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Wer kein Blut sehen kann, sollte nicht Medizin studieren
ОглавлениеIn Schweden ist es üblich, nach dem Abitur nicht sofort mit dem Studium anzufangen. Man nutzt eine gewisse Zeit, um zu arbeiten oder zu reisen. Auch für mich ging es nach dem Abi erst mal nach Asien. Deshalb rückte die Uppsala Universitet erst 2010, eineinhalb Jahre nach meinem Abi, ins Zentrum meines Alltags.
Dass ich ein Medizinstudium begann, hatte verschiedene Gründe. Der wohl wichtigste davon war, dass ich aus einer Arztfamilie stamme: Mein Vater ist Chirurg, und auch meine Mutter arbeitete im Krankenhaus. Dort lernten die beiden sich auch kennen. Meine Brüder studierten Medizin, meine Schwägerin ist Ärztin, und auch viele meiner Freunde schlugen diese Richtung ein. Es war großartig und motivierte mich sehr, mit meinen Brüdern und Freunden zusammen zu studieren. Ich stellte die Entscheidung für das Medizinstudium auch deshalb nie groß infrage. Wir machten es einfach alle. Dazu kam, dass ich die Noten dafür hatte. Und das war gar nicht so einfach. Um ein Medizinstudium in Schweden zu beginnen, muss man supergute Noten haben – eine 1,0 in jedem Fach. Ein Medizinstudium war bei mir also ein bisschen vorprogrammiert. Auch deshalb hatte ich schon in der Schule immer den Anreiz gehabt, die besten Noten zu schreiben. Ich wusste: Falls ich später Medizinerin werden will, muss ich gut sein. Es gab auch Zeiten, in denen ich mich gefragt habe, ob ich das wirklich will. Aber als ich mein Abiturzeugnis in den Händen hielt, war auch klar, dass ich jetzt die Chance dazu hatte. Warum sie nicht nutzen? Hinzu kam, dass es nichts anderes gab, was ich unbedingt machen wollte. Da war nichts, bei dem ich dachte: Das will ich zu tausend Prozent und von Herzen tun! Deshalb lag Medizin einfach nahe. Bei all der Unsicherheit war mir aber klar: Chirurg werden wie mein Vater wäre nichts für mich. Ich dachte daran, Kinderärztin zu werden, recherchierte aber auch Arzteinsätze in Krisengebieten wie bei Ärzte ohne Grenzen. Diese Gedanken hatte ich zumindest im Hinterkopf. Beim Studium fand ich schnell heraus, dass es vielen so ging wie mir. Wenn ich jemanden fragte, warum er Medizin studierte, kam oft die Antwort: »Ich komme aus einer Arztfamilie und wusste nicht, was ich sonst machen sollte.« Ich war mit den Zweifeln, die es tief in mir gab, also nicht allein.
Das Medizinstudium hatte aber auch Seiten, die ich von Anfang an mochte. Zum Beispiel erlebte ich eine große Erleichterung, weil es endlich keine Noten mehr gab. Man bestand oder eben nicht. Ich hatte mich seit Jahren unter extremen Leistungsdruck gesetzt, und zum ersten Mal in meinem Leben war er plötzlich weg. Unter den Kommilitonen gab es keinen Wettbewerb. Wir halfen uns gegenseitig und motivierten einander. Ich genoss diese Kultur des Lernens. Ich bin ein Mensch, der Leute um sich herum braucht, die mich unterstützen und mir Mut machen. Ein Umfeld, das mich motiviert. Dieses Umfeld fand ich an der Uni. Ich war so erleichtert, mich zum ersten Mal nicht so verrückt machen zu müssen, dass ich die erste Klausur dann fast nicht bestand. Das war sehr untypisch für mich. Ich merkte dadurch, dass ich mich doch ein bisschen mehr anstrengen sollte, was ich dann auch tat. Durch den Wegfall des Druckes machte mir das Lernen wieder Spaß. Auch wenn Medizin ein wirklich hartes Studium ist.
