Читать книгу Wittgensteiner Schatten - Sandra Halbe - Страница 10
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ОглавлениеWomit legen wir los? Was will ich als Erstes wissen? Alles in mir schreit »Warum?«, aber ich weiß, dass Hellmar mir auf so eine allgemein gehaltene Frage keine Antwort geben wird. »Sie haben zwei verschiedene Methoden gewählt, um Ihre Opfer umzubringen. Drei von ihnen wurden erwürgt, eine der Frauen wurde ertränkt. Drei der Tatorte befanden sich an der frischen Luft. Ihre Frau hingegen haben Sie zu Hause ermordet. Warum haben Sie Ihre Vorgehensweise geändert, was Methode und Tatort angeht?«
»Sie kommen direkt auf den Punkt. Das gefällt mir. Ich war gespannt darauf, was Sie zuerst fragen würden.« Hellmar lacht leise. Ein angenehmes Lachen, das mir zugleich eine Gänsehaut verschafft. »Meine Frau musste zu Hause sterben. Es musste persönlicher sein als bei den drei anderen Frauen.«
»Noch persönlicher?«
»Wie bitte?«
»Sie haben die persönlichste Methode gewählt, jemandem das Leben zu nehmen. Sie haben Ihre Opfer erwürgt. Sie haben gesehen, wie das Leben in ihren Augen erloschen ist. Sie haben bestimmt, wie schnell sie sterben. Sie haben diesen Frauen die Hoffnung gegeben, dass das vielleicht alles nur ein böser Traum ist. Gisela Schröter wurde ertränkt. Hat Ihnen das einen besonderen Kick verschafft? Sie immer wieder auftauchen und nach Luft schnappen zu lassen, nur um sie dann erneut unter Wasser zu drücken?«
»Ja, so könnte man es sehen«, sagt Hellmar bedächtig. »Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Jemanden in den eigenen vier Wänden umzubringen ist nicht nur persönlich, sondern auch intim.«
»Oder tröstend«, bringe ich heraus, bevor ich mich stoppen kann. Verdammt, ich muss Hellmar reden lassen! So lege ich ihm die Antworten in den Mund.
»Einigen wir uns darauf, dass es eine Steigerung im Vergleich zu den ersten Morden war.«
»Warum haben Sie die anderen Opfer dann so lieblos zurückgelassen, Ihre Frau aber auf ihrem Bett hergerichtet, als würde sie schlafen?«
Lächelnd schüttelt Hellmar den Kopf. »Ich fürchte, dass ich Ihnen jetzt eine Frage stellen darf. Morgen können Sie mich dann mit Ihren Fragen bombardieren.«
»Legen Sie los.«
»Fangen wir mit einer leichten Frage an«, beginnt Hellmar. »Haben Sie jemanden, mit dem Sie zusammen sind? Hier oder in Wiesbaden?«
»Was geht Sie das an?«
»Kommen Sie schon. Ich möchte nichts Intimes wissen, sondern nur, ob Sie einen Partner haben, dem Sie vertrauen und für den Sie das ein oder andere auf sich nehmen würden. Dann könnten Sie mich besser verstehen.«
»Da gibt es niemanden. Im Moment gibt es nur meine Arbeit.«
»Die Ihnen gerade keinen besonderen Spaß zu machen scheint, wenn ich Ihren Gesichtsausdruck richtig deute.«
In diesem Augenblick öffnet sich die Tür, und ein Vollzugsbeamter informiert uns, dass die Besuchszeit beendet ist. So kann ich mir wenigstens meine Antwort sparen. »Morgen wieder um acht«, informiere ich Hellmar und lasse mich nach draußen begleiten.
Auf dem Nachhauseweg denke ich an Alex. Ich habe versprochen, mich bei ihm zu melden, aber nach Hellmars Frage brauche ich einen Moment, um mich zu fangen. Ich weiß, warum dieser Mann mir so zusetzt, doch das muss aufhören, sonst halte ich die Befragungen nicht durch. Mein unprofessionelles Verhalten hat dafür gesorgt, dass ich zurzeit nicht beim BKA arbeite. Ansonsten wäre ich erst gar nicht hier. Ich muss das in den Griff bekommen.
