Читать книгу Bloomwell - ein recht beschaulicher Ort - Sandra Busch - Страница 8

Mittwoch, 05. Juni

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Draußen rauscht der Regen, drinnen kämpfe ich mit dem inneren Schweinehund. Unter der Decke ist es ungemein gemütlich. Wenn mir jetzt jemand Kaffee ans Bett bringen würde, wäre ich richtig happy. Ich schiele zum Fenster. Die Läden sind wieder nicht geschlossen, daher kann ich direkt auf dunkle, tiefhängende Wolken blicken.

„Holy moly“, murmle ich.

Aufstehen oder nicht? Zwecks einer Entscheidung spiele ich eine Runde Stein-Papier-Schere gegen mich selbst. Ich verliere und verlasse murrend das Bett. Mich reckend und streckend gehe ich zum Fenster, um es zu öffnen.

Hey!

Huscht da nicht eine Gestalt durch den Garten? Ich reiße das Fenster förmlich auf und lehne mich risikofreudig hinaus. Mehr als eine Person in dunkler Regenkleidung, die die Kapuze weit über den Kopf gezogen hat, erkenne ich nicht. Sie verschwindet ums Haus und lediglich das niedergetretene Gras zeugt davon, dass ich mir den ungebetenen Besucher nicht eingebildet habe.

Verflixt!

Ich könnte nicht einmal sagen, ob es sich bei der Person um eine Frau oder einen Mann gehandelt hat. Nathan? Der wäre sicherlich nicht weggerannt, oder? Fragen über Fragen. Bloomwell entpuppt sich als ein äußerst rätselhafter Ort. Vielleicht sollte ich in meinem Garten Fangeisen auslegen …

Im Bad begrüßt mich die große Winkelspinne. Wie zur Hölle kommt dieses dicke Biest ständig ins Haus?

„Gib es zu“, spreche ich sie an. „Du hast einen Schlüssel.“

Sie schweigt würdevoll, räumt aber freiwillig die Badewanne. Soll ich sie ein weiteres Mal rauswerfen oder sogar den Schuh benutzen? Draußen blitzt es und gleich darauf kracht ein Donnerschlag.

„Okay, du kannst bleiben.“ Angesichts des Scheißwetters zeige ich mich großmütig. „Der Kühlschrank gehört allerdings mir.“

Ich mache mich vorzeigefertig, kleide mich in ein blassrosa Hemd und den dunkelbraunen Anzug. Die passende braune Krawatte mit roséfarbenem Rautenmuster ist schnell aus der Schublade gefischt. Den Windsor-Knoten kann ich blind und in Rekordzeit schlingen. Mit der Bürste aus echten Wildschweinborsten richte ich die Frisur und danach bin ich bereit, mich der Menschheit zu stellen. In der Küche koche ich Kaffee und trinke ihn, während ich mir ein paar Sandwiches fürs Büro zubereite. Die packe ich zusammen mit den vorabendlichen Notizen in eine schlichte Ledertasche, die ich von meinen Eltern zur Beförderung zum Detective Inspector geschenkt erhalten habe. Sie sind furchtbar stolz auf ihren Sohn, der bei der Polizei arbeitet. Ich habe noch eine Schwester namens Paisley. Sie ist in einem Brautmodengeschäft tätig. Seit ihrer Hochzeit im letzten Jahr lauern unsere Eltern auf Enkelkinder. Na, meinen Segen haben Paisley und Steve. Von mir aus können die beiden eine ganze Fußballmannschaft in die Welt setzen.

Wo ist eigentlich der Regenschirm? Erneut ärgere ich mich, dass Fremde meine Koffer ausgeräumt haben. Einige Dinge muss ich deswegen suchen, weil ich keine Ahnung habe, wo sie gelandet sind. Den Schirm entdecke ich Minuten später unter der Treppe hinter einer Tür, wo sich obendrein ein Bügelbrett und das dazugehörende Eisen befinden. Bislang ist mir diese Tür überhaupt nicht aufgefallen. Sie verbirgt einen praktischen Stauraum, indem man allerhand sperriges Zeug lagern kann. Oder einen Harry Potter. Als Letztes schlüpfe ich in meinen Trenchcoat, knöpfe ihn sorgfältig zu, hänge mir die Tasche über die Schulter und schnappe den Schirm. Dermaßen gewappnet trete ich in das Sommergewitter hinaus. Tja, Nathan wird heute gewiss nicht am Dach weiterarbeiten können.

Wie eine Primaballerina tänzle ich an den Pfützen und den völlig verschlammten Stellen vorbei, um mir nicht die Schuhe zu ruinieren. Zum Glück wird der Weg zum Dorfzentrum hin besser.

„Ah! Guten Morgen, Mr. Culpepper.“

Das Knurren, das diesen fröhlichen Gruß begleitet, muss Fairchilds furchtbarem Hund gehören.

„Guten Morgen, Mr. Fairchild. Was für ein grauenhaftes Wetter.“

Er lacht, obwohl ihm der Regen regelrecht vom Schlapphut pladdert.

„Es gibt kein schlechtes Wetter. Man ist höchstens falsch angezogen.“

Da kann man getrost geteilter Meinung sein.

„Wollen Sie bei Holland frühstücken?“

„Heute nicht. Ich habe mir etwas eingepackt“, entgegne ich.

„Ach? Haben Ihnen die Pfannkuchen gestern etwa nicht geschmeckt?“

„Die waren sehr lecker. Das Problem liegt eher darin, dass ich bald zum Dienst rollen werde, wenn ich die jeden Tag esse.“

Mr. Fairchild zieht ein belustigtes Gesicht. „Ein Mann ohne Bauch ist ein Krüppel.“

Das sagt er, obwohl er selbst von schlanker Statur ist.

„Einen schönen Tag, Mr. Fairchild.“

„Ihnen auch. Komm, Harvey.“

Nach einem letzten Knurren trabt der Hund seinem Herrn hinterher. Beide verschwinden in den Regenschleiern. Ein weiteres Donnerkrachen treibt mich vorwärts. Ich will ins Trockene und zwar schnell. Plötzlich hält ein Wagen neben mir. Es ist Nathans Sprinter.

„Hüpf rein! Ich fahre dich ins Büro.“

Weit ist es ja nicht mehr, das heißt, die Fahrt lohnt sich nicht wirklich. Allerdings kann ich das Angebot, ein paar Minuten mit Nathan zu verbringen, nicht ausschlagen. Also hocke ich gleich darauf auf dem Beifahrersitz und gurte mich vorschriftsmäßig an.

„Hi“, sage ich leise.

„Hi.“ Er mustert mich.

„Ich tropfe dir alles nass.“

„Macht nichts. Das trocknet ja wieder.“

Stille.

„Wenn deine Augen noch länger auf mir verweilen, muss ich Miete verlangen.“ Ich probiere einen Scherz, weil mir sein Starren allmählich unangenehm wird.

„Entschuldige.“ Nathan fährt an und konzentriert sich auf die Straße, während die Scheibenwischer auf Hochtouren laufen. „An deinem Dach kann ich heute leider nicht arbeiten.“

„Dachte ich mir schon. Was soll’s. Gegen das Wetter kann man nichts machen und ich will ja nicht, dass du ausrutschst und vom Dach fällst. Zumindest regnet es dank dir nicht mehr rein.“

Ein kleines Lächeln hebt Nathans Mundwinkel. „In dem Fall sind die Schüsseln im Schlafzimmer überflüssig geworden?“

Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. „Du warst in meinem Schlafzimmer?“

„Ich habe nur kurz hineingeschaut, weil ich hoffte, dass man vom Flur aus aufs Dach kommt, was leider ein Trugschluss war. Na ja …“ Nathan zuckt mit den Schultern. „Die Tür stand halt offen.“

„So, so.“ Ich grinse mir eins.

„Alastair, ich habe bestimmt nicht an deinen Höschen geschnüffelt!“

„Jedes weitere Wort, das du jetzt sagst, kann gegen dich verwendet werden. Wer sind eigentlich SIE?“

Nathan wirft mir einen raschen Blick zu. „Der Versuch, mich zu überrumpeln, fruchtet nicht.“

„Schade.“ Ich habe es einfach probieren müssen. „Warum diese Geheimniskrämerei?“

Nathan hält, um einem anderen Wagen die Vorfahrt zu ermöglichen.

„Alastair, bitte! Es schüttet wie aus Eimern. Ich muss mich auf die Straße konzentrieren, sonst gehören wir zu den nächsten Unglücklichen, die einen Unfall erleiden.“

Hä?

