Читать книгу Bloomwell - ein recht beschaulicher Ort - Sandra Busch - Страница 7
Dienstag, 04. Juni
ОглавлениеDer nächste Tag beginnt mit lautem Gefluche. Es stammt aber nicht von mir. Gähnend tauche ich aus meiner frischen Bettwäsche auf und blinzle ins grelle Sonnenlicht. Die Fensterläden stehen nämlich auf, weil ich gestern Abend vergessen habe sie zu schließen.
„Fuck!“
Wer kann einem herzhaften Fuck am Morgen widerstehen? Meine Neugier ganz bestimmt nicht. Darum verlasse ich das Bett und bewege mich ans Fenster, wobei ich mir genüsslich die linke Pobacke kratze. Im nächsten Moment rutschen meine Augenbrauen in die Höhe, als würden sie an Fäden emporgezogen werden.
Da ist ein halbnackter Mann im Garten!
Flugs schnappe ich den Morgenmantel und werfe ihn mir über, während ich die Treppe hinunterrenne und durch die Küche flitze. Ich reiße die Tür auf und halte erst, als meine Füße vom Gras gekitzelt werden.
„Was machen Sie da?“
Der Fremde dreht sich zu mir um. Dunkelbraunes Wuschelhaar mit Sidecut, Bartstoppeln, ein flacher Bauch, kräftiger Oberkörper, knackig sitzende Jeans, Turnschuhe. In der Hand hält er tintenblauen Stoff. Breite Schultern, sehnige Arme, nougatfarbene Nippel, dezente Behaarung der Brust.
„Holy moly!“, murmle ich fasziniert und hätte den Kerl am liebsten zwecks weiterem ausgiebigen Studium spontan in mein Schlafzimmer gezerrt.
„Guten Morgen, Mr. Culpepper.“
Wow!
Eine Stimme wie Joe Cocker.
„Wieso ist mir jeder voraus und kennt meinen Namen?“
„Weil Sie der einzige Fremde in diesem Nest sind und aus dem Haus kommen, in dem der Detective Inspector wohnen soll. Da fällt es mir nicht sonderlich schwer zu kombinieren, wer Sie sind.“ Der Unbekannte lächelt schief und hält mir den Stoff entgegen, der sich als T-Shirt entpuppt. „Ihr Garten hat etwas gegen Eindringlinge. Ich bin an dem Strauch dort hängen geblieben und kam nicht mehr los. Darum musste ich das Shirt ausziehen, um mich zu befreien.“
Dem Gestrüpp gehört als Dank eine große Schleife umgebunden.
Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Das erklärt nicht, was Sie in meinem Garten zu suchen haben.“
„Ich bin wegen des Tores da. Das Talbott-Trio hat mich hierhergeschickt.“ Der attraktive Kerl streckt mir die Hand entgegen. „Nathan Scatterfey.“
Ach! Der Allrounder!
Ich schüttle die angebotene Hand. Der Druck der kräftigen Finger ist angenehm.
„Alastair Culpepper. Das Tor befindet sich übrigens auf der anderen Seite des Hauses.“ Das soll der dezente Hinweis darauf sein, dass er in diesem Teil des Grundstücks eigentlich nichts zu suchen hat. Nathan zieht sich das Shirt über. Es hat drei lange Risse, durch die seine sonnengebräunte Haut blitzt. Als könnte mich der Morgenmantel vor dem Anblick appetitlicher Männer schützen, ziehe ich ihn enger um meinen Körper.
„Das Dach.“
„Äh ... Was?“
Verflixt!
Der Typ lenkt mich viel zu sehr ab.
„Mir ist aufgefallen, dass sich auf dem Dach kaputte Schindeln befinden und ich wollte mir den Schaden näher ansehen. Es erscheint mir dringlicher als das Gartentor.“
Ich denke an die Schüsseln in meinem Schlafzimmer. „In der Tat.“
„Wenn Sie wollen, dann kümmere ich mich zunächst darum.“
„Ich wäre Ihnen dafür ausgesprochen dankbar. Wann können Sie anfangen?“
Nathan blickt auf seine Armbanduhr. „Ich habe noch ein paar Termine. Warum geben Sie mir nicht einfach einen Zweitschlüssel, damit ich aufs Dach gelange, und ich beginne mit der Arbeit, sobald ich dafür Zeit finde.“
In Bloomwell will offenbar jeder freien Zutritt zu meinem Haus haben. Obwohl ich Nathan nicht bloß ins Haus lassen würde.
Hmpf!
Wohin führen mich meine Gedanken? Ich seufze still. Vielleicht sollte ich rein vorsorglich Gleitgel und Kondome besorgen. Es besteht ja die geringfügige Möglichkeit, dass Nathan schwul und interessiert ist oder ich Lust auf einen Ausflug in einen Gay-Club bekomme.
„Liegt der Schlüssel unter einem Blumentopf?“, fragt Nathan.
Unwillkürlich muss ich schmunzeln. „Ist das in Bloomwell üblich?“
Mein Gegenüber lacht. Es klingt rau und sexy. „Nicht nur in Bloomwell.“
„Ich hänge Ihnen den Schlüssel rechts von der Tür in den Rosenstock.“
Nathan nickt. „Prima.“
„Vielen Dank, dass Sie den Auftrag übernehmen.“
„Gerne.“ Nathan schickt sich zum Gehen an, zögert jedoch ein paar Sekunden. „Einen wohlmeinenden Rat, Mr. Culpepper, und ohne Ihnen auf den Schlips treten zu wollen.“ Er tritt nah an mich heran und raunt: „In diesem Ort sollten Sie Ihre Neigungen unbedingt für sich behalten.“ Damit lässt er mich einfach stehen. Bedröppelt starre ich ihm hinterher.
Bloody hell!
Habe ich etwa ein Schild um den Hals hängen? Wie peinlich. Oder habe ich gesabbert? Und wie war seine Bemerkung gemeint? Ist er homophob oder angelt er am selben Ufer und will mir lediglich sagen, dass die Bewohner dieses Ortes Schwulen gegenüber nicht besonders freundlich gesinnt sind?
