Читать книгу Wittgensteiner Schatten - Sandra Halbe - Страница 12

7

Оглавление

Zwei Stunden später stehe ich vor einem Einfamilienhaus in Niederlaasphe. Otto Sander, der Klassenlehrer der Hellmars und der anderen Frauen, lebt hier. Ich frage mich, ob mein Vater jemals gestanden hat, wo ich jetzt stehe. Die Verbindung zwischen Hellmar und den vier Frauen hat er gefunden, dazu habe ich eine Notiz in der Akte gesehen. Aber hat er den Lehrer verhört? Darüber gibt es zumindest keine Aufzeichnungen.

Auf dem Bild habe ich Otto Sander auf Mitte dreißig geschätzt, also dürfte er jetzt Mitte siebzig sein. Ich habe überlegt, erst anzurufen, aber den Gedanken nicht ertragen, weiter tatenlos herumzusitzen. Deshalb bin ich hergefahren, auf die Gefahr hin, niemanden anzutreffen. Während ich vor der Haustür warte, lasse ich meinen Blick über das Grundstück schweifen: Ein kleines Rondell vor dem Haus ist mit Lebensbäumen bepflanzt, die einen Schnitt vertragen könnten. Wahrscheinlich ein altes Ehepaar, das nur gelegentlich Hilfe bei der Gartenarbeit bekommt.

»Ja, bitte?« Eine gebückte Frau steht in der Tür, den Arm auf einen Stock gestützt. Sie trägt eine beige Hose mit einem passenden Oberteil, ihre grauen Haare sind ordentlich frisiert, auf der Nase sitzt eine große Lesebrille, hinter der sie mich aus wachen Augen anstarrt.

»Frau Sander?«

»Wir kaufen nichts.«

»Mein Name ist Caroline König, ich bin von der Polizei«, bringe ich schnell heraus, bevor die Frau mir die Tür vor der Nase zuschlagen kann.

»Kann ich Ihren Dienstausweis sehen?«

»Natürlich.« Ich krame in meinem Portemonnaie und bedanke mich im Stillen bei Dennis, dass er mir meinen Ausweis nicht abgenommen hat.

Frau Sander wirft einen kurzen Blick darauf, aber wie die meisten gibt sie sich damit zufrieden, ein Dokument unter die Nase gehalten zu bekommen, das offiziell aussieht. »Was kann ich für Sie tun, Frau König?«

»Ihr Mann war doch bis zu seiner Pensionierung Lehrer am hiesigen Gymnasium, ist das korrekt?«

»Ja.«

»Ich bräuchte seine Mithilfe zu einem alten Fall, den wir wieder aufgerollt haben. Ist er zu sprechen?«

Frau Sander presst die Lippen aufeinander. »Das könnte schwierig werden.«

»Ist er zu Hause?«

»Das schon, aber …«

»Es dauert nicht lange, versprochen.«

»Mein Mann ist schwer krank.«

»Das tut mir leid, aber ich muss mit ihm reden«, wiederhole ich. So schnell lasse ich mich nicht abwimmeln.

Frau Sander überlegt kurz. »Sie sehen aus, als könnten Sie einen Kaffee vertragen. Kommen Sie herein.«

Dieser Kaffee ist der beste, den ich den ganzen Tag bekommen habe: frisch aufgesetzter, starker Filterkaffee. So gut, wie meine Mutter ihn macht. Ich halte die Nase über die Tasse, schließe einen Moment lang die Augen und atme den herben Geruch ein. »Danke«, bringe ich hervor, nachdem ich den ersten Schluck genommen habe.

Frau Sander sitzt am anderen Ende des kleinen Tisches in der Küche und lächelt mich an. »Es gibt kaum etwas, was ein guter Kaffee nicht lösen kann.«

»Dem kann ich nicht zustimmen. Aber ich kann meine Probleme wenigstens für ein paar Minuten verdrängen.« Ich nehme noch einen Schluck und hoffe, dass Frau Sander mich bei meinem nächsten Satz nicht postwendend aus dem Haus jagt. »Darf ich fragen, an welcher Krankheit Ihr Mann leidet?«

»Otto hatte vor drei Jahren den dritten Schlaganfall. Seine Motorik ist stark beeinträchtigt, und sein Sprachzentrum ist ebenso betroffen. Alles strengt ihn an. Er schläft viel.« Sie sagt es so neutral, als würde sie über das Wetter reden.

»Meinen Sie –«, setze ich an, doch sie unterbricht mich.

»Ich weiß nicht, was genau Sie von Otto wissen wollen. Und ich kann Ihnen nicht versprechen, dass alles, was er sagt, verlässlich ist. Manchmal ist er sehr verwirrt. Aber wenn er zustimmt, könnten Sie ein paar Minuten mit ihm reden.«

»Das wäre wunderbar.« Mein Herz macht einen Satz, und ich schöpfe Hoffnung, dass mein Besuch nicht umsonst ist.

»Warten Sie kurz hier.« Frau Sander lässt mich mit meinem Kaffee zurück. Am Ende des Flurs öffnet und schließt sich eine Tür leise, dann höre ich raunende Stimmen. Kurz darauf steht Frau Sander wieder in der Küche. »Otto ist einverstanden, Sie zu sehen. Bitte bedenken Sie, dass er geschwächt ist, und fassen Sie sich kurz. Wenn Sie ihn nicht verstehen, sagen Sie Bescheid, ich werde versuchen zu helfen.«

»Danke, Frau Sander.« Ich atme erleichtert auf und folge ihr zu dem Zimmer, in dem ihr Mann liegt.