Der Wagen steht. Nathan ist nicht einmal angefahren. Was soll das dann mit dem Unfall?

Halt!

Will er mir etwa einen Hinweis geben? Fürchtet er sich, deutlicher zu werden?

Die Nächsten, die einen Unfall erleiden … Und wie er Unfall betont hat. Da steckt mehr dahinter oder ich fresse einen Besen. George wird zusätzliche Recherchearbeit bekommen.

„Nathan?“

„Ja?“

„Könntest du mich irgendwo hinfahren, wo ich einen Handyempfang habe, bevor du mich beim Büro absetzt?“

Er legt den Gang ein und fährt los. „Na klar.“

„Das ist sehr freundlich von dir.“

Nathan verzieht das Gesicht. „In Bloomwell hilft man einander.“

„Oh ja. Den Spruch habe ich bereits zu hören bekommen. In diesem Dörfchen überschlägt sich jeder förmlich, um jemandem seine Hilfe anzubieten. Ich wette, am Jahresende gibt es vom Bürgermeister Bones einen Preis für den aufopferndsten Einwohner. Oder ist das eine Aktion des Pfarrers und läuft unter der Rubrik Nächstenliebe?“

Offenbar liege ich mit meinem Sarkasmus nicht allzu weit daneben, denn Nathan schweigt.

„Gehört einer von den beiden zu den SIE?“

Schweigen.

„Oder sogar beide?“

Weiteres Schweigen. Dafür gibt Nathan Gas. Wasser spritzt links und rechts vom Wagen in die Höhe, als er über die Straße jagt.

„Nicht so schnell, sonst muss ich dir eine Strafe für überhöhte Geschwindigkeit ausstellen. Und bei dem derzeitigen Tempo wäre das mindestens fünfundsiebzig Prozent deines Wochenlohns. Was verdienst du? Fünfhundert Pfund?“

Erneut bekomme ich keine Antwort, aber Nathan fährt nun wenigstens gemäßigter. Nach einer Weile wird er langsamer, lässt den Wagen links an den Straßenrand heranrollen und hält. Wir stehen inmitten von Feldern.

„An dieser Stelle solltest du einen Empfang haben“, sagte er und schaltet den Motor aus. Ich zücke das Handy, um die Aussage zu prüfen.

„Steig zum Telefonieren lieber aus.“

„Ist das dein Ernst? Es gießt wie verrückt.“

Nathan deutet auf einen kleinen Grashügel. „Dort ist der Empfang konstant. Hier könnte er gleich abbrechen. Mann, Alastair! Zieh nicht ein derartiges Gesicht. Ich komme mit nach draußen und halte dir den Schirm.“

Er murmelt etwas, was verdächtig nach aus Zucker klingt. Merkwürdig ist es trotzdem, da mein Smartphone die volle Anzahl der Balken anzeigt. Empfangsmäßig schwankt da nichts. Halt! Falsch! Prompt reduzieren sich die Balken auf die Hälfte. Was für eine ausgesprochene Sch...

Gleich darauf stehe ich im Regen und Nathan mit dem aufgespannten Schirm neben mir, während ich Georges Kontakt aufrufe und anwähle. Dabei fühle ich mich wie Lord Culpepper mit seinem getreuen Butler, bloß dass Nathan keine weißen Handschuhe und einen grauen Overall statt einem Anzug trägt. Zudem wird er am Rücken gerade ziemlich nass, weil mein Schirm eigentlich nur für eine Person gedacht ist. Nathan gibt somit den Gentleman, der dafür sorgt, dass seine Angebetete nicht vom Regen benetzt wird.

Halt!

Da hat sich eben wohl Wunschdenken eingeschlichen. Angebetete! Was ist los mit mir? Ich bin regelrecht froh, als sich George meldet.

„Hi, George. Alastair hier. Ich habe einen weiteren Auftrag für Sie. Seien Sie so freundlich und suchen Sie mir bitte alle Morde und tödlichen Unfälle der letzten fünf ...“

Nathan verdreht die Augen.

„Zehn?“ Fragend schaue ich Nathan an, woraufhin er den Kopf schüttelt.

„Entschuldigen Sie, George, der letzten fünfzehn Jahre? … Ja, der letzten fünfzehn Jahre heraus. Eventuell gibt es einen Zusammenhang zu Welshams Tod. Es könnte sein, dass er da auf etwas gestoßen ist.“

„Gar kein Problem, Sir. Ich kümmere mich darum“, tönt es aus dem Handy.

„Prima, George. Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Und wie gehabt: kein Wort zu irgendjemandem. Bye!“

Ich beende das Gespräch und bemerke Nathans finstere Miene.

„Wer ist George?“, fragt er.

„George Middlefort ist DS in Exeter und mir zugeteilt.“ Da ich nicht widerstehen kann, füge ich hinzu: „Er ist ausgesprochen nett.“

„Mich interessiert es eher, ob man ihm vertrauen kann.“

„Hallo! Wir sind die Polizei“, entgegne ich empört.

„Und ich bin die Queen.“

„Bist du nicht. Du hast gar keine Locken.“

„Ha! Ich könnte dir zeigen, wo der Frosch die Locken hat.“

Ich lächle süß. „Dann mal los, Kermit.“

Statt die Hosen runterzulassen, dreht sich Nathan um und kehrt zum Sprinter zurück. Dummerweise nimmt er dabei den Schirm mit. Empört eile ich ihm hinterher.

„Ich bin der festen Überzeugung, dass George einer der Guten ist.“

„Wenn nicht, sind SIE dir von nun an auf der Spur.“

Rasch steige ich in den Wagen. „Es wäre toll, wenn ich wüsste, wer SIE sind.“

Nathan klappt den Schirm zu und wirft mir das nasse Ding auf den Schoß.

„Hey!“

„Ich muss zur Arbeit“, brummt er unwirsch. „Überleg dir sorgfältig, wem du vertrauen kannst und wem nicht.“ Nach dieser Ansage läuft er um den Sprinter herum und steigt auf der Fahrerseite ein. Tausend Fragen brennen mir auf den Lippen, allerdings befürchte ich, dass er mir darauf keine Antworten geben wird. Nicht in dieser Minute und nicht in diesem Wagen.

„Nach Feierabend will ich ins Crown and Bells“, sage ich wie nebenbei. Wenn er will, kann er daraus ein Date machen.

„Das Shepherd’s Pie ist zu empfehlen.“

Na prima. Ich baue ihm Brücken und erhalte dafür Menüvorschläge.

„Danke für den Tipp“, brumme ich. „Bei wem musst du denn heute ran?“

„Father Bones will die Kirchenbänke neu abgeschliffen und lackiert haben. Damit werde ich eine Zeit lang beschäftigt sein, weil er die Bänke für die Messe braucht. Ich kann daher nur in Etappen arbeiten.“

„Und was würdest du in meinem Haus als Erstes renovieren?“

„Die Fußböden“, sagt er sofort. „Danach die Türen. Neue Tapeten. Ein Teil der Möbel gehört entsorgt, der Rest aufgearbeitet. Ich könnte mir einen Mix aus Alt und Modern vorstellen.“

Das klingt auf jeden Fall interessant. Um jedoch die Fußböden zu restaurieren, müsste ich die Zimmer leerräumen. Das ist mir zu viel Aufwand für einen kurzen Aufenthalt in dem Dorf. Schließlich will ich in Bloomwell keine Wurzeln schlagen und das Haus verkaufen, wenn ich dem Ort den Rücken kehre.

„Soll ich dir einen Kostenvoranschlag machen?“

„Du bist ja überaus geschäftstüchtig.“

Nathan grinst. „Ich bin ein armer Schreiner und muss sehen, wo ich bleibe.“

„Verdiene dich an jemand anderem reich. Ich werde die nächste Möglichkeit nutzen, um dieses Nest wieder zu verlassen.“

„Hoffentlich nicht wie Welsham in einer Holzkiste.“

Ob Nathan etwas über meinen Vorgänger weiß?

„Kanntest du ihn näher?“

„Seine Haustür war beschädigt, die habe ich repariert. Er hat sie aufbrechen müssen, weil er den Schlüssel verloren hat. Danach lud er mich auf ein Bier im Pub ein, hat aber privat nichts von sich preisgegeben.“

„Er musste seine Tür aufbrechen?“, hake ich nach.

