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Mein Name ist Sanna Lindström. Ich bin dreißig Jahre alt und komme ursprünglich aus Schweden. Auf Schwedisch bedeutet Sanna »wahr« und »wahrhaftig«, und genau das möchte ich mit meiner Geschichte auch sein. Vor sechs Jahren bin ich nach Deutschland ausgewandert. Das war ein riesiger Schritt für mich, der alles andere als einfach war. Aber ich tat es aus dem wohl besten Grund, den man dafür haben kann: die große Liebe. Drei Jahre zuvor bin ich während eines Urlaubs in Vietnam Simon begegnet. Es war ganz klischeemäßig die Liebe auf den ersten Blick. Nachdem wir drei Jahre in einer Fernbeziehung gelebt hatten, traf ich 2014 die große Entscheidung, meine Heimat zu verlassen und nach Deutschland zu ziehen. Im selben Jahr heirateten wir. Mittlerweile sind Simon und ich nicht mehr nur zu zweit, denn seit 2019 gibt es auch noch unseren Sohn Liam.

Das sind nur ein paar der großen Eckpunkte meines Lebens, doch natürlich gibt es noch viel mehr. Vor vier Jahren habe ich mich als Brautmodendesignerin selbstständig gemacht und wenig später ein Brautmodengeschäft in Ratingen eröffnet. Heute betreibe ich gemeinsam mit meinem Mann mehrere Ateliers in Nordrhein-Westfalen. Einige kennen mich vielleicht aus dem Fernsehen: Ich bin die fröhliche Schwedin mit den blonden Locken und dem »niedlichen Sprachfehler«, die in der VOX-Sendung Zwischen Tüll und Tränen zu sehen ist. Mehrmals im Monat begleiten mich ein paar Kameras bei der Arbeit und filmen mich dabei, wie ich Bräuten bei der Suche nach ihrem Traumkleid für den schönsten Tag ihres Lebens helfe. Während der Aufzeichnungen lächle ich in die Kameras und bin der Sonnenschein, der in seiner pastellfarbenen Welt herumtanzt. Die Zuschauer vor den Bildschirmen sehen eine unbeschwerte, gut gelaunte Schwedin, die alles dafür tut, verliebten Frauen ihre Brautkleidträume zu erfüllen.

Was allerdings nicht im Fernsehen zu sehen ist und was nur wenige wissen, ist, dass mein Weg bis hierhin alles andere als »pastellig« war. Dass hinter dem strahlenden Lächeln, das so viele von mir kennen, sehr viel mehr steckt als nur Sonnenschein. Denn es gab einen Tag in meinem Leben, der alles verändert hat. Dieser Tag war nur der Anfang eines langen und schmerzhaften Weges. Doch so merkwürdig es sich manchmal auch für mich selbst anfühlt: Ich bin tatsächlich die fröhliche Schwedin, die in Zwischen Tüll und Tränen zu sehen ist. Ich spiele das nicht vor.

In diesem Buch soll es um beides gehen – um die hellen, glücklichen und strahlenden Momente, aber auch um die schwere Zeit in meinem Leben. Denn das, was ich durchmachen musste, hat meine Perspektive auf das Leben und mich selbst für immer verändert. In diesem Buch geht es um meinen Weg von Schweden nach Deutschland, um die große Liebe, um Familie und den Spagat, den man hinbekommen muss, wenn man gleichzeitig Mutter und Unternehmerin sein will. Es geht darum, wie viel Angst es machen kann, einen vorbestimmten Weg zu verlassen, um auf unbekannten Pfaden echte Erfüllung zu suchen – mit dem Wissen, diese nur möglicherweise zu finden. Es geht darum, dass man auf diesem Weg vielleicht beängstigenden Hindernissen begegnet, aber auch darum, dass selbst die dunkelste Stunde und jede vergossene Träne wichtige Schritte sein können. Denn es ist der ganze Weg, und nicht nur die Abschnitte, die in der Sonne liegen, der am Ende zu der Antwort auf die Frage führt, wer man ist und was man auch im Leben von anderen zu bewirken vermag. Und natürlich geht es auch immer wieder um das, was mich und so viele andere Frauen auf der Welt begeistert und glücklich macht: Brautkleider.

Doch ich will nicht vorgreifen. Beginnen wir einfach am Anfang.

