Читать книгу Wittgensteiner Schatten - Sandra Halbe - Страница 11
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ОглавлениеDienstag
»Willkommen zurück, Frau König«, begrüßt Hellmar mich am nächsten Tag. »Ich habe mich gefragt, ob ich Sie wiedersehen würde.«
»So schnell werden Sie mich nicht los.« Ich setze mich ihm gegenüber. Heute gibt es sogar Kaffee aus einer Thermoskanne. Anscheinend haben die Vollzugsbeamten nach dem gestrigen Gespräch Vertrauen zu Hellmar gefasst und denken nicht, dass er mir oder sich Schaden zufügen würde. Das Gebräu ist nur lauwarm und schmeckt scheußlich. Ich verziehe das Gesicht und schiebe den Plastikbecher von mir weg. Hellmar scheint zu wissen, was ihn erwartet. Er hat seinen Kaffee erst gar nicht angerührt.
Ich habe gestern Abend lange überlegt, womit ich unser Gespräch beginnen werde. Tausende Fragen sind wie Fliegen durch meinen Kopf geschwirrt. Ich habe sie alle aufgeschrieben und versucht, sie nach Wichtigkeit zu ordnen. Immer wenn ich dachte, dass eine Frage Priorität hat, drängte sich wieder eine andere in den Vordergrund. Der Zettel mit meinen Notizen landete im Müll. Stattdessen habe ich die halbe Nacht an die Decke gestarrt. Deswegen sitze ich Hellmar jetzt wieder so planlos gegenüber wie gestern, ein leeres Notizbuch vor mir aufgeschlagen, hundemüde, in der Hoffnung, dass meine Intuition mich nicht im Stich lassen wird. »Erzählen Sie mir von Ihrer Frau Simone«, bitte ich ihn.
Hellmar zieht die Augenbrauen hoch. Er wirkt überrascht. »Was wollen Sie wissen?«
»Alles, was Sie mir mitteilen wollen. Wie haben Sie sich kennengelernt?«
Hellmar hat den Mord an seiner Frau gestanden. Ich weiß, dass ich mich auf die drei vorherigen Morde konzentrieren sollte, die, zu denen offiziell nie eine Verbindung bestand. Aber ich kann es nicht ändern: Der letzte Mord scheint mir der wichtigste zu sein. Deswegen möchte ich alles über die Beziehung der Hellmars erfahren.
»Simone und ich haben einander in der Schule kennengelernt. Zu dieser Zeit haben wir aber eher nebeneinanderher gelebt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Während des Studiums wurde aus unserer Freundschaft dann mehr. Wir haben beide in Marburg studiert, ich BWL und sie Medizin. Sie hatte einen kleinen Kredit aufgenommen, um sich vor Ort eine Wohnung leisten zu können. Ich nahm jeden Tag den Zug von Laasphe aus und fuhr abends nach den Vorlesungen wieder zurück. Bis ich irgendwann angefangen habe, bei ihr zu übernachten. Sie hatte eine winzige Wohnung, aber wir beide brauchten ja nicht viel Platz.« Bei dem Gedanken an diese gemeinsamen Nächte bilden sich viele kleine Lachfalten um Hellmars Augen herum. »Marburg war damals schon eine schöne Stadt und hatte für Studenten viel zu bieten: Simone und ich verbrachten unsere vorlesungsfreie Zeit in einem der vielen Cafés, im Kino oder im Theater. Wir haben die Studienzeit genossen. Als ich die Möglichkeit bekam, nach dem Studium in einer Firma in Laasphe einzusteigen, führten wir eine Weile eine Wochenendbeziehung. Simone musste ihre Zeit als Assistenzärztin beenden, bevor sie nach Laasphe zurückkehren konnte. Sie stieg als Allgemeinmedizinerin in eine Praxis ein. Ja, sie kam meinetwegen wieder hierher.« Hellmar sieht vor sich auf den Tisch. »Eigentlich wollte sie nie zurück«, sagt er leise, mehr zu sich selbst.
Er hat keine Ahnung, wie sehr ich mich in seinen Worten wiederfinde, aber bevor ich etwas sagen kann, fährt er schon fort: »Wir ließen uns ein kleines Haus oben am Berg bauen, mit Aussicht auf die Stadt. Ein-, zweimal im Jahr fuhren wir in den Urlaub. Wir waren glücklich.«
Warum hast du sie dann umgebracht?, würde ich ihn gerne fragen, doch ich reiße mich zusammen. Ich will nicht wieder so vorpreschen, wie ich das gestern getan habe. »War Simones Schwangerschaft ein Problem für Sie?«
»Was?« Hellmar sieht mich an, als hätte ich ihn aus einer anderen Welt gerissen.