„Ja.“

„Besaß er keinen Blumentopf?“

Nathan wirft mir einen schnellen Blick zu. „Was?“

Ich werde deutlicher: „Jeder hier hat einen Zweitschlüssel unterm Blumentopf liegen. Hat Welsham etwa mit der Tradition gebrochen?“

„Du hast recht.“ Nathan bremst und sieht mich bewundernd an. „Weshalb bin ich nicht selbst darauf gekommen?“

Ich ziehe ein selbstgefälliges Gesicht. „Weil du nur der Schreiner bist. Wenn ein helles Köpfchen gebraucht wird, bin ich zuständig.“

„Idiot“, knurrt er.

„Warum halten wir?“

„Weil wir vor deiner Dienststelle stehen, helles Köpfchen.“

„Oh!“ Unter Nathans belustigten Augen lächle ich verlegen. „Danke fürs Fahren.“

„Gern geschehen.“

Jetzt müsste ich aussteigen, nicht wahr? Das Dumme ist bloß, dass ich das überhaupt nicht will.

„Kann ich dir noch etwas helfen?“, erkundigt sich Nathan prompt.

„Nein, nein. Vielen Dank. Shepherd’s Pie, sagtest du?“

„Richtig.“

„Klingt gut. Werde ich wohl ausprobieren.“

Nathan nickt. Mir fällt nichts mehr ein, um das Aussteigen weiter zu verzögern.

„Tja, dann … Bye.“ Ich packe Schirm und Tasche und öffne die Beifahrertür.

„Bye, Alastair.“

Die raue Stimme in Kombination mit meinem Namen klingt absolut geil. Wäre es vermessen, wenn ich Nathan bitten würde, mir ein paar Sprachnachrichten aufs Handy zu schicken?

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Zu meiner Überraschung werde ich bereits erwartet. Eine Frau Mitte fünfzig sitzt auf dem ungepolsterten Stuhl vor dem Schreibtisch. Als ich ins Büro komme, springt sie in die Höhe, als hätte ich sie bei etwas Verbotenem ertappt. Sie trägt ein schlichtes blaues Kleid und ein leichtes Wolltuch um die Schultern.

„Guten Morgen, Mr. Culpepper.“

„Guten Morgen. Behalten Sie bitte Platz.“

Als wäre es völlig normal, dass in meiner Abwesenheit Fremde im Büro herumsitzen, ziehe ich den Mantel aus, hänge ihn an den Kleiderständer und stelle den Schirm ab. Die Ledertasche lege ich auf dem Schreibtisch ab und setze mich.

„Mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Mein Name ist Kendra O‘Kelly.“

„Ach! Sie sind für die Reinigung dieser Räume zuständig.“

Sie beugt sich aufgeregt vor und umklammert dabei die Tischkante. „Mr. Culpepper, Sir! Es tut mir ausgesprochen leid. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen.“

„Äh … Was genau, Mrs. O‘Kelly? Haben Sie jemanden umgebracht?“

„Die Unterlagen“, antwortet sie düster.

Endlich dämmert es mir, wovon sie spricht.

„Mr. Bones teilte mir mit, dass er Sie beauftragt hat, die Papiere zu vernichten.“

Die Dame nickt unglücklich. „Bestimmt sind Sie furchtbar böse mit mir.“

„Mrs. O’Kelly, wie könnte ich auf Sie böse sein, wenn Sie im guten Glauben und auf Anweisung gehandelt haben? Tatsächlich bin ich über Mr. Bones verärgert, weil der sich in Polizeiarbeit eingemischt hat.“

„Sie werden mir nicht kündigen?“ Sie wirkt ehrlich besorgt.

„Dazu besteht überhaupt kein Grund.“

Erleichtert atmet sie auf. „Ich bin auf den Job angewiesen“, verrät sie mir. „Mein Mann befindet sich seit einem Unfall im Pflegeheim. Die Kosten sind enorm hoch …“

Unwillkürlich horche ich auf. „Was ist passiert?“

Mrs. O’Kelly lächelt müde. „Brian hat auf dem Milchhof gearbeitet. Er ist vom Heuboden gestürzt, brach sich zwei Wirbel und erlitt einen Schädelbruch. Seitdem ist er auf einen Rollstuhl angewiesen und nicht mehr klar im Kopf.“

„Das tut mir ausgesprochen leid“, sage ich betroffen.

„Ich war bis dahin Hausfrau“, erklärt Mrs. O’Kelly. „Mittlerweile halte ich uns mit den Putzjobs über Wasser.“

„Wo reinigen Sie denn überall?“, frage ich interessiert.

„Neben Ihrem Büro noch in der Bibliothek, bei Mrs. Pratcourt abends im Blumenladen und bei Mister Scatterfey.“

Wenn Letzteres keine Empfehlung ist.

„Mrs. O’Kelly, ich wage gar nicht zu fragen … Würden Sie womöglich eine weitere Stellung annehmen?“

Ihre Augen leuchten auf, als ob jemand in ihrem Kopf einen Lichtschalter betätigt hätte.

„Bei Ihnen privat?“, haucht sie.

„Staubwischen, Böden und Fenster reinigen?“

„Oh, Mr. Culpepper! Sie ahnen gar nicht … Natürlich! Gerne.“

Es ist nicht zu übersehen, wie sie sich freut. Wir einigen uns darauf, dass sie zukünftig jeden Freitag bei mir putzen wird. Der verlangte Lohn ist lächerlich niedrig und ich beschließe im Stillen, einen Teil für einen Bonus zu Feiertagen zurückzulegen, wenn sie als Putzkraft hält, was sie verspricht. Ich teile ihr mit, wo sie den Zweitschlüssel findet, und bitte sie inständig, das Versteck im Rosenstock niemandem sonst zu verraten.

„Haben Sie für Mr. Welsham ebenfalls geputzt?“, will ich zum Schluss wissen.

„Nur hier im Büro. Privat war Mr. Welsham ziemlich verschlossen. Anfangs war er redseliger, doch nach etwa drei Monaten zog er sich immer weiter zurück. Selbst im Pub tauchte er nicht mehr auf.“

„Haben Sie eine Vermutung, woran das gelegen haben könnte?“ Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich, dass sie mir etwas erzählen möchte. Zu meinem größten Bedauern schüttelt sie letztendlich mit beinahe starrem Gesicht den Kopf. Sie hat wichtige Informationen, da bin ich mir sicher. Leider macht sie genau wie Nathan dicht. Okay, ich kann ja verstehen, dass man sich einem völlig Fremden nicht gleich anvertrauen mag. Allerdings komme ich auf diese Weise in Sachen Welsham nicht weiter.

Geduld, ermahne ich mich.

„War Mr. Welsham nett?“ Ich probiere es einfach mit unverfänglichen Fragen weiter.

„Oh ja. Er war stets höflich und hat sich vorbildlich verhalten“, antwortet meine neue Putzfrau.

„Also haben Sie nie erlebt, dass er sich mit jemandem gestritten hat?“

Mrs. O’Kelly zögert. „Mit Mister Scatterfey hatte er einen heftigen Disput. Das war wenige Tage vor seinem Tod.“

Oh!

Um nicht zu sagen: OH!!

„Haben Sie mitbekommen, worum es bei dem Streit ging?“

„Nein, dafür war ich zu weit entfernt. Warum fragen Sie mich nach all diesen Dingen, Mr. Culpepper?“

Ich lächle möglichst einnehmend. „Weil ich ein unerträglich neugieriger Mensch bin. Außerdem habe ich Mr. Scatterfey beauftragt, mein Haus ein wenig auf Vordermann zu bringen. Wenn er wider Erwarten unzuverlässig sein sollte …“

Oder in einen Mord verwickelt …

„In diesem Fall kann ich Sie beruhigen, Mr. Culpepper. Sie werden keinen besseren Handwerker als Mr. Scatterfey finden.“

„Wirklich?“

„Es ist, als hätte er magische Hände“, schwärmt mir Mrs. O’Kelly vor. Okay, die magischen Hände nehme ich ihr ab.

„Entschuldigen Sie, Mr. Culpepper. Ich würde ja gerne weiter mit Ihnen plaudern. Aber ich will zu meinem Mann ins Pflegeheim fahren.“

„Dann möchte ich Sie nicht länger aufhalten.“ Ich erhebe mich höflich und geleitete Mrs. O’Kelly zur Tür. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Mrs. O’Kelly.“

„Bis bald, Mr. Culpepper.“ Sie drückt meine Hand und eilt in den Regen hinaus. Nachdenklich schaue ich ihr hinterher. Sowohl sie als auch Nathan wollen mir nicht alles erzählen. Bei Nathan ist es offensichtlich, Mrs. O’Kelly versucht es dagegen zu vertuschen. Was ist in Bloomwell eigentlich los?