Ich bin am 2. März 1990 in Uppsala in Schweden geboren. Genau, Uppsala, diesen Ort gibt es tatsächlich. In Deutschland bekomme ich oft lustige Reaktionen, wenn ich von meiner Heimatstadt erzähle. »Upsala!« sagt man hier, wenn etwas herunterfällt. Mein Uppsala jedoch ist die viertgrößte Stadt in Schweden. Das sagt nicht besonders viel aus, denn die Städte in Schweden sind kleiner als in Deutschland. Uppsala zählt nur rund 170.000 Einwohner und ist damit in etwa so groß wie Oldenburg. Uppsala ist eine wundervolle Stadt, und ich hätte mir keinen besseren Ort für mein Aufwachsen wünschen können. Es ist die perfekte Mischung aus Stadt und Land. In Uppsala fahren alle Fahrrad, und ich konnte wirklich überall mit dem Rad hin. Jeder Ort in Uppsala und alle Freunde waren nur ein paar Minuten entfernt. Ich fuhr bei jedem Wetter, typisch schwedisch eben. Selbst wenn dreißig Zentimeter hoher Schnee liegt, treten wir, bewaffnet mit Spikes, in die Pedale. Meinen Führerschein machte ich erst, als ich nach Deutschland kam.

In Uppsala kennt jeder jeden. Es fühlt sich zumindest so an. Wenn ich eine deutsche Stadt nennen müsste, die mich an meine Heimatstadt erinnert, fällt mir Münster ein. In Uppsala gibt es ein Stadtzentrum, von dem alles ausgeht, und genau wie Münster ist Uppsala eine vom Studentenleben geprägte Universitätsstadt. Es ist immer viel los, aber es gibt ebenso viel Natur. Die Natur, die ich meine, ist nicht die bekannte Landschaft, die man auf Bildern von Nordschweden sieht. Uppsala liegt eher in der Mitte des Landes. Dennoch sind es die typisch schwedischen Wälder und Felder, die man auch hier findet. Mein Elternhaus lag nah an einem solchen Wald. Diese Nähe zur Natur hat mich sehr geprägt, ich könnte fast sagen, dass ich im Wald aufgewachsen bin. Von kleinsten Kindesbeinen an habe ich mit meiner Familie Ausflüge in die Natur gemacht. Oft war es mein Vater, der meine Brüder und mich zu Abenteuerausflügen mitnahm. Wir waren Klettern oder haben im Wald ein Feuer gemacht, gegrillt und geschnitzt. Es gibt Bilder, auf denen wir Kinder durch die Gegend laufen und gefährlich große Schnitzmesser an unseren Hosen hängen haben. Heute würde man sich darüber wundern – so kleine Kinder und Messer? –, aber in Schweden gehörte das dazu. Für mich war jeder Ausflug ein spannendes Abenteuer. Alles kam mir unendlich groß vor. Als ich vor ein paar Jahren zu den Abenteuerorten meiner Kindheit zurückkehrte, stellten sich die riesigen Berge als kleinere Hügel heraus, die ich locker mit ein paar Schritten besteigen konnte. Damals aber, ausgestattet mit der Kletterausrüstung, die mein Vater für uns gekauft hatte, waren diese Hügel für mich nichts anderes als die schwedische Ausgabe der Alpen. Was habe ich unsere Ausflüge geliebt!

Es sind aber nicht die Abenteuer in Uppsala, die mir als Erstes einfallen, wenn ich an meine Kindheit denke. Stattdessen denke ich an einen besonderen Ort, der im südschwedischen Skåne liegt, sechs Autostunden von meinem Elternhaus entfernt: Skegree. Dort wohnten meine Großeltern. In Skegree verbrachten wir unsere Sommer und viele Weihnachtsfeste. Für mich war das der tollste Ort auf der Welt. Noch heute bekomme ich eine wohlige Gänsehaut, wenn ich an die schönen Zeiten dort denke. Gegen Skegree ist Uppsala eine Weltstadt: Es ist ein winziger Ort mit nichts drum herum als Wiesen und Felder. Ich erinnere mich an die riesigen Mohnfelder mit den roten Blumen. Sie haben sich geradezu in mein Gedächtnis gebrannt. Die Vorfreude auf die Sommer dort begann schon, wenn wir unsere Sachen packten und ins voll beladene Auto stiegen. Meine armen Eltern, was haben wir drei Kinder uns im Auto gestritten! Meine beiden älteren Brüder und ich haben uns innig geliebt, was uns aber nicht daran gehindert hat, uns mit aller Leidenschaft zu zanken. Vor allem im Auto. Mein Vater bekam nicht selten den ein oder anderen Tritt in seinen Sitz, während er den Wagen steuerte. Die Fahrten nach Skegree waren also nicht immer ruhig und einfach. Dafür waren es aber die Pausen: Wir tranken jedes Mal O’boy, ein Kakaogetränk, das alle Kinder in Schweden kennen. Und bis heute kann ich mich an den besonderen Geschmack der Eier-sandwiches erinnern, die unsere Mutter vorbereitet hatte. Die Brote waren in schönes altes Brotpapier gewickelt. Das Knistern, wenn ich mein Brot mit dem geschnittenen Ei auspackte, habe ich noch heute im Ohr. Es ist mit einem wunderbaren Gefühl verbunden.