»Irgendetwas hat sich in Ihrem Leben geändert, das Sie dazu gebracht hat, diese Morde zu begehen. Es gab mit Sicherheit einen Auslöser für Ihre Gewalttaten.«
»Kommt da noch eine Frage?« Anscheinend hat Hellmar sich wieder ein wenig gefangen. »Hatte Ihr Vater hierzu eine These? Ich nehme an, Sie haben Einsicht in meine Akte.« Er bedenkt mich mit diesem freundlich-geduldigen Lächeln, bei dem ich mir unglaublich blöd vorkomme.
»Ihre Frau war im siebten Monat schwanger, als sie starb. Sie waren beide Anfang vierzig. War Ihnen das zu spät, um eine Familie zu gründen? Wollten Sie das Kind nicht? Hat Simone deswegen beschlossen, Sie zu verlassen und sich mit jemand anderem ein neues Leben aufzubauen? War das Kind am Ende gar nicht von Ihnen?« Verdammt, jetzt tue ich es doch wieder und gebe ihm Möglichkeiten vor.
Vielleicht bilde ich es mir ein, aber ich glaube, die Schatten unter Hellmars Augen sind dunkler geworden. Sein Lächeln wirkt jetzt eingefroren.
»Sagen wir, dass die Schwangerschaft meiner Frau eine Rolle gespielt hat, allerdings nicht so, wie Ihr Vater sich das gedacht hat oder wie Sie es sich zusammenreimen.«
»Dann klären Sie mich auf.«
»Wir sollten mit einem anderen Teil der Geschichte anfangen. Haben Sie eine Ahnung, woher die vier Frauen sich kannten?« Er greift in die Brusttasche seines Hemdes und zieht ein Foto hervor.
Ungeduldig reiße ich es ihm aus der Hand. »Das ist ein Klassenfoto«, antworte ich genervt. »Die vier Frauen sind mit Ihnen zusammen zur Schule gegangen. Auf die Gefahr hin, dass es Sie überrascht: So weit waren wir schon. Was genau ist die Erkenntnis, die ich hier gewinnen soll?«
»Nehmen Sie das Bild, Frau König. Vielleicht sollten Sie einmal den Lehrer befragen, der damals für die Klasse zuständig war. Das hat Ihr Vater, soweit ich weiß, versäumt.«
»Mein Vater hat nichts versäumt. Woher haben Sie das Foto überhaupt?«
Er lehnt sich zurück. Ein amüsiertes Funkeln macht sich in seinen Augen breit. »Habe ich jetzt doch Ihr Interesse geweckt?«
Ich schlucke meine Antwort herunter.
»Woher ich das Bild habe, tut nichts zur Sache. Wenn es Ihnen wichtig ist, kommen Sie schon selbst dahinter. Ich möchte Sie nur bitten, mir das Bild zurückzugeben. Tun Sie mir den Gefallen. Diesen einen, Frau König. Ich bin heute sehr müde und möchte mich gern hinlegen. Ich werde Sie nicht mit sinnlosen Fragen über Ihr Privatleben löchern.«
Hellmar sieht in der Tat so aus, als könnte ihm der Kopf jeden Moment auf die Tischplatte knallen, und dabei bin ich erst ein paar Minuten hier. Erst jetzt fällt mir auf, dass er sich heute nicht die Mühe gemacht hat, seine Gefängniskluft abzulegen, im Gegensatz zu gestern. In diesen Anzug würde er zweimal passen, so locker sitzt er. Anscheinend hat Hellmar in der letzten Zeit viel Gewicht verloren. Einen Augenblick lang habe ich Mitleid mit ihm. Die Medikamente scheinen ihm stärker zuzusetzen, als ich dachte. Und die Erinnerungen an seine Frau wieder auszugraben belastet ihn zusätzlich. Aber ich habe es mit einem Serienmörder zu tun, der auf uns zugekommen ist und sich selbst in diese Lage gebracht hat. Mein Mitleid verfliegt so schnell, wie es gekommen ist. Und jetzt soll ich zusätzlich einen Botengang für den Kerl erledigen. Ich verkneife mir, was ich Hellmar jetzt gern an den Kopf werfen würde, greife nach dem Bild und verlasse den Raum, ohne mich umzusehen.
Jo, der mich aus dem Gefängnis hinausbegleitet, muss sich anstrengen, um mit mir Schritt zu halten. Wenigstens hält er heute den Mund. Ich koche vor Wut und weiß nicht, wie ich zur Polizeiwache kommen soll, ohne sämtliche Radarfallen auszulösen.