Himmel!
Wir leben doch nicht hinterm Mond!
Brummelnd kehre ich ins Haus zurück und mustere mich im Garderobenspiegel. Akkurat geschnittenes, kurzes, blondes Haar, blaue Augen, Bartschatten, gestreifter Pyjama, grauer Morgenmantel, nackte Füße. Nirgendwo steht in roter Farbe schwul geschrieben. Auch in keiner anderen. Also habe ich Nathan Scatterfey wohl tatsächlich wie ein ausgehungerter Wolf angeglotzt, der einen leckeren Hasen vor sich sitzen hat.
„Holy moly!“
Üblicherweise mache ich mich nicht zum Idioten der Nation.
Im Bad zeigt mir ein frisch gesponnenes Trichternetz zwischen Wand und Decke, dass die Monsterspinne keineswegs an eine Hausräumung denkt. Sie hockt einmal mehr in der Badewanne und gewinnt damit einen weiteren Freiflug in den Garten. Um die Entfernung der filigranen Spinnenbehausung kümmere ich mich nach Dienstschluss. Zunächst benötige ich eine Generalüberholung meiner Person und ein Frühstück.
###
In Bloomwell ist eine kleine Bäckerei ansässig, die morgens ein bescheidenes Frühstück und nachmittags Tee und Kuchen anbietet. Eine Ms. Sue Holland serviert mir Kaffee sowie Apfelpfannkuchen mit Zimt und Honig. Mir ist nämlich nach der reizvollen Begegnung in meinem Garten nach einer süßen Mahlzeit. Auf den Kaffee bin ich dringend angewiesen, um richtig in Schwung zu kommen. Mrs. Sarah Holland, die Mutter der hübschen, blondbezopften Sue, bedient am Tresen die Laufkundschaft. Von jedem, der den Laden betritt, werde ich freundlich begrüßt, was sich ungemein störend auf mein Frühstück auswirkt. Als ich gerade den dritten kleinen Pfannkuchen verspeise, setzt sich jemand zu mir.
„Guten Morgen, Sir. Haben Sie sich bereits etwas eingelebt?“
Dieses Direkte bin ich von Salisbury nicht gewohnt. Da war man beim Frühstück allein und niemand kam auf die Idee, mich während des Essens zu belästigen. Vermutlich muss ich mich in diesem Dorf an solche Vertraulichkeiten gewöhnen.
„Mr. Fairchild. Der Antiquitätenhändler nicht wahr?“
„Richtig.“ Der alte Mann nickt und ich halte unwillkürlich nach seinem furchtbaren Hund Ausschau. Der sitzt draußen vor der Glastür und wartet hechelnd auf sein Herrchen.
„Kommen Sie doch mal in meinem Laden vorbei. Vielleicht gefällt Ihnen ja etwas.“
Ich beende das Frühstück und tupfe mir mit einer Papierserviette die Lippen ab. „Mir sagt eher ein etwas zeitgemäßeres Design zu.“
Fairchild lacht. „In dem Fall hätten Sie sich besser eine andere Dienststelle suchen sollen. In Bloomwell gehen die Uhren ein wenig nach.“
Und das ist ein Grund, mir altes Gerümpel ins Haus holen?
„Wie weit gehen denn die Uhren nach?“, frage ich, wobei ich mich an Nathans Warnung hinsichtlich meines Outings erinnere.
„Bloomwell wurde im 12. Jahrhundert gegründet. Es gibt viele alteingesessene Familien hier. Lady Mandevilles Stammbaum soll sogar bis auf den Gründervater zurückgehen. Wir hinken der Moderne etwas hinterher, dafür halten wir an gewissen Werten fest.“
„Die da wären?“
„Hilfsbereitschaft und Ehrlichkeit. Sie können Ihre Haustür sperrangelweit offenlassen, ohne bestohlen zu werden. Wenn Sie Unterstützung benötigen, wird Ihnen jeder Einwohner die Hand reichen.“
„Ein funktionierendes Mobilfunknetz ist ebenfalls nicht zu verachten.“
Fairchild schüttelt den Kopf. „Wenn Sie hier jemanden anrufen wollen, können Sie auch genausogut vorbeigehen.“
Es wäre müßig, ihm beizubiegen, dass man mitunter Leute sprechen möchte, die nicht in Bloomwell leben. Meine Eltern zum Beispiel. Unter Umständen DS Middlefort in Exeter. Oder die Wetteransage in Reykjavík.
„Ich muss zum Dienst.“ Mit einem Nicken zum Abschied erhebe ich mich, lasse Fairchild, schmutziges Geschirr und eine einsame rote Tulpe in einer schmalen Vase zurück. Beim Verlassen der Bäckerei schiebe ich mich vorsichtig an der vierbeinigen, knurrenden Bestie vorbei und bin in Versuchung, selbst die Zähne zu fletschen.