Wenn es auf den Fahrten ruhiger wurde und ich aus dem Fenster schaute, konnte ich sehen, wie sich die Landschaft veränderte. Mit jeder Veränderung stieg die Vorfreude, denn ich wusste: Wir kommen Oma und Opa und einem weiteren tollen Sommer immer näher! Es gab Landmarken, nach denen wir Ausschau hielten. Da war die kleine Steinkirche am Rand von Skegree, in der meine Eltern geheiratet hatten. Dieser idyllische Platz hat mich geprägt, denn er ist mit so vielen Erinnerungen verbunden. Wenn ich an meine Großeltern denke und die Sommer, die wir zusammen mit ihnen verbracht haben, sehe ich immer diese Steinkirche vor mir. Vielleicht ist das der Grund, warum auch ich unbedingt in einer solchen Kirche heiraten wollte. Wenn wir sie sahen, wussten wir: Jetzt ist es bald so weit. Sofort hielten wir Ausschau nach der nächsten Landmarke: einem großen Schornstein. Dieser gehörte zum Grundstück meiner Großeltern, auf dem eine Töpferei stand. Er war riesig und deshalb schon von Weitem zu sehen. War der Schornstein ins Blickfeld gekommen, handelte es sich nur noch um wenige Minuten. Die letzten Felder zogen an den Autofenstern vorbei, und dann waren wir auch schon da. Oma und Opa warteten auf dem gepflasterten Hof auf uns. Hinter ihnen stand ihr niedriges, aber großes Haus mit den grünen Fensterrahmen. Sobald das Auto gehalten hatte, rissen wir die Türen auf und rannten ihnen entgegen. Das war der Anfang des Sommers, ein tolles Gefühl!

Das Erste, was meine Brüder und ich taten, nachdem wir unsere Großeltern begrüßt hatten, war, zum Smultron-Feld zu rennen. Smultron ist eine Art Beere, so ähnlich wie Erdbeeren. Wir hockten im Feld, pflückten die Früchte und sammelten sie auf Stroh, während unser kleiner Hund Tessy um uns herum hüpfte. Tausend Erinnerungen habe ich an all das, was diesen Ort für mich so besonders macht. Wir spielten Piraten, trugen Fußballmatches aus, kletterten auf Bäume und sorgten uns um nichts. Es war wie aus einem Bilderbuch.

Natürlich fand der Großteil meiner Kindheit in Uppsala statt. Auch hieran habe ich die besten Erinnerungen. Wir wohnten in einem Haus mit großem Garten in einer tollen Nachbarschaft. Die Straße, an der unser Haus lag, war ruhig. Trotzdem war das Stadtzentrum schnell zu erreichen. Auf der Straße spielten immer Kinder, so auch wir. Wir, das sind meine Brüder Tobias und Andreas und ich. Tobias ist der älteste von uns, gefolgt von Andreas und schließlich mir. Zwischen uns liegen jeweils nur eineinhalb bis zwei Jahre. Ich liebte es, die kleine Schwester meiner coolen großen Brüder zu sein! Wir verbrachten unsere Kindheit eng zusammen und haben bis heute eine innige Beziehung zueinander. Vielleicht auch deshalb, weil uns nicht viele Jahre trennen.