»Zwei Tage verbringe ich mit diesem Idioten, und ich habe nichts, absolut nichts.« Frustriert umklammere ich den Kaffeebecher, den Alex mir in die Hand gedrückt hat, als ich wie eine Furie zu ihm ins Büro gestürzt kam. »Sagtest du nicht vorgestern, dass ich ganz fix in meinen Urlaub zurückkann? Ich bin nicht einen Schritt weitergekommen. Ich habe vier Leichen und einen Mörder, der seit zehn Jahren hinter Gittern sitzt, sich über das Motiv aber weiterhin ausschweigt. Stattdessen will er Schnitzeljagd spielen und überreicht mir ein altes Klassenfoto, um das er auch noch ein Riesengeheimnis macht. Was immer ich damit anstelle, ich wette mit dir, dass er mich beim nächsten Mal über mein Lieblingsgericht ausfragt, wenn ich wieder zu ihm ins Gefängnis komme. Und am Ende muss ich froh sein, wenn es nur das ist und er nicht noch meine Körbchengröße wissen will.« Ich lache auf, so absurd ist diese Situation. Um mich zu bremsen, nehme ich einen Schluck von dem Kaffee. Immerhin ist der Inhalt meiner Tasse die Bezeichnung wert, im Gegensatz zu der Plörre von vorhin.
Alex hat meinen Wortschwall schweigend über sich ergehen lassen. »Du hast doch gerade erst angefangen, aber Geduld war noch nie deine Stärke«, sagt er, und ich sehe genau, dass er sich ein Grinsen nicht verkneifen kann.
»Spar dir deinen Sarkasmus!«, fahre ich ihn an.
»Sorry, aber du bist süß, wenn du dich aufregst«, antwortet er ungerührt.
Ich suche nach einer passenden Antwort, aber mir fällt keine ein.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?«
»Gerade läuft einfach nichts nach Plan«, bringe ich hervor. »Ich bin in Laasphe statt im BKA in Wiesbaden, weil ich Mist gebaut habe. Ich wohne mit achtundzwanzig wieder bei meiner Mutter. Und jetzt muss ich mich mit dem letzten Fall meines Vaters auseinandersetzen und mich mit dem Monster abgeben, das ihn uns weggenommen hat, als er noch am Leben war.« Dass das Wiedersehen mit Alex zusätzlich alte Wunden aufreißt, verschweige ich.
»Ich für meinen Teil bin froh, dass du wieder da bist«, sagt er leise.
Ein paar Sekunden lang sehen wir einander wortlos an. »Ich versuche mal, mehr über dieses Bild zu erfahren«, wechsele ich das Thema und greife nach dem Foto, das ich zwischen uns auf den Tisch gelegt hatte. »Hellmar meinte, dass ich mit dem damaligen Lehrer der Schulklasse sprechen sollte. Ich muss herausfinden, wer das ist.«
Die Qualität des Fotos lässt zu wünschen übrig. Aber auf diesem Bild sind sie alle vertreten: Simone Hellmar, geborene Stumpf, Helen Schulte, Gisela Schröter, Veronica Baumeister, geborene Hirsch. Und Robert Hellmar.
Auf der Rückseite gibt ein kleiner Stempel das Jahr an, in dem es aufgenommen wurde. Zu der Zeit müssten die Opfer um die achtzehn Jahre alt gewesen und in die zwölfte Klasse gegangen sein. Möglicherweise ist das Bild kurz vor dem Abitur entstanden. Warum hat Hellmar mir ausgerechnet dieses Foto gegeben? Fünfundzwanzig Schüler strahlen in die Kamera. Auf den Fotos, die ich in der Datenbank finde, sind alle Frauen Anfang vierzig. Ein Vergleich mit den Mädchen auf dem Bild ist nahezu unmöglich, auch wenn ich weiß, dass sie sich alle darauf befinden. Der Einzige, den ich einwandfrei identifizieren kann, ist Robert Hellmar selbst. In der hinteren Reihe grinst er breit in die Kamera, mit einem Selbstbewusstsein, wie es nur achtzehnjährige Jungs haben. Doch egal, wie ich mich anstrenge, ich kann die Opfer keinem der Mädchen auf dem Foto mit Bestimmtheit zuordnen. Dafür haben sie sich nach der Schulzeit zu stark verändert. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als das zu tun, was Hellmar mir aufgetragen hat, und herauszufinden, wer der Lehrer auf dem Bild ist.