Ich kann die besorgten Blicke meiner Mutter noch nicht wieder ertragen. Es wird schon dunkel, doch am Friedhof fahre ich den Wagen rechts ran und steige aus. In der Dämmerung muss ich ein paar Minuten lang suchen, bis ich das Grab gefunden habe. Ich war schon eine ganze Weile nicht mehr hier. In der Vase befinden sich frische Blumen. Meine Mutter kümmert sich nach wie vor liebevoll um meinen Vater. »Ernst König«, steht auf dem Stein. Er wurde nur zweiundsechzig Jahre alt, ist viel zu jung gestorben. Das nächste Mal bringe ich auch Blumen mit.
Plötzlich schießt mir ein Bild in den Kopf: ein paar Veilchen auf dem Grab, ein paar Wochen nach der Beerdigung, die Kränze und ersten Blumen waren verwelkt und bereits weggeräumt. Die Veilchen waren frisch. Zu jener Zeit besuchte ich das Grab meines Vaters jeden Tag, sodass sie mir direkt auffielen. Meine Mutter wollte erst am Wochenende neuen Grabschmuck besorgen. Wie kamen die Blumen dann hierher? Ich sah auf und ließ meinen Blick über den Friedhof schweifen. Im ersten Moment konnte ich niemanden erkennen, doch dann entdeckte ich eine Gestalt, einen Mann, hinten am Zaun. Anscheinend wurde ich beobachtet. Als ihm klar wurde, dass ich ihn gesichtet hatte, drehte er sich um und entfernte sich mit raschen Schritten, sodass ich ihn unmöglich einholen konnte. Es war Spätsommer, und die Abenddämmerung hatte gerade begonnen, ich musste die Augen zusammenkneifen, um in der Ferne etwas zu erkennen. Auf diese Distanz konnte ich nicht hundertprozentig sicher sein, aber ich hätte schwören können, dass es Alex war, der mich dort mit seinen Blumen zurückließ.
»Wann genau wolltest du mir erzählen, dass Hellmar einen Seelenstrip als Gegenleistung für seine Informationen verlangt?«, frage ich, als ich, zu Hause angekommen, Alex anrufe.
»Er hat gesagt, dass er sich mit jemandem unterhalten will. Dass er damit nicht nur seinen Fall meinte, war mir nicht klar«, antwortet er ausweichend.
»Versuch nicht, mich zu verarschen, Alex, du lügst. Ein bisschen kennen wir uns, vergiss das nicht. Warum setzt du dich nicht selbst ihm gegenüber und lässt dich über dein Liebesleben ausfragen, damit er dir erzählt, was vor zehn Jahren passiert ist?«
»Es tut mir leid«, kommt es nach einer kurzen Pause aus dem Hörer. »Ich hatte Angst, dass du dann nicht hinfahren würdest.«
»Wahrscheinlich hättest du damit recht gehabt«, gebe ich zu.
»Ich bekomme ziemlichen Druck von oben, wie du dir vorstellen kannst. Auf einmal kommt den Herrschaften, die seit damals die Karriereleiter hochgeklettert sind, der Gedanke, dass sie einen Fehler gemacht haben könnten. Deinen Vater könnte man in diesem Fall nicht mehr belangen, also sollen andere Köpfe rollen.«
»Mein Vater hat keinen Fehler gemacht«, wehre ich ab, »und vergiss nicht: Hellmar hat gestanden.«
»Ich wollte dir nur erklären, dass man mich wegen dieser Morde in die Mangel nimmt.« Alex seufzt. »Wie seid ihr verblieben?«
»Ich lasse mich auf das Spielchen ein.«
Er atmet erleichtert aus. »Danke, Caro. Du rettest mir echt meinen Arsch.«
»Freu dich nicht zu früh«, unterbreche ich ihn. »Wenn er mir zu weit geht, stehe ich auf und gehe, auch wenn ich überhaupt nichts rausgefunden habe.«
»Verstanden.«
»Gut. Die Gespräche mit Hellmar werden wahrscheinlich ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen. Ich bleibe solange bei meiner Mutter. Du hörst wieder von mir. Ich komme so bald wie möglich vorbei, um die Akten abzuholen.«
»Okay, danke. Und, Caro?«
»Ja?«
»Es gibt kein Liebesleben, über das Hellmar mich ausfragen könnte.«
Meine Mundwinkel heben sich. Zum ersten Mal heute bringe ich ein Lächeln zustande. »Bei mir auch nicht«, antworte ich und hoffe, dass das bei ihm eine ähnliche Reaktion hervorruft. Dann lege ich auf und mache mich auf den Weg in die Küche. Vielleicht sind ein paar von den Nudeln übrig, die ich Sonntagmittag verschmäht habe. Auf einmal habe ich Hunger.