Ansonsten lebte ich inmitten von Nachbarskindern und Schulfreunden. Vielleicht lag es an meinen Brüdern, aber als Kind war ich kein typisches Mädchen-Mädchen. Im Gegenteil: Ich war sehr jungenhaft und wollte nie so richtig einsehen, dass ich anders sein sollte als meine Brüder. Zwar spielte ich auch mit Puppen, aber die meiste Zeit war ich mit meinen Brüdern und ihren Freunden unterwegs, was ich sehr cool fand. Es hat die beiden nie gestört, dass oft die kleine Schwester dabei war. Wir haben einfach sehr viel gemeinsam unternommen. Ich fand es fantastisch, große Brüder zu haben.

Fast ebenso toll fand ich die Schule. Besonders in den ersten Jahren habe ich sie regelrecht geliebt. Ich würde mich nicht als Streberin bezeichnen, aber die Schule machte mir so viel Freude, dass ich immer in der ersten Reihe saß und meine Hand hochschoss, sobald eine Frage gestellt wurde. Wenn man etwas mit so großer Leidenschaft tut, passiert es fast automatisch, dass man gut darin ist. So war es bei mir. Oft kam es vor, dass ich Aufsätze schrieb, obwohl wir sie gar nicht aufbekommen hatten. Als kleines Kind dachte ich mir: Das kommt bestimmt bald dran, und dann habe ich es schon gemacht. Einfach weil ich Spaß daran hatte. Es reizte mich, gute Noten nach Hause zu bringen, obwohl meine Eltern das nicht erwarteten und nie danach fragten. Ich liebte das Lernen, und ich liebte die Lehrer. Neue Sachen zu lernen und Dinge zu können, machte mich froh. Es eröffnete mir neue Welten.

Auf der anderen Seite machten mich Fehler tatsächlich traurig. Ein einziger war noch kein Weltuntergang. Aber wurden es mehr, war das für mich sehr schlimm. Ich zog meine Motivation aus Erfolgen, die mir außerdem eine Menge Spaß machten. So kam es, dass ich lange Jahre nie eine Note schrieb, die schlechter war als das, was in Deutschland eine Eins ist. In Schweden gibt es ein anderes Notensystem: Entweder du bestehst eine Klausur nicht, du bestehst sie, du bist gut oder du bist sehr, sehr gut. Ich wollte in jedem Bereich dieses »sehr, sehr gut« erreichen. Ich hatte schnell gemerkt, dass ein »sehr, sehr gut« oder sogar ein »noch besser als sehr, sehr gut« Begeisterung bei meinen Lehrern und natürlich auch bei meiner Familie hervorriefen. Das führte dazu, dass ich damit anfing, diese besonders guten Noten haben zu wollen, die eigentlich gar nicht existierten. Rückblickend betrachtet, war es wohl abzusehen, dass dies nur in einem überwältigenden Leistungsdruck enden konnte. Denn wie sollte ich etwas erreichen, das gar nicht erreichbar war? Obwohl ich mir also immer sehr viel Mühe gab, versagte ich in meinen Augen, wenn ich einen möglichen Pluspunkt nicht erreichte. Später wandelte sich mein anfängliches Lernglück deshalb in etwas anderes: in einen ungesunden Druck, der mich fast kaputtmachte und mir die Freude an der Schule nahm.

Neben der Schule hatte ich diverse Hobbys. Es gab immer etwas Spannendes zu tun. Vor allem Sport bestimmte einen großen Teil meines Lebens. Das galt auch für meine Brüder. Schon mit vier Jahren war ich in der ersten Fußballmannschaft. Fußball war bei uns ein großes Ding: Meine Brüder spielten, meine Mutter betreute das Team mit, und mein Vater war auch immer voll dabei. Wir spielten immer und überall – natürlich auch bei meinen Großeltern in Skåne. Dort gab es in der Nähe einen Fußballplatz, zu dem wir oft zusammen fuhren. Wir zogen unsere Schienbeinschoner, Socken, Fußballschuhe und unsere Trikots der schwedischen Nationalmannschaft an. Ich trug immer das Trikot meines Idols: Henrik Larsson. Als kleines Mädchen war er mit seinen langen Haaren für mich der Größte, Schönste und Tollste gewesen. So ausgestattet, erreichten wir das Fußballfeld. Andreas war der Torwart, und wir spielten, bis wir nicht mehr konnten. Meine Eltern und Großeltern feuerten uns an, während Tessy jedem Ball hinterherjagte. Oft schossen wir mit solcher Wucht, dass der Ball in den umgebenden Getreidefeldern landete und wir ihn suchen mussten. Aber das machte uns nicht das Geringste aus. Der Spaß am Fußball verband uns miteinander.