###

Der Regen lässt ein wenig nach. Die Gelegenheit nutze ich, um quer durch das Dorf zu laufen und Welshams Haus aufzusuchen. Ich schlüpfe unter dem Absperrband der Polizei auf das Grundstück und dokumentiere als Erstes mit der Handykamera die aufgebrochenen Siegel an der unverschlossenen Tür. Ungehindert kann ich das Haus betreten. Den tropfnassen Schirm stelle ich am Eingang ab und verharre einen Moment, um die Atmosphäre auf mich wirken zu lassen. Der Flur ist recht unspektakulär. Eine gestreifte Tapete in Erdtönen, eine Garderobe aus Eichenholz und ein länglicher Spiegel in einem Rahmen aus geflochtenen Weidenzweigen. Und ich dachte schon, dass mein Haus altbacken eingerichtet ist. Neben dem Spiegel hängen Fotos von einem älteren Paar. Vermutlich handelt es sich bei ihnen um Welshams Eltern. Weiterhin gibt es drei Schnappschüsse, die offenbar ihn selbst darstellen. Auf einem der Bilder sitzt er in ein Buch versunken an einem Teich, auf dem zweiten steht er mit einem strahlenden Lächeln an einem Grill und auf dem letzten Foto ist er in Imkerkleidung gehüllt. Welsham ist von kleiner, schmächtiger Statur. Auf keinem Foto merkt man ihm dem Detective Sergeant an. Er wirkt eher wie jemand, der gerne in aller Stille Kreuzworträtsel löst. Ich trete einen Schritt näher an die gerahmten Bilder heran. Auf jedem trägt Welsham eine Brille, beim Lesen genau wie beim Grillen. Okay, unter dem Imkerhut lässt es sich bloß vermuten. Es handelt sich genau um die Brille, die ich im Büro gefunden und die der stinkende Bones Welshams Familie zugeschickt hat. Ich fotografiere das Bild mit dem Grill ab und werfe gleich darauf links einen Blick durch die Tür. Dort liegt die Küche, ganz in Weiß gehalten. Es riecht unangenehm. Naserümpfend gehe ich hinein und öffne ahnungsvoll den Kühlschrank. Er ist vollgestellt, allerdings gammelt dort so einiges vor sich hin. Niemand hat sich die Mühe gemacht, ihn nach Welshams Tod auszuräumen. Ich halte den Zustand in einem weiteren Foto fest, bevor ich den Kühlschrank wieder schließe. Einer Eingebung folgend klappe ich danach den Backofen auf. In einer Auflaufform lacht mir etwas Verschimmeltes entgegen. Es erweckt in mir den Eindruck, als hätte ein Abendessen auf Welsham gewartet. Schade! Da ist der arme Kerl obendrein mit leerem Magen gestorben. Es folgt ein weiteres „Knips!“, bevor ich die Backofentür zuschlage. Nun begebe ich mich in den Raum des Todes: das Wohnzimmer. Wie in meinem Haus liegen die Deckenbalken offen und haben es Welsham damit ermöglicht, sich an einem von ihnen aufzuhängen. Die kleinen Schildchen mit den Ziffern der Spurensicherung befinden sich weiterhin vor Ort. Mit anderen Worten: Die Tatortreinigung war bisher nicht dagewesen.

Bloody hell!

Wie lange will die Polizei und Bloomwell das Haus als Tatort belassen? Allein das ist ungewöhnlich genug. Wie wild fotografiere ich drauflos: die Rolle Seil, von der sich Welsham ein passendes Stück abgeschnitten hat, und das Messer, das er dafür verwendete. Den Stuhl, auf den er gestiegen ist, und der umgefallen am Boden liegt. Am Deckenbalken sind leichte Scheuerspuren des Seils zu erkennen. Bestimmt hat die Spurensicherung dort Fasern gefunden und sie mit der Rolle und dem Stück um Welshams Hals verglichen. Eigentlich eine überflüssige Arbeit, doch es gilt ganz klar zu dokumentieren, dass Seilrolle und Mordwerkzeug zusammengehören.

Hmpf.

Ich stelle den umgeworfenen Stuhl auf und steige hinauf. Welshams Haus hat deutlich höhere Wände als mein eigenes und wirkt damit wesentlich freundlicher und heller. Ich bin kein Winzling, muss allerdings den Arm komplett ausstrecken, um die Handfläche auf den Deckenbalken legen zu können. Nachdenklich springe ich vom Stuhl herab und sehe mich weiter um. Keine Leiter. Okay, die habe ich nicht wirklich erwartet. Dafür entdecke ich eine Kommodenschublade, die ein wenig vorsteht. Jemand hat sie nicht richtig zugeschoben. Darum stöbere ich als Nächstes darin herum. Ich finde zwei dünne Bücher über Pflanzen und Insekten am Wegesrand, in einem Etui eine Sonnenbrille, mehrere Kugelschreiber und einem Block Briefpapier, der mit Welshams Initialen bedruckt ist. Dazwischen liegt die Fernbedienung des Fernsehers. Ich setze mir die Sonnenbrille auf. Sofort verschwimmt mein Sichtfeld und ich erkenne beinahe überhaupt nichts mehr. Damit steht für mich fest, dass Welsham auf seine Brille angewiesen war. Seltsam finde ich es nur, dass in der Schublade genauso ein Chaos herrscht, wie ich es im Büro vorgefunden habe. In den Kommoden und der Anrichte sieht es ähnlich aus, wie ich schnell feststelle. Entweder war mein Vorgänger ein recht schlampiger Mensch oder in den Möbeln wurde herumgekramt.

Ich verlasse die Wohnstube und schaue lediglich kurz ins Bad und ins Schlafzimmer. Die Matratze ist leicht verschoben und das Bettzeug zerwühlt. Und es ist deutlich, dass auch hier in den Schränken etwas gesucht wurde. Der Stapel mit den Hemden droht zu kippen, die Unterwäsche ist völlig in Unordnung geraten und die Tasche einer Anzugshose sogar auf Links gedreht worden. Jemand hat das Haus durchwühlt. Und das in einem Ort, in dem man getrost die Türen offenstehen lassen kann. Wer’s glaubt, wird selig. Bloomwells Scheinheiligkeit stinkt wie der Bürgermeister zum Himmel.

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Zurück im Büro, trinke ich Tee und esse die Sandwiches. Dabei tippe ich meine Aufzeichnungen vom Vorabend ab, überspiele die Fotos vom Handy auf den Rechner und speichere die Dateien auf der Festplatte. Eine Kopie ziehe ich auf den USB-Stick, den ich gestern privat gekauft habe, und verwahre ihn in die Innentasche des Jacketts. Vielleicht bin ich ein bisschen paranoid, aber ich werde den Stick entweder bei mir tragen oder zu Hause sicher verstecken. Mir geistern nämlich nach wie vor Nathans SIE durch den Sinn. Es ist zum Mäusemelken, dass er mir nichts Genaueres mitteilen will. Sein mangelndes Vertrauen ist verständlich, trotzdem tut es weh.

Hör schon auf, sage ich zu mir. Nur weil sich zwei Schwule rein zufällig irgendwo treffen, bedeutet das nicht, dass sie zwangsläufig etwas miteinander anfangen müssen oder sich sogleich auf einer Wellenlänge befinden.

Wenn Nathan bloß nicht so attraktiv wäre. Und genau das ist er, trotz zerschrammter Finger.

Boah, Alastair! Du bist wirklich ein Snob.

Das Telefon klingelt. Völlig überrascht starre ich es an. Es läutet und läutet, ich habe es mir also nicht eingebildet. Aufgeregt schnappe ich mir den Hörer.

„Exeter CID, Zweigstelle Bloomwell. Sie sprechen mit DI Culpepper.“

Es ist George, der mir mitteilt, dass er einen Teil der angeforderten Unterlagen bereits zusammengetragen und zu einem Paket verschnürt hat. Er will es mir vorbeibringen, damit ich die Dokumente heute noch studieren kann. Obwohl ich richtig wild auf das Päckchen bin, bitte ich ihn, es möglichst unauffällig per Post zu schicken. Erneut habe ich Nathans Warnung im Ohr. Außerdem möchte ich keine blöde Ausrede für meinen Vorgesetzten erfinden müssen, wenn er nachfragt, in welcher Angelegenheit mir George Aufzeichnungen eines abgeschlossenen Todesfalles bringen soll. Denn natürlich würde eine Dienstfahrt nach Bloomwell eher Aufsehen erregen, als wenn George kurz bei der Post vorbeimarschiert. Und ich will ehrlich sein: Ein konkreter Beweis liegt mir nicht vor. Ich kratze gerade an der Oberfläche einiger seltsamen Ungereimtheiten herum. George erklärt sich mit der ungewöhnlichen Vorgehensweise einverstanden und verabschiedet sich.