Es gibt es kaum etwas Schöneres, als in Uppsala zu studieren, denn die Stadt ist wie für Studenten gemacht. Alles ist toll organisiert. Beispielsweise gibt es die Nations, das sind Studentenorganisationen, denen jeder Studierende beitreten kann. Innerhalb dieser Gruppen gibt es einen tollen Zusammenhalt, und man unternimmt eine Menge miteinander. Bei den vielen internationalen Studenten, die in Uppsala zusammenkommen, lernt man viele Leute kennen und hat unendlichen Spaß. Eine besondere Tradition beim Studieren in Schweden ist das Nollning. Das Wort kommt vom Schwedischen nolla und hat mit der Zahl Null zu tun. Die Erstsemester werden in dieser Zeit »genullt«, also ins Studium eingeweiht. Von den älteren Semestern werden sie dazu in Teams aufgeteilt, müssen Aufgaben lösen und Wettbewerbe untereinander austragen. Manchmal ist das richtig gemein, aber insgesamt einfach witzig. Was das Studium in Uppsala angeht, kann man sagen: Es geht viel ums Feiern und Spaß haben. Auch ich hatte in meiner Uni-Zeit extremen Spaß. Besonders schön fand ich, dass ich zusammen mit meinem Bruder Andreas studierte. Wir waren ein super Team und hatten viele gemeinsame Freunde. Wir feierten laut und lernten leise nebeneinander, weil wir beide dazu Stille brauchen – es war einfach richtig cool. Doch eines blieb die ganze Zeit über bestehen: Das Medizinische packte mich nicht so richtig. Es war nicht meine Leidenschaft.
Ich liebte zwar die menschliche Seite am Medizinstudium, wenn wir direkt mit Patienten zu tun hatten. Andererseits mochte ich Krankenhäuser nicht besonders. Und dann gibt es noch diese eine Sache, die mich für den Arztberuf am meisten disqualifiziert: Ich kann kein Blut sehen. Das bemerkte ich sehr deutlich, als ich das erste Mal mit einer großen Wunde konfrontiert wurde. Einem älteren Herrn war eine Axt auf den Kopf gefallen und ein riesiges Loch klaffte an seinem Schädel. Überall war Blut. Zu helfen, diese Wunde zu versorgen, war für mich sehr schlimm. Immer mehr drängte sich mir der Gedanke auf, dass Medizin vielleicht einfach nichts für mich war. Mir fehlte die Begeisterung, die es für solch einen wichtigen Beruf braucht. Mein Dilemma war aber, dass ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte. Also studierte ich weiter.
Nach einem Klausurenmarathon am Semesterende beschlossen meine Freundin Lisa und ich, uns in den Semesterferien für die ganze Lernerei zu belohnen – und zwar mit einer Reise nach Thailand. Deshalb buchten wir drei Tage nach der Klausur einfach einen Flug nach Bangkok. Sonst buchten wir nichts. Wir hatten nicht den geringsten Plan, außer dass wir weit weg etwas Schönes miteinander erleben wollten.
Wenige Tage später standen wir mit unseren Rucksäcken am Flughafen der thailändischen Hauptstadt und stellten uns voller Vorfreude nur eine Frage: »Was machen wir jetzt?« Wir suchten ein Internetcafé und recherchierten Ziele innerhalb von Asien. Am Ende entschieden wir, ein paar Tage in Bangkok zu bleiben und dann weiter nach Vietnam zu reisen. Drei wunderschöne Tage später fanden wir uns deshalb erneut an einem Flughafen, dieses Mal in Vietnam, und stellten uns dieselbe Frage wieder: »Was machen wir jetzt?« Es war toll, einfach zu tun und zu lassen, was uns einfiel. Eine Flugreise nach Saigon und eine gefühlt unendlich lange Zugfahrt auf harten Holzbänken später landeten wir in Nha Trang, einem kleinen Ort an der Küste des Südchinesischen Meeres.
In Nha Trang folgte zunächst Ernüchterung: Hier waren auf den ersten Blick außer uns überhaupt keine Touristen! Nicht dass wir auf Touri-Hochburgen aus waren, aber wir waren jung und wollten etwas erleben, feiern und Leute kennenlernen. Also erkundeten Lisa und ich erst einmal den Ort, um herauszufinden, was Nha Trang neben Strand und Natur noch zu bieten hatte. Tatsächlich fanden wir am Abend die Why Not-Bar. Schon von Weitem sahen wir Leute unter freiem Himmel sitzen und ließen uns vom Nachtleben anstecken. Gleich beim Eintreten bemerkten wir einen langen Tisch, an dem viele junge Menschen saßen und eine Menge Spaß hatten. Beim Vorbeigehen schaute ich zu ihnen herüber und fing dabei einen Blick auf, der mich gleich in seinen Bann zog. Lisa und ich setzten uns an einen anderen Tisch, bestellten Getränke und unterhielten uns. Doch immer wieder wanderte mein Blick zu dem langen Tisch am Eingang zurück, und immer wieder wurde mein Blick erwidert. Ich wusste damals nicht, dass ich gerade zum ersten Mal den Menschen sah, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte. Aber ich wusste: Der Typ sieht wirklich gut aus! Die ganze Zeit, die Lisa und ich in der Bar verbrachten, hatten er und ich Blickkontakt und lächelten uns zu. Es lag Spannung in der Luft, und ein paar Schmetterlinge fingen an, in meinem Bauch herumzuflattern. Ansonsten aber passierte nichts und schließlich verließen Lisa und ich die Bar, um weiterzuziehen. Ab hier unterscheiden sich Simons und meine Erzählungen von unserem Kennenlernen etwas. Bis heute ist jeder von uns sicher, dass nur die eigene Version die richtige ist.