Was ich von Anfang an am Fußball liebte, war das Teamgefühl, das sich einstellt, sobald man Teil einer Mannschaft wird. Die Unterstützung und der Zusammenhalt waren Gründe, warum ich meine ganze Kindheit, Teenagerzeit und noch bis kurz vorm Studium viel Ballsport gemacht habe. Gibt es etwas Schöneres, als ein Teil von etwas Größerem zu sein, für das alle ihr Bestes geben und an dem jeder Spaß hat? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Deshalb kamen zum Fußball noch viele Sportarten dazu. Es gab Zeiten, da trainierte ich bis zu elf Mal in der Woche, und es gab kaum eine Sportart, die ich nicht ausprobierte.

Fußball war meine erste große Sportliebe. Insgesamt spielte ich zwölf Jahre in Fußballmannschaften. Hier knüpfte ich sehr enge Freundschaften, von denen einige bis heute bestehen. Wir wohnten alle in derselben Stadt, und mit vielen ging ich auch in dieselbe Schule. Dementsprechend viel Zeit verbrachten wir Fußballerinnen miteinander. Meine längste Freundin, Elisabeth, lernte ich schon im Bauch kennen, denn ihre Mutter ist die beste Freundin meiner Mutter – und beide wurden gleichzeitig mit uns schwanger. Wir wuchsen zusammen auf, gingen in dieselbe Klasse und spielten zusammen Fußball. Trotzdem hätten wir unterschiedlicher nicht sein können. Als Kind war Elisabeth eher schüchtern, während ich vor nichts Angst hatte und alles tat, worauf ich Lust hatte. Ich sprach mit jedem und kam auf immer neue Ideen. Wir waren Gegensätze, aber vielleicht zogen wir uns gerade deshalb an.

Dass ich so lebensfroh war und immer neue Sachen ausprobieren wollte, brachte mich im Alter von neun Jahren zu meiner zweiten Sportliebe: Basketball. Es war die klassische Liebe auf den ersten Blick, wie ich sie später noch einmal erfahren sollte. Gerade waren die Sommerferien angebrochen, als ich hörte, dass an meiner Schule ein Basketball-Sommercamp angeboten wurde. Ich dachte: »Das hört sich cool an, das muss ich ausprobieren!« Insgesamt ging das Sommercamp vier Wochen, und man konnte sich für jeweils eine Woche anmelden. Also war ich gleich bei der ersten Woche dabei. Alle Teilnehmer bekamen zu Beginn ein Trikot und einen Basketball, und ich wurde schnell total verrückt nach diesem Sport. Ich lernte Jens Tillmann kennen, einen der Camptrainer, der auch später für lange Zeit mein Basketballtrainer wurde und viel Einfluss auf mein Leben nahm. Aber auch die anderen Trainer fand ich toll. Lehrer und Trainer standen bei mir generell ganz hoch im Kurs, und ich baute enge Beziehungen zu ihnen auf, weil ich merkte, wie viel sie mir beibringen konnten.

Nach der ersten Campwoche hatte ich Basketballfeuer gefangen. Ich überredete meine Eltern, mich auch für die weiteren Wochen anzumelden. Als sie es dann wirklich taten, jubelte ich vor Freude. Die Basketballszene hatte mich in den Bann gezogen. Als die letzte Woche des Camps vorbei war, beschloss ich, der Stadtmannschaft beizutreten. Aus einem anfänglichen Hobby wurde mit den Jahren ernsteres Training. Als Jens Tillmann beschloss, die Stadtmannschaft als Trainer zu übernehmen, hätte ich nicht glücklicher sein können. Er war mein großes Vorbild, und er wurde eine immer wichtigere Person für mich. Ich spielte rund 14 Jahre Basketball, am Ende auf einem recht hohen Level. Wir spielten unzählige Turniere und waren dabei auch gar nicht mal so schlecht. Wir schafften es, die zweitbeste Mannschaft im Norden zu werden. Irgendwann wurde ich Reservespielerin für die schwedische Nationalmannschaft, doch das machte mich unglücklich. Es hört sich vielleicht komisch an, aber was mir mit der Schule passiert war, geschah nun auch hier: Die Leidenschaft schlug um und verwandelte sich in einen großen Leidensdruck. Es begann damit, dass ich es meiner Familie oder Freunden nicht mehr erlaubte, mir bei Spielen zuzugucken. Schon die Vorstellung, wie sie mir zusahen, fand ich einfach nur schlimm. Ich spürte eine so große Angst davor, was sie über mich denken könnten, wenn ich Fehler machte oder Körbe nicht traf, dass sie nicht mehr dabei sein durften. Nur so war es mir noch möglich, entspannt zu spielen.