Fantastisch! Es geht voran.

Genüsslich schlürfe ich den Rest Tee und entscheide mich zu einem weiteren Rundgang durchs Dorf. Immerhin hat es zu regnen aufgehört.

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„Hey! Was machen Sie da?“ Neben meinem Dienstwagen kniet ein Kerl im schmutzigen Overall und fummelt an den Reifen herum. Als ich ihn anschreie, springt er sofort auf. In seiner Hand hält er einen Radkreuzschlüssel.

„Nun mal langsam“, brummt der Fremde, in dessen Mundwinkel ein Zigarettenstummel wippt.

„Wer sind Sie?“, frage ich und deute auf den BMW. „Und warum machen Sie sich an meinem Wagen zu schaffen?“

„Ich ziehe die Radmuttern nach.“ Er präsentiert mir das Werkzeug „Das macht man üblicherweise, nachdem man neue Reifen aufgezogen und das Auto ein Stück bewegt wurde. Ich dachte, ich komme Ihnen entgegen, indem ich das hier vor Ort erledige, statt Sie in die Werkstatt zu beordern.“

„Oh. Also sind Sie Larry Coleman von der Tankstelle?“ Der ölig glänzende Scheitel des schmierig wirkenden Kerls lässt diese Schlussfolgerung zu.

„Richtig, Sir. Ich dachte, Sie hätten mich wiedererkannt.“

„Ich wüsste nicht, dass wir uns schon begegnet sind.“

„In der Nacht, in der Sie angekommen sind, habe ich am Brunnen gesessen.“ Coleman deutet in die Richtung, aus der leise Wasser plätschert.

„Ach, das waren Sie.“

Er nickt.

„Dann nichts für ungut. Sind die Radmuttern fest?“

„Und wie.“ Er grinst. „In meiner Werkstatt erhalten Sie nur Qualitätsarbeit.“

Na klar. Perfektes Bloomwell, perfekte Läden und perfekte Menschen. Allmählich geht mir die Selbstbeweihräucherung auf den Geist.

„Kannten Sie eigentlich Mr. Welsham?“

„Klar. War ein ziemlich gestörter Typ.“ Coleman zieht an seiner Zigarette.

„Inwiefern?“ Trotz meiner spontanen Abneigung trete ich einen Schritt näher.

Der Automechaniker zuckt mit den Schultern. „Welsham musste überall herumschnüffeln und hat dumme Fragen gestellt. Der hat sich dermaßen gelangweilt, dass er in jedem Winkel Verschwörungen vermutet hat.“

„Hatte Welsham einen Anlass, an irgendwelche Intrigen zu glauben?“

„Quatsch! Er wollte nicht begreifen, dass ein Ort existiert, in dem es kein kriminelles Gesocks gibt. Bloomwell ist …“

„… recht beschaulich. Ich weiß.“

Coleman stutzt kurz. „Genau.“ Er betrachtet mich ein paar Sekunden ratlos, als hätte er den Faden verloren.

Ich helfe ihm auf die Sprünge: „Es gibt in diesem Dorf kein Gesocks, sagten Sie.“

„So ist es. Und deswegen begann Welsham irgendwelchen Unsinn zu erfinden und den Leuten anzuhängen, damit er was zu ermitteln hatte.“

Ob Coleman zwischen Wahrheit und Fantasien unterscheiden kann?

„Wenn Sie mich fragen, trank er zu viel“, fährt der Mechaniker fort.

„Tatsächlich?“

Der Charlie auf den Fotos wirkte nicht wie ein Alkoholiker.

„Erkundigen Sie sich bei Patrick Fitzgerald, wenn Sie mir nicht glauben.“

„Wer ist das?“

„Der Wirt vom Crown and Bells“, erklärt Coleman hilfreich, bevor er die Augen halb zusammenkneift. „Ermitteln Sie etwa auch, oder was soll die ganze Fragerei? Hat die Polizei uns aufs Korn genommen?“

„Gibt es einen Grund, um genau das zu tun?“, will ich unterkühlt wissen.

„Nein!“, ruft er empört. „Fairchild erwähnte neulich, dass Sie verdammt neugierig sind.“

So, so. Das tratscht Fairchild über mich herum?

„Neugier ist eine Berufskrankheit. Bloomwell wollte unbedingt einen Detective vor Ort haben, obwohl mir jeder erzählt, dass es kein friedlicheres Dorf als dieses gibt. Wenn meine Anwesenheit dermaßen dringend erwünscht ist, muss damit gerechnet werden, dass ich Fragen stelle. Oder besteht Ihrerseits ein Interesse daran, dass ich mich auch vor lauter Langeweile umbringe?“

„Machen Sie doch, was Sie wollen“, brummt Coleman mürrisch.

„Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen“, sage ich mit einer großzügigen Portion Sarkasmus. Damit lasse ich den Unsympathen stehen und begebe mich auf die Suche nach Fairchild, um ihm gehörig die Meinung zu geigen. Wenn die Einwohner von Bloomwell mir Vorschriften machen wollen, beißen sie auf Granit. Und ich beabsichtige, dies von Anfang an klarzustellen.

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Der Antiquitätenhändler ist nicht in seinem Laden, daher vermag ich meiner miesen Laune keine Luft zu verschaffen. Mit Mühe widerstehe ich dem kindischen Drang, gegen die Tür zu treten. Schließlich bin ich DI, befinde mich in der Öffentlichkeit und soll als gutes Vorbild vorangehen. Vielleicht ist er ja wider Erwarten doch da und versteckt sich bloß, weil er Furchtbares ahnt. Ich spähe durch die Schaufensterscheibe und entdecke nichts weiter als Gerümpel, das andere Leute wahrscheinlich als Möbel und Dekostücke bezeichnet hätten. Direkt vor mir steht die Porzellanfigur einer Ballerina, die pastellfarben bemalt wurde.

„Holy moly!“, knurre ich unzufrieden. Und nun? Es beginnt erneut zu regnen, daher klappe ich hastig den Schirm auf. Das Wetter spiegelt meine Laune wider. Missmutig betrachte ich meine Schuhe, die in einer ständig größer werdenden Pfütze stehen. Das weiche italienische Leder hat in diesem Ort einen schweren Belastungstest zu überstehen.

Da der Regen zunehmend stärker wird, mache ich mich in Richtung Bahnhof zum Crown and Bells auf. Auf das Blechschild über der dunkelgrünen Eingangstür wurden eine pompöse Krone und mehrere Glöckchen gemalt. Blumenkästen mit reich blühenden Geranien befinden sich vor jedem Fenster. Im Pub selbst bilden zahlreiche Regale Sitznischen. Nippes und eine Unmenge von bunten Flaschen sind darin einsortiert. Dazwischen stehen Töpfe mit Zimmerefeu. Es ist recht dunkel, dafür brennen auf den Tischen Teelichter. Die schweren Holzmöbel sind wie die Theke in Schwarz gehalten. Indirektes Licht erhellt den Barbereich, den ich sofort ansteuere.

„Guten Tag. Ich bin DI Culpepper“, stelle ich mich vor. „Ich hätte gerne einen Pint der Hausmarke und mir wurde Ihr Shepherd’s Pie empfohlen.“

Über den Tresen hinweg wird mir von einem rundlichen, fast vollkommen glatzköpfigen Herrn eine Hand entgegengestreckt.

„Patrick Fitzgerald. Willkommen in Bloomwell, DI. Endlich lassen Sie sich mal im Pub blicken.“

„Ja, es war an der Zeit.“ Ich schüttle die Hand und bekomme danach ein Bier gezapft.

„Maggie, komm her“, ruft Fitzgerald. „Der DI ist hier und will dein Shepherd’s Pie probieren.“

Die Frau, die erscheint, ist wie ihr Mann recht mollig und wischt sich die Finger an einer Schürze ab, wobei sie mich gut gelaunt anstrahlt.