###
Vor dem Büro steht der frischgewaschene Dienstwagen auf intakten Reifen. Zumindest geht man in Bloomwell die Probleme schnell an, was mich recht zufrieden stimmt. Dementsprechend guter Dinge betrete ich die Dienststelle. Der Computer will nicht sofort starten, sondern erst zweiundfünfzig Updates installieren. Das Abrufen meiner E-Mails muss daher warten und weil der PC ein uraltes Modell ist, wird die Installation wahrscheinlich den ganzen Vormittag dauern. Für einen Moment überlege ich, was ich in der Zwischenzeit unternehmen könnte. Womöglich ist es keine dumme Idee, mich mit Bloomwell ein bisschen vertrauter zu machen. Also spaziere ich kurz darauf durch die schmalen Straßen. Bis auf wenige Ausnahmen sind die meisten Wege mit Katzenkopfsteinen gepflastert. Zum Dorfrand hin gibt es sogar bloß eine Art Ackerweg, wie der, an dem mein Haus liegt. Ich laufe an einigen herrlichen Anwesen mit parkähnlichen Gärten vorbei, in denen unter anderem Bürgermeister Bones lebt. Am schmiedeeisernen Tor zu einem gewaltigen Herrenhaus bleibe ich fasziniert stehen. Das Wahnsinnshaus zeichnet sich durch Erker und Türmchen aus, ist stellenweise dicht von Efeu bewachsen und auf dem gepflegten Rasen entdecke ich zu meiner Überraschung einen Pfau. In der geharkten, feinkiesigen Auffahrt steht ein dunkelgrüner Jaguar und erhält von einem farbigen Herrn in grauer Uniform eine Handwäsche. Im angemessenen Abstand zu dem Luxuswagen parkt ein schlichter Sprinter mit der Aufschrift Scatterfey Carpentry and more. Jetzt weiß ich, wo der fesche Nathan seinen vorrangigen Termin wahrnimmt. Ich verrenke mir fast den Hals, kann den Handwerker aber nirgendwo erspähen.
„Hey Sie! Was lungern Sie da herum?“ Der Chauffeur ist auf mich aufmerksam geworden und kommt schnellen Schrittes zu mir herüber. Es ist beinahe eine Wohltat, dass es einen Bloomweller gibt, der mich nicht erkennt.
„Detective Inspector Culpepper“, stelle ich mich vor. „Und wer sind Sie?“ Meine forsche Art bremst den Mann ein bisschen aus.
„Jonathan Kaplow, der Fahrer von Lady Mandeville, Sir. Ihr gehört der Landsitz. Kann ich Ihnen behilflich sein, Detective Inspector?“
„Nein, vielen Dank. Ich sehe mir das Dorf an, um mich mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen, und habe Mr. Scatterfeys Wagen bemerkt.“
„Ah ... Ja.“ Kaplow schaut sich kurz nach dem Sprinter um. „Die Lady will Orchideen züchten. Mr. Scatterfey hat ihr ein Gewächshaus errichtet und baut heute die notwendigen Tische für die Pflanzen ein.“ Mit frischer Wissbegierde betrachtet er mich. „Sie sind der Ersatzmann für Mr. Welsham?“
Ich nicke. „Das ist korrekt. Kannten Sie ihn?“
Kaplow schüttelt den Kopf und zuckt gleichzeitig mit den Schultern. „Wir sind uns ab und an im Crown and Bells begegnet.“
„Das ist der Pub in der Nähe vom Bahnhof.“ Ich kann mich an das Blechschild über der Tür des Lokals erinnern.
„Stimmt.“
„Hatte Mr. Welsham Freunde in Bloomwell?“, frage ich.
Kaplow sieht mich skeptisch an. „Wird das ein Verhör, Detective Inspector?“
Ich hebe lachend die Hände. „Nein, natürlich nicht. Mich hat es lediglich interessiert.“
„Mr. Welsham war ein Einzelgänger.“
„Ganz offenbar. Freunde hätten es doch sicherlich bemerkt, wenn er so depressiv oder gelangweilt war, dass er sich umbringen wollte.“
Kaplows Miene wird abweisend. „Darüber weiß ich nichts. Hören Sie, ich muss an meine Arbeit zurück. Möchten Sie, dass ich Mr. Scatterfey etwas ausrichte?“
„Nein danke, nicht nötig. Guten Tag, Mr. Kaplow.“
„Willkommen in Bloomwell, Sir.“
###
Ich wandere weiter, bis ich den Waldrand erreiche. Dort drehe ich um und laufe quer durchs Dorf. Die Bäckerei, der Antiquitätenladen von Fairchild, ein Geschenkeladen, ein Schlachter, die Post, eine Gärtnerei, eine Modeboutique, ein winziger Supermarkt und die Bücherei. Die Anzahl der Geschäfte ist übersichtlich. In der Nähe der Tankstelle bekomme ich für fantastische drei Minuten einen Empfang fürs Handy. Der Bahnhof ist selbst tagsüber und im Sonnenschein trostlos. Eine getigerte Katze sitzt auf der Bank und putzt sich. Wenn ich die Richtung beibehalte, gelange ich zu einem landwirtschaftlichen Milchviehbetrieb und Weiden voller Kühe. Tja, Bloomwell hat keinerlei außergewöhnliche Attraktionen zu bieten. Okay, so ganz richtig ist das nicht. Ein Haus bietet im Gegensatz zu den übrigen eine richtige Sensation. Polizeiliches Absperrband verweigert Unbefugten den Zutritt. Es flattert etwas im leichten Wind und an einer Stelle hat es sich sogar gelöst, daher knote ich es an der Zaunlatte fest. Von meinem Platz am Tor kann ich mehrere Polizeisiegel an der Tür erkennen. Sie wurden aufgebrochen. Wahrscheinlich war das die Polizei selbst, denn die Einwohner von Bloomwell würden ja niemals ungerechtfertigterweise fremde Häuser betreten. Ein paar Minuten bleibe ich vor dem Gebäude stehen und denke darüber nach, dass mein Vorgänger hinter der weinbewachsenen Fassade gestorben ist. Ein bisschen gruselig ist das schon. Endlich gebe ich mir einen Ruck und wandere weiter. Ich schlage einen Bogen und bewege mich an einer unkrautüberwucherten Feldsteinmauer entlang. Dahinter liegt der Friedhof. Als ich hinüberspähe, entdecke ich verwitterte Grabsteine und eingesunkene Gräber. Das muss der alte Teil des Totenackers sein. Kurz halte ich inne und lasse den Anblick auf mich wirken. Ich mag die Ruhe und die Atmosphäre, die alte Friedhöfe ausstrahlen.
„Hallo, Mr. Culpepper. Suchen Sie etwas?“
Mir bleibt vor Schreck beinahe das Herz stehen, als der Pfarrer wie ein entfesselter Kastenteufel hinter einem moosbesetzten Mausoleum auftaucht.