Daraufhin dachte ich lange Zeit darüber nach, mit dem Basketball aufzuhören. Es war nicht der einzige Sport, dem ich nachging. In meiner Teenagerzeit lebte ich fast in der Sporthalle: Ich trainierte zwei Mal die Woche mit der Basketballschulmannschaft, mehrmals in der Woche mit der Stadtmannschaft – und dazu kam noch das Fußballtraining. Die Frage war nur: Wie sollte ich mit etwas aufhören, demgegenüber ich so eine Verantwortung fühlte? Ich wollte meinen Trainer nicht enttäuschen, zu dem ich so eine starke Bindung hatte. Also spielte ich noch eine Weile weiter, obwohl die Leidenschaft dafür immer weniger wurde. Irgendwann war ich so unglücklich, dass ich es schaffte, mich vom Basketball zu trennen. Die Erleichterung stellte sich sehr schnell ein. Es war schon lange schwer gewesen, alles unter einen Hut zu bekommen: den Sport, die Schule, die Noten. Es tat gut, ein bisschen weniger zu machen.

Ab einem bestimmten Punkt in meiner Teenagerzeit merkte ich, dass ich manchmal einen weiteren Druck spürte. Besonders wenn ich die typischen Mädchengruppen in der Schule sah, die alles zusammen machten. Ich hatte nie zu so einer Mädels-Gang gehört, denn ich war von klein auf immer mit Jungs zusammen gewesen. Was auch toll war, aber eine Medaille hat immer zwei Seiten. Natürlich hatte ich Freundinnen. Aber auch die fand ich beim Sport. Wenn wir in der Schule Freizeit hatten, gehörte ich zu denjenigen, die mit den Jungs Fußball spielten. Was die anderen Mädchen derweil machten, hatte mich nie interessiert. Ich hatte sehr viele Freunde, meine Mannschaften, und ich war immer sehr sozial. Doch in der Pubertät fiel mir auf, dass ich die Mädchengruppen um ihren starken Zusammenhalt beneidete. Sehr lange Zeit war mir das egal gewesen, aber plötzlich fühlte ich mich deshalb oft einsam.

Wenn ich heute zurückdenke, wie viel ich in meiner Kindheit gemacht habe, kommt es mir vor, als hätten meine Tage vierzig Stunden gehabt. Meine Eltern sagen, dass ich enorm viel Energie hatte. Die Schule und die vielen Sportarten waren nämlich längst nicht alles, was ich tat. Ich sprudelte über vor Lebensfreude und Tatendrang, sodass ich ständig an irgendeinem Projekt dran war. Dazu gehörte auch eine Vielzahl von »Geschäften«, für die ich ständig neue Einfälle hatte. Zum Beispiel betrieb ich ein kleines Nähatelier im Wohnzimmer. Zwar war mein einziger zahlender Kunde mein Vater, aber durch diese Idee konnte ich mir ein bisschen Taschengeld verdienen. Er brachte seine kaputten Jeans, und ich stopfte die Löcher. Das Ergebnis war meist nicht besonders schön, aber ich hatte meine Freude daran. Das merkte auch mein Vater. Ich glaube, in einige Jeans hatte er mit Absicht Löcher gemacht, weil er es mochte, wenn ich glücklich meiner kleinen Arbeit nachging.

Oft bauten meine Freundinnen und ich Marktstände in unserer Straße auf. Wir boten Obst, Popcorn oder Limonade an. Schon früh am Morgen bastelten wir Werbeschilder und verkauften den ganzen Tag Erfrischungen. Wir riefen »Färskpressad Lemonad!«, und die Leute blieben an unserem Stand stehen und ließen sich ein Glas einschenken. Ich erinnere mich auch daran, dass ich in der Nachbarschaft umherlief, um selbst gepflückte Blumen zu verkaufen. Diese ganzen Unternehmungen machte ich nicht vorrangig, um Geld zu verdienen. Zum größten Teil tat ich es, weil es mir Spaß machte, die Wünsche der Kundschaft zu erfüllen und Menschen glücklich zu machen. Ich war sehr kreativ, wenn es um die Erschließung neuer »Geschäftsfelder« ging. Doch am meisten liebte ich die Arbeit rund um die jährlichen Weihnachtszeitungen.