„Hi, Mr. Culpepper. Wir konnten es kaum erwarten, Sie kennenzulernen. Herzlich willkommen.“

„Vielen Dank, Mrs. Fitzgerald.“ Sie reicht mir ebenfalls die Hand, die noch ein bisschen feucht ist. Wahrscheinlich hat sie gerade etwas abgewaschen.

„Und? Haben Sie sich ein wenig eingelebt? Mögen Sie Bloomwell?“, erkundigt sie sich freundlich.

„Ich muss mich erst an den etwas anderen Trott gewöhnen“, antworte ich ausweichend. „Allerdings kann ich nicht abstreiten, dass es ein wirklich hübsches Dörfchen ist. Okay, der Bahnhof macht nicht viel her …“

„Vor allem, wenn man nachts und im Regen in Bloomwell eintrudelt, nicht wahr? Larry Coleman hat erzählt, dass Sie keinen besonders angenehmen Start hatten.“

„Es kann ja nicht ständig regnen. Wie hat sich denn mein Vorgänger mit Bloomwell arrangiert?“

Maggie schaut kurz ihren Mann an.

„Offenbar gar nicht. Ansonsten hätte er sich nicht umbringen müssen, oder?“, fragt sie unsicher.

„Mr. Coleman behauptete mir gegenüber, dass Charlie Welsham öfter einen über den Durst getrunken hat.“

„Nicht mehr als andere.“ Maggie winkt ab.

„Na ja, manchmal kam er bereits angesäuselt herein.“ Ihr Mann meldet sich damit erneut zu Wort und überrascht mit der Aussage seine Frau.

„Was redest du da?“, fragt sie verblüfft.

„Ich rede über Tatsachen. Du bist ja meistens hinten in der Küche und bekommst nichts mit“, sagt er wenig charmant. „Mr. Culpepper bestellte das Pie. Schon vergessen?“

Maggie wirkt, als wollte sie ihren Mann ordentlich anfahren. Stattdessen dreht sie ihm demonstrativ den Rücken zu.

„Ihr Pie braucht nicht lange“, verspricht sie mir, bevor sie in der Küche verschwindet.

„Sie hat Welsham kaum gekannt“, sagt Fitzgerald entschuldigend und stellt das gezapfte Bier vor mir ab, um danach gleich abzukassieren. Ich mustere sein pausbäckiges Gesicht mit der breiten roten Nase und erlaube mir im Stillen ein eigenes Urteil, da Maggie auf mich einen mütterlichen und kontaktfreudigen Eindruck macht. Eine warmherzige Person wie sie wird von traurigen, einsamen Würstchen, wie Welsham anscheinend eines gewesen war, unweigerlich angezogen.

„Welsham war also dauernd betrunken?“, frage ich gelassen nach.

„Nicht betrunken in dem Sinne, dass er hilflos durch die Gegend getorkelt ist und gelallt hat“, erklärt mir Fitzgerald. „Er schien eher einen gewissen Pegel zu benötigen. Warum wollen Sie das so genau wissen?“

Ich lächle schmal und fahre mit dem Finger den Rand des Bierglases nach. „Tja, Mr. Coleman deutete bereits etwas in der Art an. Ein alkoholisierter Detective Sergeant wirft schließlich ein hässliches Licht auf unsere Polizei.“

„Über Tote soll man nicht schlecht reden.“

„Das ist Ihre Meinung?“

„Er ist nie ausfallend geworden“, versichert mir der Wirt schnell. „Es würde aber seine melancholische Verfassung erklären. Oder?“

„Wie äußerte sich seine Melancholie?“

„Wie soll ich sagen ...?“ Fitzgerald wiegt ratlos den Kopf. „Er war traurig.“.

„Haben Sie ihn gefragt, warum?“, will ich wissen.

„Äh, nein, Sir.“

„Schade“, sage ich leise. „Dabei sind Bloomwells Einwohner doch so hilfsbereit.“

Maggie rettet ihren Mann aus der unangenehmen Situation, indem sie mir das dampfende Pie bringt. „Lassen Sie es sich schmecken, Mr. Culpepper.“

„Vielen Dank, das werde ich.“

Sie schenkt ihrem Ehemann ein Kopfschütteln, bevor sie in die Küche zurückkehrt. Ich schnappe mir den Teller mit dem Pie und mein Bier und sehe mich auf der Suche nach einem ansprechenden Tisch um. Da entdecke ich Nathan in einer Nische.

„Hi“, grüße ich. Er wirft mir lediglich einen abwesenden Blick zu und nickt kurz. Gleich darauf starrt er wieder in sein Bier. Das wirkt nicht unbedingt wie eine Einladung, mich zu ihm zu setzen. Deswegen gehe ich zwei Tische weiter und nehme dort Platz. Hungrig probiere ich die Mahlzeit. Sie ist köstlich. Das Hackfleisch ist nicht zu sehr mit Pfefferminze gewürzt, die Soße ist herrlich tomatig-fruchtig und der Deckel aus Kartoffelbrei genau richtig mit Muskat versetzt. Ich speise in aller Ruhe und mit außerordentlichem Genuss und trinke dazu das Bier. Plötzlich steht Maggie vor mir und tauscht das leere Glas gegen ein volles aus.

„Das Essen ist hervorragend“, lobe ich sie.

„Danke schön. Das höre ich gern.“ Maggie beugt sich zu mir und schielt dabei zur Bar, wo ihr Mann soeben Fairchild bedient. Der Antiquitätenhändler muss vor Kurzem hereingekommen sein.

„Hören Sie nicht auf Patrick“, sagt sie leise. „Er ist ein Dummschwätzer. Genau wie Coleman.“

Ich nicke langsam.

„Mr. Welsham war ein freundlicher Mann. Vielleicht war er ein bisschen einsam. Ein Trinker war er garantiert nicht. Er hat sich für Bienen interessiert und wollte sogar in seinem Garten Körbe aufstellen. Soweit ich weiß, benötigt man für Bienen eine ruhige Hand.“

„Sie haben sich über Bienen unterhalten?“, frage ich verblüfft.

Maggie schmunzelt. „Jeder Mensch hat ein Hobby. Warum nicht Bienen? Jedenfalls arbeite ich seit dreißig Jahren im Crown and Bells. Ich bin hinter dem Tresen aufgewachsen. Da erkenne ich einen Alkoholiker, wenn er vor mir steht.“

„Und Charlie Welsham war keiner.“

„So wenig wie Sie und ich.“

„Warum behauptet Ihr Mann etwas anderes?“, möchte ich gerne wissen.

Maggie zuckt mit den Schultern. „Er ist ein Wichtigtuer. Ein harmloser Mensch und trotzdem ein Wichtigtuer.“

„Habe ich das richtig verstanden, dass Ihnen der Pub gehört, wenn Sie hinter dem Tresen aufgewachsen sind?“

„Ja.“ Sie lächelt stolz. „Ich habe ihn von meinen Eltern geerbt. Mein ganzes Herzblut steckt in dem Lokal.“

„Das hört sich prima an. Man braucht eine Aufgabe, in der man aufgeht.“

Sie sieht mich wissend an. „Bei Ihnen ist es genau wie bei mir der Job.“

„Korrekt.“

„Die viele Fragerei über den armen Mr. Welsham hat einen Grund?“

„Stimmt.“ Ich lächle möglichst unverfänglich. „Meine furchtbare Neugier.“

Maggie schaut mich skeptisch an, setzt sich auf den Stuhl direkt neben mir und sagt leise: „Ich glaube nicht an einen Selbstmord, Mr. Culpepper. Meiner Meinung nach hat er zu viele Fragen gestellt. Genau wie Sie.“ Letzteres flüstert sie, schnappt sich danach den leeren Teller und rennt förmlich in die Küche. Ich sitze still da und versuche das Gehörte zu verdauen. Na, wenn Maggie mir da nicht einen wirklich dicken Brocken zum Knabbern hingeworfen hat. Ich linse verstohlen zu Nathan hinüber, der weiterhin in sein Bierglas starrt, als würde dort ein Kinofilm gezeigt werden. Dagegen wird an der Bar getuschelt. Fairchild und Fitzgerald haben die Köpfe zusammengesteckt. Mir ist durchaus klar, dass sie über mich reden. Es wird daher Zeit für deutliche Worte. Darum trinke ich das zweite Bier aus, das Maggie mir gebracht hat, und schlendere anschließend mit dem leeren Glas an die Theke.