Otto Sander sieht nicht aus wie Mitte siebzig, sondern viel, viel älter. Der gebrechliche Mann, der in dem Krankenbett auf mich wartet, hat jegliche Ähnlichkeit mit dem Lehrer auf dem Foto von damals verloren. Die wenigen weißen Haare, die ihm geblieben sind, stehen ihm zu Berge, die rechte Gesichtshälfte wirkt starr, der Mundwinkel hängt schlaff herunter. Seine Augen fixieren einen Punkt im Zimmer und wandern nur langsam zu mir herüber, ohne dass der Ausdruck in seinem Gesicht sich ändert. Frau Sander drückt auf einen Knopf am Bett, sodass das Kopfteil ein wenig höher fährt und ihr Mann aufrecht sitzen kann. Den Fernseher, der scheinbar unbeachtet gelaufen ist, schaltet sie aus. »Otto, das ist Frau König von der Polizei, von der ich dir gerade erzählt habe«, erklärt sie ihm. Sie spricht langsam und deutlich, die Stimme leicht gehoben.

»Hallo, Herr Sander«, sage ich in der gleichen Tonlage und greife nach der Hand des Mannes, die bewegungslos auf der Bettdecke liegt. Sie ist kalt und trocken, und mein Druck bleibt unerwidert. In Sanders Augen sehe ich dafür etwas aufblitzen. Das lässt mich hoffen, dass er mich versteht. »Ich bin von der Polizei«, wiederhole ich Frau Sanders Worte. »Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?« Ich deute auf den Stuhl, der neben dem Bett steht. Sander nickt kaum merklich. Ich ziehe den Stuhl näher heran und werfe dabei einen Blick auf Frau Sander, die noch immer auf ihren Stock gestützt in der Tür steht und ihren Mann nicht aus den Augen lässt. Am liebsten würde ich sie bitten, uns allein zu lassen. Aber ich weiß, dass ich schon viel von ihr verlangt habe und dankbar sein muss, dass sie mich überhaupt zu ihm gelassen hat. Deswegen lächle ich ihr lediglich zu und konzentriere mich dann wieder auf den Mann vor mir.

»Herr Sander, schwieriges Thema. Tut mir leid, Sie damit zu belästigen. Erinnern Sie sich an die Serienmorde hier in der Umgebung? Das ist jetzt zehn Jahre her. Vier Frauen wurden von einem Mann namens Robert Hellmar getötet, darunter seine eigene.« Ich warte auf eine Reaktion. Als keine kommt, fahre ich langsam fort: »Das Einzige, was alle vier Frauen gemeinsam haben, ist, dass sie zusammen mit Hellmar das Gymnasium hier in Laasphe besucht haben.« Ich hole das Foto hervor und halte es Sander vors Gesicht. »Leider habe ich nur ein Bild von der zwölften Klasse, die Sie damals unterrichtet haben. Aber soweit ich weiß, waren Sie in der fünften Klasse bereits ihr Klassenlehrer. Können Sie sich an etwas aus dieser Zeit erinnern, das mir weiterhilft? Irgendetwas, das die Opfer miteinander verbindet, abgesehen von derselben Schulklasse? Alles könnte wichtig sein.«

Sander fixiert das Bild, das ich ihm vor die Nase halte. Im ersten Moment passiert nichts. Dann fängt die Hand, die ich gerade noch gedrückt habe, langsam an zu zittern. Seine Augen weiten sich, und ich höre, wie sein Atem sich beschleunigt.

»Otto«, höre ich Frau Sanders Stimme von der Tür aus. Sie klingt besorgt. »Ist alles in Ordnung?«

»Jeder kleine Hinweis hilft mir weiter«, wiederhole ich.

Das Zittern nimmt zu. Langsam hebt die Hand sich und deutet auf das Mädchen rechts außen auf dem Bild. Dann öffnet sich Sanders Mund, und heraus kommt ein abgehacktes »… er … ämlich … hi … h … schra … hi … hämli …«

»Wie bitte?«

»Wer nämlich mit h schreibt, ist dämlich«, antwortet Frau Sander.

»Wer nämlich mit h schreibt, ist dämlich?«

»Wer nämlich mit h schreibt, ist dämlich!« Sanders Augen sind weit aufgerissen, der Atem kommt stoßweise. Jetzt bin ich mir sicher, dass ich die Worte verstehe.

»Otto!«, höre ich wieder Frau Sander.

Ich springe auf, um sie zu ihrem Mann zu lassen. »Soll ich einen Krankenwagen …?«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich denke, Sie gehen jetzt besser«, zischt sie mir zu, während sie beruhigend ihre Hand auf seine legt und die Lehne des Bettes wieder senkt.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, stammle ich, das Foto fest gegen meine Brust gedrückt. »Auf Wiedersehen«, verabschiede ich mich, aber das Ehepaar nimmt mich nicht mehr wahr. Mit klopfendem Herzen renne ich die Treppe herunter und höre immer noch Herrn Sanders Ausrufe sowie seine Frau, die weiter beruhigend auf ihn einredet. Draußen angekommen, lehne ich mich gegen die geschlossene Haustür. Einen Moment lang schließe ich die Augen und frage mich zum wiederholten Male, was zur Hölle ich eigentlich hier mache.

Wittgensteiner Schatten

Подняться наверх