Mit diesen Weihnachtszeitungen hatte es Folgendes auf sich: Kinder und Jugendliche bekamen einen Bücherkatalog und konnten sich in der Vorweihnachtszeit ihr Taschengeld aufbessern, indem sie als eine Art Vertreter von Tür zu Tür gingen. Man klingelte bei den Nachbarn und zeigte ihnen die angebotenen Bücher und Magazine. Bestellte jemand etwas aus dem Katalog, bekam man einen Bonus. Zusätzlich gab es für jeden Verkauf Punkte. Je nachdem, wie viele Punkte man am Ende der Vorweihnachtszeit gesammelt hatte, konnte man sich eine Prämie aussuchen. Je mehr Punkte man hatte, desto tollere Prämien warteten auf einen. Zur Wahl standen dann zum Beispiel Fernseher, Fahrräder oder Videokameras. Also so richtig coole Sachen.

Bei dieser Arbeit hatte ich großen Spaß daran, mir richtige Strategien auszudenken. Ich versetzte mich in die Lage meiner Kunden und überlegte, wofür sie sich interessieren könnten. Hatten sie Kinder? Was würde sie glücklich machen? Dann traf ich eine Vorauswahl, um ihnen passende Bücher empfehlen zu können. Ich hatte viel Freude daran, zu überlegen, wie ich meine Sache so gut wie möglich machen konnte. Prämien waren super, doch am meisten liebte ich das Gefühl, Energie in etwas zu stecken, bei dem etwas Gutes herauskam. Ich machte andere glücklich. Was gab es Schöneres, als mit den Leuten in ihren Häusern zu sitzen, den Katalog durchzublättern und Sachen auszusuchen, die ihnen gefallen könnten? Wie großartig war das Gefühl, wenn ich mich verabschiedete und sie lächelten!

Nun war es so, dass viele Kinder an dieser Arbeit mit den Weihnachtszeitungen Spaß hatten. Auch meine Geschwister. Es machte keinen Sinn, wenn wir drei gleichzeitig losgingen und gegeneinander arbeiteten. Deshalb legten meine Eltern fest, dass wir uns jährlich abwechselten. Wenn ich nicht an der Reihe war, bemerkte ich, dass meine Brüder nicht mit der gleichen Leidenschaft an die Sache herangingen wie ich. Das störte mich irgendwie. Ich schaute ihnen zu und brannte darauf, selbst loslegen zu können. Schließlich schlug ich meinen Brüdern ein Geschäft vor: Ich bot ihnen an, ihre Jahre zu übernehmen und sie dafür zu fünfzig Prozent zu beteiligen. Im Nachhinein betrachtet, war das für mich »wirtschaftlich« kein gutes Geschäft. Ich machte alles, sie gar nichts, und trotzdem bekamen sie die Hälfte ab. Aber darum ging es mir nicht. Ich schloss diesen »Geschäftsdeal« deshalb ab, um dem nachgehen zu können, was mir Freude machte. Ganz nebenbei entdeckte ich so auch meinen Spaß am Unternehmertum, den ich mir bis heute bewahrt habe.

Mit all diesen Unternehmungen und Dingen verknüpfte ich damals keinerlei berufliche Pläne. Als ich mein kleines Nähatelier im Wohnzimmer betrieb, schwebte mir nie vor, später einmal Modedesignerin für Hochzeitskleider zu werden. Ich hatte auch nicht vor, eine Limonadenfabrik zu eröffnen oder als Vertreterin zu arbeiten. Ich tat diese Dinge, weil sie mir Freude bereiteten. Nur eine einzige Sache wundert mich heute, und ich weiß nicht, wie bewusst ich das damals notierte. Ich kann mich nicht mal an den genauen Zeitpunkt erinnern, als ich mit neun Jahren in mein Tagebuch schrieb: »Wenn ich später in mein Büro gehe und als Modedesignerin arbeite …« Wer weiß schon, wann man zum ersten Mal die Richtung zu dem Weg einschlägt, den man später gehen wird? Selbst wenn ich damals diesen oder einen ähnlichen Wunsch gehabt hatte, so war er mir nie bewusster gewesen als jeder andere Berufswunsch, den ich damals hatte. Und davon gab es eine Menge. Eine ganze Weile war es ein großer Wunsch von mir, Innenarchitektin zu werden. Ich wollte Häuser einrichten, mir überlegen, welche Familien darin wohnen würden und welche Möbel zu ihnen passten. Mein Zimmer wurde zu dieser Zeit gefühlt jede Woche umgestaltet. Ich fragte mich immer wieder, wie ich meine vier Möbel platzieren konnte, damit es schön wird.