„Hi, Mr. Fairchild. Wie ich höre, stört Sie meine Fragerei nach Charlie Welsham“, sage ich ihm direkt ins Gesicht. „Wollen Sie mir nicht mitteilen, warum?“

Verblüfft mustert mich der Antiquitätenhändler, bevor er den Wirt ansieht und sich räuspert. Das ist nichts weiter als verlegene Zeitschinderei.

„Mr. Fairchild, ich warte.“ Meine Stimme ist rasiermesserscharf geworden und ich behalte den Mann genau fixiert. In seinem Gesicht beginnt unterhalb des linken Auges ein Muskel zu zucken und die Finger spielen nervös an einem Pappuntersetzer.

„Hmm ... Sie stellen schrecklich viele Fragen über einen Selbstmörder.“ Fairchilds Mundwinkel hebt sich für eine Sekunde zu einem halbherzigen Lächeln, bis sein Verstand ihm meldet, dass das bei mir nicht zieht.

„Wenn Welsham sich selbst umgebracht hat, ist es doch egal, ob ich Erkundigungen einhole“, sage ich.

„Sie vermitteln das Gefühl, dass unsereiner ein schlechtes Gewissen haben muss“, erklärt Fitzgerald und Fairchild nickt dazu.

„Und?“, frage ich provozierend. „Hat jemand von Ihnen Gewissensbisse?“

Maggie erscheint in der Küchentür und hört aufmerksam zu.

„Mr. Fairchild, Sie etwa?“

Das Muskelzucken wird stärker.

„Nein! Weshalb wollen Sie das wissen? Mr. Welsham war ein Einzelgänger. Niemand wusste, was in seinem Oberstübchen vor sich ging. Und nun kommen Sie daher und stellen seltsame Fragen. Ich dachte, die Untersuchung seines Todes wäre abgeschlossen.“

„Das ist richtig. Dessen ungeachtet habe ich nichts anderes zu tun und Sie wollen hoffentlich nicht, dass ich mich ebenfalls aus lauter Langeweile umbringe.“

„Natürlich nicht, Sir“, murmelt Fairchild.

„Das trifft sich gut. Ich trage mich nämlich nicht mit Suizidgedanken. Und ich habe genauso wenig die Absicht, mir vorschreiben zu lassen, wem ich welche Fragen stelle. Ich möchte Sie bitten, das zu verinnerlichen, meine Herren. Schönen Abend noch.“ Mit einem hoheitsvollen Nicken verlasse ich den Pub.

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Es ist dunkel, als ich den Feierabend einläute. Leise schiebe ich Welshams Tür hinter mir ins Schloss. Stunden habe ich in dem Zimmer verbracht, in dem er sich angeblich erhängt hat. Zum einen habe ich unter den Blumentöpfen vor seiner Haustür nachgeforscht und tatsächlich einen Ersatzschlüssel gefunden. Das Aufbrechen der Haustür wäre daher nicht notwendig gewesen, sofern Welsham den Hauptschlüssel wirklich verloren hat. Zum anderen wollte ich meinen Gedanken am Tatort freien Lauf lassen, in der Hoffnung, dass mich der Ort des Verbrechens inspiriert. Leider hat mich das nicht weitergebracht. Mir fehlen einfach zu viele Anhaltspunkte. Dass Charlie die Brille zum Zeitpunkt seines Ablebens nicht getragen hat, reicht nicht aus, um den Fall neu aufzurollen.

Halt! Nein!

Um überhaupt einen Fall daraus zu machen!

Langsam gehe ich durchs Dunkel. Wie in der Nacht meiner Ankunft sitzt eine Gestalt auf dem Brunnenrand und raucht.

„Schönen Feierabend, Sir.“

Es ist Larry Colemans Stimme. Hält der hier ständig Wache?

„Dito, Mr. Coleman.“

Ohne anzuhalten gehe ich weiter, verlasse das Dorfzentrum und tauche in die schwarze Finsternis der kleineren Straßen ein.

„Deine Aktion im Pub war nicht besonders schlau.“

Auf einmal tritt Nathan aus den Schatten und gesellt sich an meine Seite. Ich ignoriere ihn, wie er mich im Crown and Bells.

„SIE sind jetzt gewarnt.“ Seine raue Stimme ist so düster wie die Nacht. Genervt halte ich an.

„Versuchst du mir Angst zu machen?“

Allmählich gerate ich in Rage. Nathan steht direkt vor mir. Er ist einen halben Kopf größer, stelle ich fest. Genau die richtige Größe, um sich an eine starke Männerbrust zu schmiegen.

„Nein“, sagt Nathan leise. „Das liegt mir wirklich fern. Ich möchte nur, dass du vorsichtig bist.“

„Warum, zum Teufel?“, rufe ich frustriert.

„Pssst!“ Nathan legt mir einen Finger auf die Lippen und ich kann nicht widerstehen. Ich stupse den Finger mit der Zunge an, kitzle ihn. Nathan stöhnt kaum hörbar und zieht sich beinahe fluchtartig zwei Schritte zurück.

„Nathan“, wispere ich lockend.

„Nicht!“ Es klingt verzweifelt.

„Du machst mich irre“, zische ich verärgert. „Dein widersprüchliches Verhalten und ständig diese Andeutungen.“

„Welches widersprüchliche Verhalten?“ Er blickt sich schnell um und versucht, in der Dunkelheit etwaige Lauscher auszumachen, bevor er weiterspricht. „Du baggerst doch mich an. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich dir Avancen gemacht habe.“

Damit hat er leider recht.

„Du findest mich nicht attraktiv?“, frage ich verdattert. Nathan lacht, dreht sich um und geht. Ich hätte ihm ein herzhaftes Arschloch hinterhergebrüllt, wenn es nicht ein dermaßen zärtliches Lachen gewesen wäre. Ich seufze. Auch Einbildung ist eine Bildung. Knurrig setze ich den Weg fort. Ich soll vorsichtig sein ... Bin ich etwa in Gefahr, weil ich mit der Fragerei Welshams Mörder näherkomme? Prompt hebt sich meine Laune.

Gut so!

Leute, die unter Stress stehen, begehen Fehler. Und dann schlage ich zu.

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Kaum habe ich mein Haus betreten, stutze ich. Es riecht merkwürdig. Nicht nach vergammeltem Kühlschrank, wie in Welshams vier Wänden, sondern nach einem Aftershave, das definitiv nicht meines ist. Der Geruch ist kaum wahrnehmbar, dennoch er ist da. Ich lausche, aber es ist nichts zu hören. Angespannt und alle Sinne auf Hochtouren geschaltet, schleiche ich von Raum zu Raum. Nichts ist gestohlen und nichts wurde beschädigt. Ich öffne Schranktüren und spähe in den Harry-Potter-Abstellraum unter der Treppe. Niemand springt mir entgegen. Im oberen Bad sitzt die Winkelspinne neben dem Spiegelschrank an der Wand. Ich bezweifle, dass es ihr Aftershave ist, das ich wahrnehme. Trotzdem bin ich mir sicher, dass jemand in meinem Haus war, obwohl ich keinen weiteren Anhaltspunkt dafür finde. Eventuell ist die Häkeldecke auf der Sofalehne etwas verrutscht oder in der Küche steht ein Stuhl näher am Tisch als zuvor. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass ich paranoid werde, weil ich heute von Maggie und Nathan deutliche Warnungen erhalten habe.

Kurz entschlossen trete ich wieder in den Regen hinaus, ignoriere den Sturzbach, der auf mich niedergeht, und eile quer durchs Dorf. Endlich stehe ich vor einem Gartentor, das vorschriftsmäßig in den Angeln hängt. Es lässt sich ganz leicht öffnen und quietscht nicht einmal. An der gelb gestrichenen Haustür betätige ich den Türklopfer und warte. Es dauert nicht lange, bis mir Nathan öffnet.

„Warst du heute Morgen in meinem Garten?“, frage ich ihn, während mir das Wasser aus den Haaren und in den Mantelkragen läuft.

„Wo ist dein Schirm?“

„Habe ich zu Hause vergessen. Und? Warst du das heute Morgen?“

Nathan lehnt sich mit der Schulter gegen die Türzarge und verschränkt die Arme vor der Brust. „Nein.“

„Es war eine Person da. Im Garten. Er … oder sie … ist weggelaufen, als ich aus dem Fenster schaute. Und vorhin war jemand in meinem Haus.“

Nathans Augen werden schmal. „Wurde etwas entwendet?“

Ich schüttle den Kopf, woraufhin Regentropfen in sämtliche Richtungen fliegen. „Ich denke, in Bloomwell wird nicht gestohlen?“

„Hast du keine Gummistiefel?“, will Nathan wissen.