„Himmel! Schleichen Sie sich immer an, um Ihre Schäfchen näher zu Gott zu bringen?“
Der Geistliche lächelt schmal. „Ich war dabei, meine tägliche Runde zu drehen. Und Sie?“
„Ich ebenfalls. Ein Spaziergang durch das Dorf, damit ich es kennenlerne.“
Über die Mauer hinweg streckt mir der Mann Gottes die Hand entgegen. Seine Finger sind lang, dünn und schwitzig, ihr Druck kaum spürbar. Die hageren Gesichtszüge hinter einer schlichten Brille erinnern mich an jemanden.
„Ich bin Father Bones.“
Ah!
Daher kommt mir das Gesicht bekannt vor. Wenn man ihm einen Strohhalm ins Ohr stecken und ihn aufpusten würde, käme die Gestalt des dicken Bürgermeisters heraus.
„Sie sind mit Bürgermeister Bones verwandt?“
„Ja, er ist mein älterer Bruder. Wenn Sie Bloomwell kennenlernen wollen, kommen Sie am Sonntag in die Messe.“
„Ich bin nicht besonders gläubig.“ Um nicht zu sagen, ich bin überhaupt nicht gläubig.
„In Bloomwell besucht jeder den Gottesdienst“, erklärt Father Bones.
„Darf ich daraus schließen, dass Sie über eine Menge Überzeugungskraft verfügen?“
Bones’ Miene wird mild. „Unsere Gemeinde ist klein, aber eine eingeschworene Gemeinschaft. Es freut mich, dass Sie nun ein Teil der Pfarrei sind.“
„Vielen Dank, Father Bones.“
Nachdenklich gehe ich weiter, wobei ich merke, wie mir der Geistliche hinterherstarrt und mit seinem Blick förmlich Löcher in meinem Rücken brennt. Das Dorf ist zwar winzig und die Einwohnerzahl übersichtlich, trotzdem wird mir gegenüber geradezu penetrant extreme Hilfsbereitschaft, Gläubigkeit und Harmonie verkauft. Das kann ich unmöglich akzeptieren. Bekanntlich liegt in jeder Schublade ein toter Fisch, der stinkt. Wenn es einen solchen Zusammenhalt gibt, wie man mir einreden will, warum hat sich dann Charlie Welsham umgebracht? An das Märchen vom Suizid aus Langeweile glaube ich nicht eine Sekunde.
###
Zurück im Büro koche ich mir eine Tasse Tee. Bis der Darjeeling vier Minuten gezogen hat, ist auch der Rechner mit seiner Installation fertig. Mit dem vornehmen Wedgwood in der Hand setze ich mich an den Schreibtisch und checke meinen Posteingang. Middlefort hat mir eine E-Mail geschickt, in der er mir einen guten Morgen wünscht und fragt, ob er mir in irgendeiner Form behilflich sein kann. Ich bitte ihn, mir alle Unterlagen über Charlie Welshams Tod zuzusenden. In dem Moment, als ich die Nachricht abschicken will, bricht die Internetverbindung ab.
Das ist ja nicht zu fassen!
Murrend verschiebe ich die Angelegenheit auf später. Stattdessen will ich Welshams Unterlagen genauer inspizieren. Zu meiner nicht geringen Überraschung ist der Aktenordner leer, in den ich gestern die sortierten Papiere geheftet habe. Ich kneife die Augen zusammen und öffne sie gleich wieder, denn es könnte ja sein, dass ich rund fünfzig Blatt Papier einfach übersehe. Nein, sie tauchen nicht auf wundersame Weise auf, als ich erneut in den Ordner starre. Selbst das Post-it mit Welshams Passwort ist verschwunden. Ich klappe den Ordner zu, stelle ihn an seinen Platz und lehne mich im Stuhl zurück. Wer hat Zutritt zum Büro und ein Interesse daran, die Notizen zu stehlen? Mein Verdacht, dass an Welshams Tod mehr dran ist als ein Suizid, erhärtet sich weiter. Kurzentschlossen erhebe ich mich und verlasse das Gebäude, ohne den Tee auszutrinken. Schnurstracks marschiere ich hinüber in das Gemeindehaus, wo ich Oliver Bones im Gespräch mit seiner Sekretärin antreffe. Bei meinem Erscheinen verstummen sie und wenden sich mir fragend und etwas überrascht zu.
„Entschuldigen Sie die Störung, ich wollte Sie fragen, wer für die Zweigstelle des CID einen Schlüssel besitzt.“
Irritiert hebt Bones seine buschigen Brauen. Obwohl ich einen größeren Abstand wahre, haut mich sein Schweißgeruch beinahe um. Wie das Mrs. Fisher aushält, ist mir ein gewaltiges Rätsel.
„Hm … Lassen Sie mich kurz überlegen“, sagt Bones bedächtig. „Sie haben einen Schlüssel und natürlich Mrs. O’Kelly.“
„Mrs. O’Kelly?“
„Sie macht Ihr Büro sauber. Warum fragen Sie?“
„Es sind Unterlagen verschwunden“, platze ich empört mit der ärgerlichen Tatsache heraus.
„Unterlagen?“ Bones runzelt die Stirn, während Mrs. Fisher ein bisschen betreten neben ihm steht.
„Aufzeichnungen von Charlie Welsham.“
„Oh! Ich verstehe.“ Bones schaut betroffen drein. „Ich fürchte, das geht auf meine Kappe, Mr. Culpepper. Nachdem Sie Ihren Arbeitsplatz in einem absoluten Chaos vorfinden mussten und obendrein die Pannen wie die defekten Sicherungen und der nicht einsatzbereite Dienstwagen hinzukamen, habe ich mich furchtbar geschämt. Deswegen beauftragte ich Mrs. O’Kelly sämtliche Habseligkeiten und persönlichen Unterlagen von Mr. Welsham einzusammeln, damit Sie sich nicht mit seinen Hinterlassenschaften herumschlagen müssen. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse.“
Hallo!