Simon
»Du Vollidiot! Warum hast du sie nicht angesprochen?!«, fragte ich mich immer wieder, als die große, wunderschöne blonde Frau die Why Not-Bar mit ihrer Freundin verlassen hatte. Wir hatten uns den ganzen Abend angeschaut und angelächelt, doch nach einem letzten langen Blick war sie weg. Großartig, Simon! Ob ich sie je wiedersehen werde?
Ich war ganz zufällig in Nha Trang gelandet. Nachdem ich in Hongkong studiert hatte, war ich mit meinem sehr guten Freund Basti auf einer Reise durch Südostasien. In der Nähe von Nha Trang hatte der Nachtbus eine Panne. Also strandeten wir in dem kleinen Küstenort und warteten, bis der Bus repariert wurde oder ein neuer kam, um uns abzuholen. Diese Panne war der einzige Grund, warum wir uns genau an diesem Tag in Nha Trang aufhielten, an dem auch Sanna und Lisa dort waren. Sonst hätte uns nichts hierhergezogen. Am Abend landeten Basti und ich also in der Bar, wo wir von ein paar Australiern in Trinkspiele verwickelt wurden. Als Sanna hereinkam, traf es mich wie ein Fausthieb, so angetan war ich von der ersten Sekunde. Ich sagte zu Basti: »Oh mein Gott, schau dir diese Frau an!«, und konnte mich nicht davon abhalten, den ganzen Abend über immer wieder zu ihr rüberzuschauen. Doch ich unternahm nichts – und dann verließ sie mit ihrer Freundin die Bar und war weg.
Nun saß ich neben Basti und die Trinkspiellaune war mir vergangen. Meine Gedanken drehten sich nur um diese Frau. Laut Lonely Planet gab es in diesem Ort nur zwei Möglichkeiten, wo man sich abends aufhalten konnte: die Why Not-Bar und einen Open-Air-Beachclub. Ich hoffte dramatisch, Sanna dort noch mal wiederzusehen. Als wir später in den Klub gingen, suchte ich die Menge mit meinen Blicken ab, aber sie war nirgends zu entdecken. Es wurde später und später, doch sie tauchte nicht auf. Frustriert bestellte ich einen Drink nach dem anderen und ließ nur widerstrebend den Gedanken zu, dass ich sie wohl nie wiedersehen würde.
Als ich jedoch später auf der Tanzfläche stand, wurde ich von hinten angetanzt. Ich drehte mich um und schaute in die strahlendsten Augen, die ich je gesehen hatte. »Das kann doch nicht wahr sein«, war alles, was ich dachte. Ich war völlig baff. Doch noch mal würde ich die Gelegenheit nicht verstreichen lassen und fragte sie sofort nach ihrem Namen.
»Sanna«, sagte sie und lächelte dabei so unendlich süß, dass ich mich zum zweiten Mal an diesem Abend in sie verliebte. Ich schlug ihr vor, einen Spaziergang zu machen, denn ich wollte – musste! – sie unbedingt kennenlernen. In dem lauten Beachclub würde das unmöglich gehen. »Ja«, sagte sie, ging zu ihrer Freundin und sprach mit ihr. Ich war völlig nervös und spürte Sannas Anwesenheit neben mir überdeutlich, als wir die ersten Schritte Richtung Strand gingen. Stundenlang schlenderten wir umher und konnten nicht aufhören, miteinander zu reden. Ich verliebte mich unsterblich.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fragte Basti, wie mein Abend verlaufen sei. »Das hört sich vielleicht komisch an«, antwortete ich, »aber ich glaube, ich muss diese Frau heiraten.«
Ich konnte mich später nicht mehr daran erinnern, dass ich das am nächsten Morgen zu Basti gesagt hatte. Die Euphorie hatte mich in andere Sphären versetzt. Doch auf Bastis Feier zu seinem 30. Geburtstag, eine Woche, nachdem Sanna und ich uns verlobt hatten, kam er in einer kleinen Ansprache auf diesen Morgen in Vietnam zu sprechen. Und es ist wahr: Wenn ich mich zurückbesinne auf die Zeit, erinnere ich mich, dass ich Sanna am liebsten schon vor Ort in Vietnam einen Antrag gemacht hätte. Weil ich so sehr das Gefühl hatte, dass sie genau diejenige ist, nach der ich schon immer gesucht habe.
Als Lisa und ich die Bar verlassen hatten, gingen wir in den einzigen Klub, den es in Nha Trang gab: den Sailors Beachclub. Er befand sich gerade einmal hundert Meter die Straße herunter. Sofort stürmten wir auf die Tanzfläche und wirbelten ausgelassen herum. Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter, und als ich mich umdrehte, stand der süße Typ aus der Bar vor mir.