Ich starre auf meine teuren Lederschuhe hinab. Sie sind vollständig durchnässt – genau wie der Rest von mir.

„Gummistiefel passen nicht zum Anzug.“

Nathan seufzt und gibt die Tür frei. „Komm rein.“

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Eine halbe Stunde später sitze ich in eine Decke gehüllt auf einem grauen Sofa und trinke eine Tasse English Caramel. Dazu gibt es Cheesecake-Cookies mit weißen Schokoladensplittern. Ich könnte süchtig nach den Dingern werden. Meine Haare müssen wie ein Vogelnest aussehen, da ich sie nur mit einem Handtuch frottieren konnte. Der Anzug, das Hemd und die Krawatte hängen auf Kleiderbügeln über Nathans Badewanne und tropfen vor sich hin. Die Schuhe sind mit Zeitungspapier ausgestopft. An den Füßen trage ich inzwischen geliehene dicke Stricksocken, da meine eigenen über dem Wannenrand liegen.

Nathans Zuhause ist gemütlich. Kein Möbelstück passt zum anderen und gerade deshalb harmoniert alles miteinander. Er hat die einzelnen Teile vom Sperrmüll geholt oder auf Trödelmärkten erworben und aufgearbeitet. Bunte Kissen und in knalligen Farben gestrichene Wände vermitteln die behagliche Fröhlichkeit aus der Hippiezeit. Das habe ich ihm nicht zugetraut. Bislang hat er sich ja dauernd grummelig-mysteriös gegeben. Er sitzt mir gegenüber, anstatt sich an mich zu kuscheln.

Hey!

Es stört mich ungemein, dass er Abstand hält, da sein Verhalten an meinem Ego kratzt. Schließlich bin ich bis auf die Boxer unter der Decke nackt, bin gepflegt, müffele nicht und befinde mich optisch betrachtet im oberen Ranking der Sexiest-Man-Alive. Wieso liegen wir uns nicht längst in den Armen und haben schmutzigen Sex? Weil SIE es ihm verbieten?

Nathan schweigt schon seit geraumer Zeit. Bestimmt hängt er eigenen Gedanken nach. Es wäre nett, wenn er sie mit mir teilen würde, immerhin hat sich jemand in meinem Haus herumgetrieben. Oder überlegt er sich insgeheim, wie er mich am geschicktesten wieder loswird? Nein! Nie und nimmer. Dennoch fühle ich mich trotz der Decke, den Keksen und dem Tee allmählich wie ein Störenfried.

„Es tut mir leid, wenn ich dir Umstände bereite.“

Nathan hebt den Kopf, als würde er aus einer Trance erwachen.

„In Bloomwell helfen wir einander“, rattert er den häufig verkündeten Spruch herunter, als wäre der den Einwohnern per Gehirnwäsche eingetrichtert worden. Unwillkürlich schneide ich eine Grimasse.

„Wenn du heute nicht nach Hause möchtest, kann ich das verstehen. Du darfst gerne bei mir bleiben.“

Sofort habe ich unsere ineinander verschlungenen Körper vor Augen.

„Ich könnte dir das Gästezimmer herrichten.“

Bye, bye, du schöner Traum!

Soll ich etwa die ganze Nacht wach liegen und an den knusprigen Kerl denken, der sich mit mir unter einem Dach befindet?

„Nein, danke. Ich werde zu Hause schlafen.“

„Wie du willst.“ Nathan erhebt sich, als hätte ich ihm mit meiner Entscheidung das Startzeichen gegeben. „Ich bringe dir etwas zum Anziehen.“

Offenbar hat er es doch eilig, mich loszuwerden.

„Wir könnten uns vorher einen Film reinziehen“, schlage ich vor. „Bei mir gibt es bloß zwei Sender.“

Nathan schüttelt den Kopf. „Ich habe überhaupt keinen Fernseher.“

„Oder wir spielen Karten? Scrabble? Kniffel? Beschäftigen uns mit Huckekästchen?“

„Ich bringe dich jetzt nach Hause“, sagt Nathan sanft. An der Tür stockt er. „Besitzt du eigentlich eine Waffe?“

„Nein. Ich habe Pfefferspray für den Notfall.“ Lediglich 4,9 Prozent der britischen Polizei trägt eine Schusswaffe. Nach den Terroranschlägen haben die Bobbies ein wenig aufgerüstet, trotzdem sind die meisten einzig und allein mit ihren Schlagstöcken auf Streife.

„Warum willst du das wissen?“, erkundige ich mich.

„Wo ist es?“

„Im Büro in einer Schreibtischschublade.“

„Trag es lieber bei dir.“

Ich lache. „In Bloomwell? Wo sich alle so ungemein liebhaben?“

Nathan seufzt. „Bist du absichtlich beratungsresistent?“

„Und du? Bist du Schreiner oder Lebensberater?“, erkundige ich mich böse.

Auch Nathan scheint die Geduld zu verlieren. „Du benimmst dich wie eine Diva, die Entzugserscheinungen hat, weil sie nicht genug hofiert wird.“

Autsch!

Das hat er nicht wirklich gesagt! Empört schnappe ich nach Luft. Bevor ich zu einer Retourkutsche ansetzen kann, ist Nathan aus dem Wohnzimmer verschwunden.

Arsch!

Riesenarsch!

Entzückender Arsch ...

Wütend auf ihn, auf mich, auf Bloomwell und die ganze Welt schlinge ich die Decke fester um meinen Leib und stapfe ins Bad. Grollend zupfe ich den Anzug vom Bügel, lege ihn, das Hemd und die Krawatte einigermaßen ordentlich zusammen und packe die Socken obendrauf.

„Hier.“ Nathan taucht hinter mir auf und reicht mir eine Jogginghose und ein T-Shirt.

„Eine Sporthose?“, frage ich entgeistert.

„Diva“, knurrt er.

„Hast du nicht ein paar Badelatschen, die das Outfit passend dazu abrunden?“

„Dein Wunsch ist mir Befehl.“ Nathan wendet sich bereits ab.

„Halt! Das war ein Witz. Das kurze Stück werde ich barfüßig überstehen.“ Rasch streife ich mir seine Stricksocken von den Füßen.

„Sicher?“ Nathan wirkt skeptisch.

„Ich bin keine Mimose.“

„Bleib ruhig. Dafür halte ich dich ja gar nicht. Ein Polizist braucht bestimmt etwas Biss.“

„Ich würde dich beißen, wenn du mich nur lässt.“

„Alastair!“

Nun ist er richtig sauer. Okay, innerhalb von Bloomwells Grenzen darf ich ja keine homosexuellen Andeutungen fallen lassen. Aber das sind seine Regeln, nicht meine. Muss ich mich dann daran halten? Grrr ...

Ich nehme die Decke ab und werfe sie ihm zu, um mich in die geliehenen Sachen zu kleiden. Ein Blick in den Badspiegel zeigt mir, dass ich mit der zerrupften Frisur einem unter Strom gesetzten Collie ähnle.

„Holy moly!“

„Diva!“

„Wenn du mich noch einmal eine Diva nennst ...“

Nathan grinst mich bloß vielsagend an.

„Fuck!“

Sorry, das musste sein. Nathan zieht eine Braue in die Höhe. Es ist nicht zu übersehen, dass er belustigt ist und ich mich zum Clown mache.

„Die Klamotten bekommst du gewaschen zurück.“

„Na sicher.“

„Und du musst mich nicht fahren. Ich möchte dich nicht übermäßig bemühen.“

Nathan lacht. „Du willst ernsthaft barfuß nach Hause laufen? Das überleben deine zarten Füßchen nicht.“

„Du kannst mich voll am Arsch!“, zische ich.

„Ich weiß.“ Nathan gluckst amüsiert, ich dagegen kneife die Augen zu und zähle stumm bis zehn. Danach dränge ich mich an Nathan vorbei und stürme zur Tür.

„Alastair!“, ruft mir der Idiot hinterher.

„Was?“

„Denk an das Pfefferspray.“

„Und wie ich daran denke. Heute Nacht werde ich garantiert davon träumen, wie ich dich damit ins Koma spraye.“

„Okay. Viel Vergnügen.“

Ich werfe die Tür hinter mir zu und stehe mal wieder im Regen. Was für ein Scheißtag.

Bloomwell - ein recht beschaulicher Ort

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