Ich koche vor Wut.
„Wo sind die Sachen jetzt?“
„Die Papiere hat Mrs. O’Kelly geschreddert und die wenigen Gegenstände sind verpackt und an Welshams Familie geschickt worden. Ein Schlüsselanhänger, eine Tasse, seine Brille …“
Mein Gehör hat nach dem Wort geschreddert abgeschaltet. Die letzten Notizen des toten Welsham wurden vernichtet. Ich glaub, mich laust der Affe.
„Mr. Culpepper?“
Bones tritt einen Schritt näher und ich muss mich regelrecht zwingen, um stehenzubleiben. Sein säuerlicher Schweißgeruch steht wie eine Mauer zwischen uns.
„Sagen Sie mir, Sir, warum Welshams Büro dermaßen unordentlich war. Seine Papiere lagen über den ganzen Fußboden verteilt.“
„DCI Kilbourne vermutete, dass Mr. Welsham ziemlich aufgewühlt war, als er sich zum Selbstmord entschloss.“
Erstmalig meldete sich Mrs. Fisher zu Wort. „Er ist davon ausgegangen, dass Mr. Welsham in einer Art Wutausbruch die Papiere vom Tisch gefegt hat, nach Hause ging und sich dort erhängte.“
„Das stimmt.“ Bones nickt eifrig. Ich dagegen frage mich, warum sich Welsham zu Hause umbringen musste, wenn er tatsächlich dermaßen aufgewühlt gewesen war. Er hätte es genausogut im Büro tun können.
„Gab es einen Abschiedsbrief?“, erkundige ich mich.
Bones’ Schweinsäuglein werden schmal. „Weswegen fragen Sie?“
Ich versuche mich an einem gewinnenden Lächeln. „Aus reinem Interesse.“
„Nein, es gab keinen Abschiedsbrief. Mr. Culpepper, der Selbstmord von Mr. Welsham ist eine Tragödie. Aber es bleibt ein Suizid. Haben Sie nichts Besseres zu tun, als Erkundigungen über einen Verstorbenen einzuholen, dessen Fall abgeschlossen ist?“
„Nein, ich bedaure.“ Was erwartet der Mann? Dass es in diesem Nest ein Verbrechen nach dem anderen gibt?
„Ich möchte nicht unhöflich sein, doch Mrs. Fisher und ich haben zu tun. Sofern Sie keine weiteren Fragen mehr haben …“
„Oh, natürlich. Verzeihen Sie, und wenn Sie mir eine letzte kleine Bitte gestatten …“
„Ja, Mr. Culpepper?“
Meine Stimme wird scharf. „Ich erwarte zukünftig, dass nicht der kleinste Papierschnipsel aus meinem Büro entfernt wird.“
Der Bürgermeister hebt beschwichtigend die Hände. „Selbstverständlich nicht.“
###
Vor dem Gemeindehaus begegne ich Nathan.
„Ah, Mr. Culpepper. Stalken Sie mich etwa?“, fragt er mit einem Zwinkern. „Erst verfolgen Sie mich bis zu Lady Mandeville und nun lauern Sie mir hier auf.“
„Was soll ich tun?“ Ich gehe auf seinen neckischen Ton ein. „Gute Handwerker sind halt selten. Die darf man nicht aus den Augen verlieren. Hat Ihnen Mr. Kaplow verraten, dass ich bei Lady Mandevilles Anwesen vorbeispaziert bin?“
„Richtig. Ich repariere zuerst Mr. Bones’ klemmende Schublade und danach steige ich Ihnen aufs Dach.“
„Sie verstehen es, sich beliebt zu machen.“
Nathan lacht. „Das liegt uns Handwerkern im Blut. Wir sehen uns, Mr. Culpepper.“
„Bye, Mr. Scatterfey.“
Ich kann nicht widerstehen: Ich muss ihm hinterherstarren. Genauer gesagt muss ich Nathans Arsch bewundern. Haben wir gerade miteinander geflirtet oder war das für Nathan lediglich harmloses, freundschaftliches Geplänkel?
Schwierig, schwierig.
###
Mit dem BMW fahre ich nach Exeter ins Hauptquartier. Als George mich bemerkt, springt er sofort auf und kommt mir freudestrahlend entgegen.
„DI Culpepper!“
„Alastair reicht.“
Wir schütteln uns die Hände und ich begleite George zu seinem Arbeitsplatz, wobei ich den anwesenden Kollegen grüßend zunicke. Heute wird weniger getuschelt.
„Haben Sie einen Auftrag für mich?“, fragt George begierig.
„Habe ich.“
Er lässt sich in seinen Schreibtischsessel fallen und bietet mir den Besucherstuhl an.
„Schießen Sie los! Was gibt es? Eine Leiche? Zwei?“
Sein Arbeitseifer macht mir Spaß.
„Ein Toter und der ist Ihnen bekannt. Es geht um Charlie Welsham.“
„Oh.“ George wird ernst, kratzt sich den roten Schopf und nickt langsam. „Sie wollen seinen Tod untersuchen?“
„Genau. Ich glaube nämlich nicht an Selbstmord.“
„Nicht?“
Ich schüttle den Kopf. „George, was unternehmen Sie gegen Langeweile? Gehen Sie nach Hause und schneiden Sie sich die Pulsadern auf?“
„Ausschließlich sonntags und an Feiertagen. Ansonsten schlucke ich Schlaftabletten oder enthaupte mich selbst mit der Axt fürs Kaminholz.“
Sein trockener Humor gefällt mir.
„Suizid aus Langeweile? Das soll ein Motiv sein? Wer behauptet das, Mr. Cul... Alastair?“
„Der Bürgermeister.“
„Vielleicht war das ein Witz.“
Das ist freilich möglich, obwohl Bones nicht besonders spaßig rüberkommt.