Ein Berufswunsch, der mich sehr lange begleitete, war, ein kleines Café zu besitzen. In meinen Vorstellungen lag es an einer ruhigen Straßenecke. Draußen gab es einen Hof mit Eisenstühlen, wie ich sie später tatsächlich vor meinem ersten Atelier in Ratingen haben sollte. Mein Café war nicht irgendein Café, denn hier gab es etwas ganz Besonderes zu kaufen: Kuchenteig. Ich denke, jeder hat eine Speise, nach der er verrückt ist. Bei mir war es schon immer Kuchenteig. Ich bin regelrecht besessen davon. Manchmal stellte ich mich in die Küche und rührte Teig an, nur um ihn auszulöffeln. Als Kind wusste ich nicht, dass es wenig gesund ist, rohe Teigmasse in sich hineinzuschaufeln. Doch bis heute kann ich einer Schüssel Kuchenteig kaum widerstehen. Lange Zeit wunderte ich mich, warum mir nie ein Kuchen gelang. Jedes Mal kam am Ende nur ein trockener Haufen heraus. Ich konnte es mir nie erklären, doch irgendwann fiel mir mein Fehler auf: Selbst wenn ich mich einigermaßen beherrschen konnte, aß ich ein Drittel des Kuchenteigs schon vor dem Backen auf. Klar, dass daraus dann nichts werden konnte: Hitze und Backzeit sind schließlich auf eine ganz andere Masse ausgelegt. Die Café-Gäste hätten sich um Backzeiten aber keine Sorgen machen müssen, denn: Es hätte keine gegeben. Wer wollte, hätte sich einfach einen bestimmten Kuchenteig aussuchen können, der dann mit einem Löffel serviert werden sollte.

So reihten sich in den Jahren verschiedenste Berufswünsche aneinander. Nur Modedesign war nie dabei. Das Einzige, was vielleicht in die Richtung deutete, war meine Leidenschaft, Ballkleider zu zeichnen. Das tat ich eine Zeit lang oft mit einer Freundin. Anlass für dieses Kleiderzeichnen war ein ganz besonderes Kleid, das ich liebte: das Kleid von Belle aus Die Schöne und das Biest, meinem absoluten Lieblings-Disney-Film. Ich stellte mir das Kleid wieder und wieder vor und träumte davon, wie ich es irgendwann bei meiner ersten Verabredung tragen würde. Damals dachte ich, man würde bei Dates solche Kleider tragen.

Hobbymäßig nähte ich mir in meiner Jugend viele Röcke oder Kleider. Auch mein Abiballkleid stammte am Ende von mir selbst. Das Problem bei meinen »Schneiderkünsten« war jedoch meist, dass bei mir alles schnell gehen musste. Ich war und bin sehr ungeduldig. In meinem Kopf geht es oft ein klein wenig chaotisch zu. Wenn ich damals einen Rock vor Augen hatte, kaufte ich einen Stoff und nähte ohne Schnittmuster drauflos. Deshalb ging vieles auch in die Hose oder hielt nur für einen Abend. Bei Röcken und Kleidern drapierte ich Schleifen und Bänder, es wurde gewickelt und zusammengebunden und fiel dann beim Ausziehen wieder auseinander. Für mich reichte das aus. Ich versteckte unschöne Nähte und mochte, was ich kreierte. Aber Kleidung ernsthaft zu produzieren oder zu verkaufen, war nichts, woran ich auch nur mit einem Gedanken dachte. Nähen war ein Hobby, nicht mal eine große Passion. Ich glaube, was mir an allem, was ich tat, am meisten Spaß machte, war die kreative Seite. Es mag deshalb verwundern, dass ich nach meinem Abitur etwas studierte, das auf den ersten Blick gar nichts mit Kreativität zu tun hat: Medizin.

Die Brautflüsterin

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