Читать книгу Die Brautflüsterin - Sanna Lindström - Страница 5
Der schönste Beruf der Welt
ОглавлениеIch durfte schon viele magische Brautmomente miterleben. Keinen von ihnen werde ich je vergessen. Manche bleiben mir besonders im Gedächtnis, weil sie mich noch lange beschäftigt haben. Wie dieser hier: Eines Tages kam eine Braut zur Anprobe, die sehr zurückhaltend war. Sie erzählte mir, was sie für Probleme mit ihrem Körper hatte und dass sie deshalb keine Vorfreude, sondern vor allem viel Angst vor der Anprobe mitbrachte. Kurz gesagt: Sie wollte die Brautkleidsuche einfach hinter sich bringen und hoffte, wenigstens irgendein Kleid zu finden, in welchem sie nicht allzu schlecht aussehen würde.
Nachdem wir uns lange unterhalten hatten, wusste ich, dass diese Brautkleidsuche eine Herausforderung sein würde. Obwohl ich keine Zweifel daran hatte, dass es ihr Traumkleid gab. Ich musste jedoch überlegen, wie ich möglichst sanft vorging, damit sie nicht »zumachte« und aufgab. Also fing ich mit einem Kleid an, von dem ich wusste, dass es ihr gut stehen würde. Es hatte einen Schnitt, der ihre Proportionen gut zur Geltung brachte und von ihr ungeliebte Körperstellen kaschierte. Ich hoffte, sie würde sich darin wohlfühlen. Ich wäre auch schon mit einem »nicht unwohl fühlen« zufrieden gewesen. Ein Schritt nach dem anderen.
Als die Braut sich das erste Mal im Spiegel sah, war es, als ob ein Teil einer großen Last von ihr abfallen würde. Sie sagte nur ein Wort: »Wow!« Es stellte sich zwar heraus, dass es noch nicht ihr Kleid war. Sie fühlte sich auch nicht wie die schönste Frau der Welt. Aber sie fühlte sich schöner und wohler, als sie es je für möglich gehalten hatte. Die Braut entspannte sich, und ich sah, dass Hoffnung in ihr aufkeimte, doch noch ein Traumkleid zu finden. Es war nur ein Funke. Aber ich sah ihn sofort. Daraufhin wagte ich den nächsten Schritt mit einem anderen Kleid. Ich legte eine winzige Schippe drauf und schlug ihr eines vor, bei dem sie etwas skeptischer war. Aber sie vertraute mir und probierte es an. Mit jedem Kleid ließ sich die Braut mehr und mehr fallen. Mit jedem Kleid erwachte auch ein Stück Freude an der Suche in ihr. Man merkte, dass sie sich Körperteil für Körperteil etwas mehr lieben konnte.
Als ich ihr das vierte Kleid vorschlug und sie sich darin zum Spiegel drehte, passierte etwas mit ihr. Sie weinte nicht, sagte auch nichts, aber ihr Blick war plötzlich ganz anders. Die Braut stand wie versteinert auf dem Podest und starrte sich an. Ihr Blick veränderte die Stimmung im Raum. Niemand sagte etwas, es war fast schon unangenehm still. Ich konnte nicht richtig deuten, was vor sich ging. Ihr Blick und ihre Körpersprache waren schwer zu lesen. Sie stand einfach da, vollkommen ruhig. Irgendwann fing sie an, sich zur einen und zur anderen Seite zu drehen. Aber auch das tat sie sehr langsam, wie in Zeitlupe. Während dieser Zeit, die sich für mich wie eine Ewigkeit anfühlte, wandte sie nicht ein einziges Mal den Blick von sich ab. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, ich musste wissen, was los ist. Also fragte ich sie vorsichtig: »Was geht in deinem Kopf vor?«
Sie sprach noch einen langen Moment kein Wort. Dann sagte sie, ohne den Blick vom Spiegel zu wenden: »Ich weiß nicht so richtig, was ich sagen soll. Aber ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich so schön aussehen kann. Ich kann einfach nicht aufhören, mich anzuschauen.«
Ich bekomme jetzt noch Gänsehaut, wenn ich an diese Anprobe denke. Jeder im Raum fing an zu weinen. Weil jeder sehen konnte, dass dort ein Mensch auf dem Podest stand, der sich zum ersten Mal im Leben richtig liebenswert fand. Wir haben alle gespürt, dass dieses Kleid für sie viel mehr war als nur ein Traumkleid. Es war ein Schlüssel zu einer Tür. Als sie durch diese Tür hindurchgegangen war, sah sie sich mit anderen Augen. Sie legte die Härte ab, mit der sie sich immer betrachtet hatte. Sie fand ein Stück neues Selbstbewusstsein, klein wie ein junger Trieb, der aber stark genug war, zu einer wunderschönen Blume heranzuwachsen. In diesem Moment dachte ich einmal mehr, wie glücklich ich mich schätzen konnte, diesen absoluten Traumberuf gefunden zu haben.