„Das Büro war verwüstet. Am Fußboden lagen überall Welshams Notizen herum, als hätte es einen Kampf gegeben. Sogar seine Brille fand ich halb unter einem Schrank. Die Papiere habe ich aufgesammelt, sortiert und abgeheftet. Heute wollte ich mich näher mit ihnen beschäftigen, leider hat die Reinigungskraft sämtliche Aufzeichnungen vernichtet.“ Ich erzähle George warum, weshalb und in wessen Auftrag.
„Hmm.“ Er zieht seine Schublade auf und holt eine Tafel Karamellschokolade heraus.
„Nehmen Sie sich“, fordert er mich auf. „Die hilft beim Denken.“
Ich breche mir einen Riegel ab und schwelge in der Süße, während George an seiner Fingerkuppe statt an der Schokolade nagt.
„George?“
„Ja?“
„Ich möchte, dass Sie mir jeden Schnipsel und jede Datei heraussuchen, die mit Welshams Tod zu tun haben.“
„Geht klar, Sir.“
„Die Umstände seines Todes und an welchem Vorgang er zuletzt gearbeitet hat.“
„Das wird einige Zeit dauern, weil ich dafür ins Archiv muss. Welshams Daten sind ja komplett aus der EDV gelöscht worden.“
Ich stutze. „Die kompletten Daten? Nicht nur sein persönlicher Account?“
„Alles“, bestätigt mir George. „Ich habe das überprüft, als Sie mich nach seinem Zugang gefragt haben.“
Guter Bursche.
„Finden Sie das nicht merkwürdig?“, will ich wissen.
George beugt sich zu mir, seine Stimme wird leiser. „Ein oder zwei der Dinge, die rund um Welsham passiert sind, hätten Zufälle sein können. Wenn man allerdings das Komplettpaket betrachtet, nehmen die Zufälle überhand.“
Na bitte! George fällt es also auch auf.
„Ich möchte, dass Sie über diese Ermittlung Stillschweigen bewahren.“
„Warum?“, fragt George.
„Falls ich mich irre, wird mein Start in Bloomwell nicht gleich mit Peinlichkeit überzogen sein. Zudem braucht uns DCI Kilbourne nicht wegen unsinniger Zeitverschwendung tadeln. Sollte unser Misstrauen dagegen berechtigt sein, wecken wir keine schlafenden Hunde.“
„Was immer Sie brauchen, ich suche es heraus“, verspricht mir George eifrig. „Autopsiebericht, die Auswertungen der kriminaltechnischen Untersuchung, Tatortfotos … Ich gebe mir Mühe, die Unterlagen möglichst unauffällig zusammenzutragen.“
Zufrieden reibe ich mir die Hände. „Schicken Sie mir die Dokumente ja nicht per E-Mail. Der Internetverbindung traue ich nämlich nicht.“
„Okay, kein Problem.“
Mir fällt ein weiterer Punkt ein. „Können Sie mir einen Scanner fürs Büro organisieren?“
George grinst. „Ihr Kopierer verfügt über eine Scanfunktion.“
Aha. Das ist ja fein.
„Mein lieber George. In meiner kleinen Zweigstelle befindet sich kein Kopierer.“
George zieht ein verblüfftes Gesicht. „Jedes Büro …“
„Nein! Fehlt.“
Wundert mich irgendwie nicht, denn die kopierten oder gescannten Seiten hätte man auslesen können.
„Ich kümmere mich darum.“
Prima! Damit sind die Weichen für meine Schnüfflernase gestellt.
„Und jetzt kommen wir zu einem weiteren sehr wichtigen Punkt. Wo gibt es hier einen Supermarkt? Ich muss dringend einen Großeinkauf starten.“
###
Mein Haus ist das letzte in der Straße … humpf … an dem Ziegenpfad. Mit dem Wagen komme ich gerade so zwischen den angrenzenden Mauern, Zäunen und Hecken hindurch. Ungeniert parke ich vor dem türlosen Gartentor. Sollte ein abendlicher Spaziergänger vorbei wollen, würde er sich mit eingezogenem Bauch am BMW vorbeiquetschen müssen. Ich selbst gelange lediglich mit Ach und Krach und komplett zurückgerücktem Sitz ins Freie.
„Hi!“
Ich schaue in die Höhe und entdecke Nathan, der auf dem Hausdach hockt.
„Und?“, rufe ich.
„Ein wahres Sieb. Da werde ich garantiert morgen noch dran arbeiten müssen.“
Oh, wie schade!
„Und zum Gartentor komme ich erst übermorgen.“
„Bis übermorgen sind bestimmt wieder ein paar Schindeln kaputt.“ Und wenn ich persönlich mit einem Hammer dafür sorgen muss. Nathan lacht und werkelt weiter am Dach herum. Ich öffne derweil den Kofferraum und trage Kartons mit einem Kaffeeautomaten, Wasserkocher, Mikrowelle und Toaster ins Haus. Danach folgen Kisten und Tüten mit frischen Lebensmitteln und Konserven. Insgesamt muss ich elfmal laufen, bevor der Wagen leergeräumt ist. USB-Sticks und die fehlende Schraube für den Toilettensitz habe ich ebenfalls besorgt.
„Hier ist viel zu tun.“ Nathan lehnt am Türrahmen zur Küche und mustert meine Ausbeute. Mich beschleicht jedoch der Verdacht, dass er nicht die Einkäufe, sondern das Haus meint.
„Es war verhältnismäßig billig.“
„Sie haben die Hütte gekauft? Fuck!“
Recht hat er. Dummerweise gab es in ganz Bloomwell keine Räumlichkeiten anzumieten, außer einem Zimmer im Pub, was wegen der fehlenden Privatsphäre für mich nicht infrage kam. Und das Haus von Welsham, das seitens der Gemeinde für die Polizei zur Verfügung gestellt wurde, ist weiterhin ein Tatort. Die Freigabe zum Betreten ist bisher nicht erfolgt. Im Gegensatz zur Löschung seines Accounts hat das offenbar keine Eile. Und ständiges Pendeln zwischen Exeter und Bloomwell ist für mich erst recht keine Option. Ich bin ein Mann, der gerne direkt vor Ort ist.
