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ОглавлениеMittwoch
Am nächsten Morgen geht es Hellmar immer noch nicht besser. Man verspricht mir, dass er Ende der Woche wieder Besuch empfangen darf. Es ist unerträglich für mich, diese Frage auf der Zunge zu haben und sie niemandem stellen zu können.
»Du konntest noch nie ruhig am Tisch sitzen«, reißt meine Mutter mich aus meinen Gedanken. Wir sind zusammen beim Frühstück. Sie war alles andere als begeistert, dass ich hier in Laasphe einen Auftrag erhalten und deswegen nicht wie erwartet Urlaub habe. Wie ich meine Zeit ihrer Meinung nach besser hätte verbringen sollen, weiß ich nicht. Doch sie hat wahrscheinlich gehofft, dass ich sie nutze, um zur Ruhe zu kommen und eben nicht mehr pausenlos rumzuzappeln. Ich verschweige ihr, auf welchen Fall ich angesetzt wurde. Es reicht, wenn ich mich mit den Geistern der Vergangenheit herumschlagen muss.
»Heute ist es besonders schlimm«, fährt sie fort. »Am liebsten würde ich dir deinen Kaffee wegnehmen und dir stattdessen einen Beruhigungstee geben.«
»Es geht mir gut«, erwidere ich, ziehe die Tasse jedoch sicherheitshalber ein Stück näher an mich heran.
Sie öffnet den Mund, überlegt es sich dann aber anders. »Was hast du heute vor?«
»Ich fahre auf die Polizeiwache und recherchiere weiter. Habe ich dir erzählt, dass Alex dort arbeitet?«
Meine Mutter reißt die Augen auf und verschluckt sich an ihrem Kaffee. Ich springe auf und klopfe ihr auf den Rücken.
»Unser Alex?«, keucht sie.
»Ja, Alex«, bestätige ich. Die Zurechtweisung, dass er schon lange nicht mehr unser Alex ist, spare ich mir.
»Wie geht es ihm? Was macht er so?«
»Er wirkt recht zufrieden auf mich. Er trägt jetzt einen Bart.«
»Einen Bart? Das muss ich unbedingt sehen! Und was gibt es sonst Neues?«
»Nichts, Mama. Wir arbeiten zusammen und hatten noch keine Zeit, zu reden.«
»Oh. Na dann.«
Ich versuche, ihren enttäuschten Blick zu ignorieren, und wundere mich selbst, warum ich so defensiv klinge. Als wäre es meine Schuld, dass ich Alex nicht weiter ausgequetscht habe. Vielleicht ärgert es mich insgeheim, wie wenig ich über ihn weiß. Es ist ja nicht so, als würde es mich nicht brennend interessieren, was in seinem Leben passiert.
»Ich mache mich dann mal auf den Weg«, beende ich das Gespräch, bevor meine Mutter die Gelegenheit hat, weiter Salz in alte Wunden zu streuen.
»Du hast noch nicht mal ausgepackt«, ruft sie mir hinterher. »Ich sehe das, weißt du.«
Ich verkneife mir eine Antwort.
Was ist ihr Problem? Immerhin ist einer meiner Koffer geöffnet. Die Zahnbürste und diverse Utensilien habe ich im Bad ausgebreitet. Mein Schlafanzug liegt auf dem Bett. Eine neue Jeans habe ich bereits herausgesucht, das dreckige Ding von gestern habe ich in den Wäschekorb befördert. Ja, es wäre übersichtlicher, alles, was ich mitgebracht habe, in den Kleiderschrank zu packen. Stattdessen knie ich vor einem der beiden Koffer und krame darin nach meinen Laufschuhen. Wenn ich nicht zu Hellmar darf, werde ich eine Runde joggen, bevor ich mich auf die Wache begebe. Ich muss den Kopf frei kriegen.
Der halbe Kofferinhalt liegt auf dem Boden verstreut vor mir. Warum werfe ich ihn bei dieser Gelegenheit nicht direkt in meinen Schrank? Einen Moment hadere ich mit mir. Es wäre so unkompliziert, jetzt die Schranktür zu öffnen, einen Stapel Kleidung zu nehmen und ihn dort einzuräumen. Doch es ist mir nicht möglich. Irgendetwas in mir sperrt sich dagegen. Als ich die Schuhe gefunden habe, räume ich alles wieder in den Koffer. So kann ich mir weiter einreden, dass ich jederzeit gehen kann. Ohne Zeit zu verlieren. Und ohne einen Blick zurück.