum zu Raum. Die Talbott-Schwestern müssen wie ein Wirbelwind durch meine vier Wände getobt sein. Die Fenster sind geputzt, die Dielen geschrubbt und die Teppiche ausgeklopft. Die Schonbezüge wurden entfernt und die Polster gesäubert. Es riecht deutlich nach zitroniger Möbelpolitur und Essigreiniger. Eine blank polierte Scheibe gewährt mir die Aussicht auf eine Leine im Garten, an der vertraute Wäsche flattert. Die alten Weiber waren doch nicht etwa an meinen Koffern? Ich eile ins Schlafzimmer hinauf. Das Gepäck ist auf dem Schrank verstaut, die ungetragene Garderobe auf dessen Kleiderstange, Einlegeböden und der Kommode verteilt. Fassungslos wegen der Respektlosigkeit hinsichtlich fremden Eigentums stehe ich da. Eine Ader puckert unheildrohend auf meiner Stirn. Die haben meine Unterwäsche zusammengerollt und in den Schubladen verstaut!
„Da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt!“
Ein wenig besänftigt es mich, dass das Bett frisch bezogen und deutlich einladender als am Vorabend wirkt. Der Eimer und die beiden Schüsseln, die den nächtlichen Regen aufgefangen haben, wurden geleert. Im Bad sind Fliesen und Keramik auf Hochglanz poliert. Hinter dem Spiegelschrank ragen allerdings drei graubraune Beine hervor. Die Monsterspinne hat sich vor der Säuberungsorgie der Damen dorthin gerettet. Mit dem Kamm fahre ich hinter den Schrank und treibe den Achtbeiner vorsichtig aus seinem Versteck. Gleich darauf habe ich das Riesenvieh mit dem Wasserglas eingefangen und trage es ins Freie. Hurtig huscht die Spinne im Gras davon.
Tief atme ich ein.
Was für ein Tag!
Mein Magen knurrt erneut und erinnert mich an den verlockenden Duft frischgebackener Gemüsetarte. Womöglich sollte ich mit den Talbott-Schwestern nicht zu hart ins Gericht gehen. Zumindest haben sie mir eine Menge Putzarbeit erspart. Und wenn in den nächsten Tagen jener Mr. Scatterfey auftaucht, werde ich ihn gleich auf das verflixte Dach ansetzen, denn es ziehen dicke Wolken auf.
Verfluchtes Wetter!