„Möchten Sie ein Sandwich und eine Tasse Tee?“, frage ich.
„Gerne. Ich wasche mir bloß schnell die Hände.“ Nathan verschwindet in Richtung Gäste-WC. Ich reiße den Karton mit dem Wasserkocher auf und spüle das Gerät sorgfältig aus. Dann suche ich in meinen Einkäufen nach den Teebeuteln.
„Sie können gerne weiter einräumen und ich belege die Sandwiches, wenn ich schon freundlich eingeladen werde.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, geht Nathan ans Werk. „Sie wollen also länger in Bloomwell bleiben.“
Ich stelle mich an den Kühlschrank und werfe Nathan über die Schulter einen Blick zu.
„Weil ich das Haus gekauft habe? Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Das Haus ist eher eine Notlösung. Wobei mir der Garten sehr gefällt. Ich mag es verwildert.“
„Tatsächlich? Diesen Eindruck machen Sie auf mich gar nicht.“
Damit hat er recht. Fremde halten mich häufig für einen Snob. Die Schuhe glänzen poliert, die Hose weist eine akkurate Bügelfalte auf und das Jackett sitzt perfekt. Hemd und Krawatte harmonieren zusammen. Kein Härchen wagt es, frisurenmäßig aus der Reihe zu tanzen, und die Nägel sind ordentlich manikürt. Mit meinem Erscheinungsbild bin ich extrem penibel und lege großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Ein Typ mit Bartstoppeln fällt eigentlich nicht in mein übliches Beuteschema. Dabei ist Nathan wirklich verflucht heiß!
Schnell widme ich mich erneut dem Kühlschrank, bevor ich zu sabbern beginne, nur weil mein Gast Gurke schneidet. Ich bin ja total untervögelt.
„Holy moly“, flüstere ich in Richtung des Magermilchjoghurts. Hinter mir kraspelt es. Nathan sucht bestimmt Remoulade und Aufschnitt. Wenn er auf die Kondome und das Gleitgel stößt, weiß er gleich, was los ist.
„Sechzehn verschiedene Fertigessen?“
Ich schließe den Kühlschrank und drehe mich schuldbewusst um. Nathan schüttelt fassungslos den Kopf und studiert eine Packung mit Irish Stew.
„Ich bin DI und kein Drei-Sterne-Koch.“
„Warum sind Sie Polizist geworden?“
Da muss ich nicht lange überlegen. „Ich möchte die Welt ein bisschen besser machen.“
Raues Lachen. „Bloomwell ist nicht gerade die Welt.“
„Gehört aber dazu. Und irgendwo muss man ja anfangen. Und Sie? Warum Schreiner?“
Nathan beginnt Remoulade auf einem Toast zu verteilen. „Ich erschaffe gerne etwas. Und ich mag den Geruch von Holz und wie es sich anfühlt, bearbeiten und formen lässt.“
Unwillkürlich betrachte ich seine Hände. Sie sind kräftig und rau wie seine Stimme. Ein Fingernagel ist deutlich kürzer als die anderen. Wahrscheinlich war er eingerissen. Ein Daumennagel ist schwarz verfärbt, was auf eine Quetschung hindeutet. Dazu lassen sich vereinzelte Kratzer auf den Fingern und Handrücken finden.
„Ich bin kein Model.“ Nathans Stimme ist kühl. Er scheint meine Musterung zu seinem Nachteil interpretiert zu haben.
„Würde vermutlich auf dem Dach reichlich fehl am Platze wirken“, entgegne ich leichthin.
„Es gibt Leute, die in mir mehr als einen Handwerker sehen.“
Oha!
Ich scheine männlichen Stolz getroffen zu haben. Allerdings besitze ich den auch.
„Und gelegentlich steckt hinter einer gepflegten Fassade mehr als ein oberflächlicher Mensch“, sage ich mit einer gewissen Schärfe. Nathan betrachtet mich still und langsam breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
„Ein Mann mit Biss. Das gefällt mir. Wurst oder Käse, Alastair?“
„Beides. Und Zwiebeln.“ Ich werfe ihm eine zu, die er lässig auffängt. „Alastair, ja? Nicht länger Mr. Culpepper?“
„Weshalb, wo wir uns jetzt auf Augenhöhe begegnen?“
Dies ist der Moment, in dem ich begreife, dass ich es mit einem schwierigen Charakter zu tun habe. Allerdings konnte ich bislang keiner reizvollen Herausforderung widerstehen.
Tee und Sandwiches sind fertig. Wir setzen uns an den Tisch und beginnen zu essen.
Nathan greift ein unverfängliches Gesprächsthema auf: „Aus dem Haus könnte etwas werden, sofern man einiges an Liebe hineinsteckt.“
„Steht Liebe als Synonym für Geld?“, erkundige ich mich misstrauisch. Nathan lacht und hält sich dabei eine Hand vor den Mund, um keine Sandwichbröckchen über den Tisch zu prusten. Ich lache mit und spüre, wie sich die Spannung zwischen uns legt und einer leichten Kameradschaft weicht.
„Wie konnte ein Dandy wie du nach Bloomwell geraten?“
„Dandy!“ Ich schnaufe und schnippe mit den Fingern gegen die Teetasse. „Vielleicht war ich ja besser gekleidet als mein Chef, was ihm böse aufgestoßen ist.“
„Das glaube ich sofort.“ Nathan grinst.
„Ich bin meinem Vorgesetzten auf den Schlips getreten. Bloomwell ist mein persönliches Exil.“
„Und? Wie findest du das Dorf?“
„Recht beschaulich.“
Nathan nickt langsam und leckt sich Remoulade von der Oberlippe. Och, das hätte ich doch übernehmen können.
„Es scheint hier nette Leute zu geben.“ Ich zwinkere ihm zu. Komischerweise wird Nathan nervös. Sein Blick huscht zur Tür, die zum Garten führt, danach zum Fenster. Steht dort jemand? Ich drehe mich um. Nein, niemand da.
„Was ist los?“, frage ich irritiert. „Wenn dir meine Avan...“
„Ich muss los!“ Nathan springt förmlich in die Höhe. Ich mustere ihn, danach das halb gegessene Sandwich und wieder ihn.
„Ooo-kay“, sage ich langsam und erhebe mich ebenfalls. „Dann begleite ich dich zur Tür.“
Ich gehe sogar bis zum ausgehängten Gartentor mit, weil ich spüre, dass Nathan mir etwas mitteilen will. Und tatsächlich bleibt er direkt am Zaun stehen. Zunächst späht er nach links und rechts, bevor er sich mir zuwendet.
„Hör mir bitte kurz zu“, sagt er leise. „Es ist richtig, dass wir beide vom selben Ufer stammen und dass zwischen uns eine gewisse ... Anziehung besteht. Und aus genau diesem Grund möchte ich dich inständig bitten, nicht darüber zu reden. Nicht einmal in Andeutungen.“
„Warum?“, frage ich verblüfft.
„Bloomwell ist nicht homokompatibel.“
„Nathan, ich verstehe nicht ...“
„Und ich vertraue dir nicht genug, um dir die ganze Geschichte zu erzählen.“ Nathan zögert. „Noch nicht“, flüstert er schließlich.
„Du kannst mich nicht einfach mit diesen Andeutungen stehenlassen“, protestiere ich.
„Du hast mich bereits in der Hand, Alastair. Wenn du irgendjemandem erzählst, dass ich schwul bin, werden SIE sich um mich kümmern.“ Seine Nervosität steigt weiter.
„Nathan, wer sind SIE?“
„Kein Wort! Zu niemandem“, warnt er mich und geht. Ja, er geht wirklich. Marschiert den Ziegenpfad entlang und verschwindet um die Ecke, wo sein Sprinter parkt. Gleich darauf höre ich, wie ein Motor gestartet wird. Keine Sekunde später ist er weg. Ich dagegen stehe wie ein verschmähter Gartenzwerg in der Rabatte. Und das bei meinem Sexappeal.
„Holy moly!“
###
Es ist früher Abend, als ich eine überaus dicke Spinne aus dem Bad in den Garten befördere und endlich den Toilettensitz festschraube. In Pyjama und Morgenmantel gekleidet und mit einer frischen Tasse Tee begebe ich mich ins Wohnzimmer und schalte den Fernseher ein. Das alte Gerät empfängt genau zwei Sender. Auf dem einen laufen die Börsennachrichten und auf dem anderen ein romantischer Rosamunde Pilcher-Film, den ich selbstverständlich allein wegen der schönen Landschaft laufen lasse. Mit Notizblock und Kuli bewaffnet setze ich mich aufs Sofa. Emsig notiere ich alles, was ich über Charlie Welsham in Erfahrung gebracht habe. Danach schreibe ich auf, was mir von dessen Notizen im Sinn geblieben ist. Ich bin total verärgert, dass seine Aufzeichnungen vernichtet worden sind, denn es ist erbärmlich wenig, was ich zusammentragen kann. Das liegt daran, dass ich die Papiere lediglich oberflächlich studiert habe, um sie sortieren zu können. Was wollte Welsham nur mit den einzelnen Namen und Berufen? Macht es Sinn, wenn ich mir ebenfalls eine solche Liste anlege? Und eine weitere mit Verwandtschaftsverhältnissen? Was zum Teufel hat Welsham aus diesen Notizen herauslesen wollen?
Fairchild: Antiquitätenhändler.
Bones: Bürgermeister.
Bones: Pfarrer.
Ich setze die Liste fort, soweit mir Name und der jeweilige Beruf bekannt sind.
Nathan Scatterfey: Schreiner.
Ich starre auf den Namen und spüre eine leichte Traurigkeit, die sich meiner bemächtigt. Schade, dass Nathan so schnell die Flucht ergriffen hat. Und merkwürdig, wie nervös er geworden ist. Wen kann er mit SIE gemeint haben? SIE werden sich um mich kümmern … Das klingt meiner Meinung nach einer Drohung. Ich trinke einen Schluck Tee und überfliege mein bisheriges Geschreibsel. Langsam blättere ich durch den Block, ergänze hier und füge dort etwas hinzu.
Verflixt!
Mir fällt nichts auf, was merkwürdig sein könnte. Charlie, Charlie … Hinter was warst du her?
Rosamunde Pilcher neigt sich dem Ende zu. Die Hauptdarsteller liegen einander in den Armen. Der Schluss besteht aus Friede, Freude und Eierkuchen. Schmalziger geht es nicht. Ach was soll’s … Ich hatte den Mist ohnehin nur wegen der Landschaft eingeschaltet gelassen.
Falsch! Nein!
Ich hatte es eigentlich gar nicht gucken wollen. Es gab bloß keine Alternative zu den Börsennews. Ich strecke dem Fernseher die Zunge raus und frage mich, ob exklusiv mir das Privileg von zwei Sendern zuteilwird oder ob jedem Einwohner von Bloomwell ein solches Glück beschert ist. Mit einem Seufzen trinke ich den kalt gewordenen Teerest aus, schalte den Flimmerkasten ab und drehe eine letzte Runde durch das Haus. Ich bin keiner der übervorsichtigen Sorte, doch heute brauche ich das ausnahmsweise. Die Tür ist verschlossen, die Fenster in der unteren Etage auch. Zufrieden steige ich die Treppe ins Obergeschoss hinauf, putze meine Zähne und entferne mit einem zusammengeknüllten Stück Toilettenpapier das Trichternetz der dicken Spinne. Ein weiterer Tag im langweiligen Bloomwell ist geschafft und hey! Bislang bin ich nicht tot umgefallen.