»Wie heißt du?«, fragte er mich auf Englisch.
»Sanna«, antwortete ich, und wir lächelten uns an. So erinnere ich mich an unsere ersten Worte. Er meinte zu mir, dass es sehr laut sei, und ob ich nicht Lust hätte, mit ihm einen Strandspaziergang zu machen. Dieser total hübsche Typ wollte mich kennenlernen, natürlich hatte ich Lust! Ich ging zu Lisa, erzählte ihr, dass ich jemanden getroffen hatte und mit ihm spazieren gehen wollte. Sie unterhielt sich auch mit jemandem und freute sich für mich. Schon nach den ersten Metern kamen Simon und ich aus dem Reden gar nicht mehr heraus. Stundenlang liefen wir nebeneinander und vergaßen alles um uns herum. Es war so schön. Wir kamen sogar auf die Idee, baden zu gehen. Leider stellten wir am Ende fest, dass in der Zwischenzeit jemand Simons Handy und meine Kamera geklaut hatte. Es ist zwar nicht ungewöhnlich, dass an solchen Stränden Diebstähle passieren, aber es war natürlich trotzdem ein ganz schöner Mist. Wir ließen uns die Laune aber nicht verderben und hatten auch nach dem Diebstahl noch einen sehr schönen Abend. Wir redeten fast die ganze Nacht durch. Simon erzählte mir, dass er nur zufällig an diesem Ort gelandet sei, und auch ich erzählte, wie es dazu gekommen war, dass Lisa und ich uns in Nha Trang aufhielten. Waren es unglaubliche Zufälle oder Schicksal? Ich weiß es nicht, bin aber unglaublich froh, dass alles genau so gekommen ist.
Am nächsten Morgen beschlossen Lisa und ich, dass wir den Tag am Strand verbringen würden. Mir ging es nach der durchfeierten Nacht echt nicht gut. Als wir nach stundenlangem Baden, Sonnen und Dösen wieder ins Hotel liefen, fühlten wir uns, wie man sich immer nach einem solchen Tag fühlt: duselig, verschwitzt und sandig. Nicht gerade ein Augenblick, in dem man jemandem begegnen möchte, den man gerade erst kennengelernt hat und so toll findet. Aber natürlich trafen wir genau in diesem Moment wieder auf Simon und Basti! Es gab keine Möglichkeit, sich zu verstecken, denn sie hatten uns gesehen und kamen auf uns zu. Ich dachte nur: »Oh nein! Peinlich!«, weil ich mich hässlich fühlte. Doch es half nichts, da waren sie schon. Aber es wurde einfach schön: Zusammen verbrachten wir den ganzen Nachmittag am Strand, und wieder kamen Simon und ich aus dem Quatschen nicht mehr heraus.
Ursprünglich wollten Simon und Basti nur eine Nacht in Nha Trang bleiben und am nächsten Tag ihre Reise fortsetzen. Am Ende blieben sie ganze drei Tage, weil Simon und ich uns total ineinander verknallt hatten. Im Nachhinein hätten wir vielleicht nicht gedacht, dass daraus etwas so Großes werden würde. Aber dass es mehr war als nur ein kleiner Urlaubsflirt, spürten wir beide. Dennoch stand die Frage im Raum, ob das alles eine Zukunft haben konnte: Ich kam aus Schweden, er aus Deutschland … würden wir uns überhaupt wiedersehen?
Nach drei Tagen hieß es Abschied nehmen. Es war eine schwere Trennung. Wir standen auf der Straße, und als ich ging, drehte ich mich immer wieder zu Simon um. Zu dieser Zeit blieb man in der Regel über Facebook in Kontakt. Doch in Vietnam war Facebook nicht erlaubt. Dazu kam, dass ich noch nie ein großer Social-Media-Mensch gewesen war. Ganz im Gegenteil: Ich schaute so gut wie nie auf mein Handy, höchstens, wenn ich meine Eltern anrufen wollte. So bemerkte ich nicht, dass Simon mir sofort, nachdem wir abgereist waren, schon die erste Nachricht auf Facebook geschrieben hatte. Jeden Tag fuhr er mehrmals zwanzig Minuten zu einem Internetcafé, um nachzuschauen, ob ich geantwortet hatte. Aber vergeblich. Wenn ich heute daran zurückdenke, wie er gelitten haben muss, tut es mir im Herzen weh. Erst zwei Wochen später las ich seine Nachricht. Ich schrieb ihm daraufhin eine lange Nachricht zurück. Er antwortete sofort – doch ich war schon wieder weg, und es dauerte erneut zwei Wochen, bis ich mich wieder meldete. Ich tat das nicht, weil ich nicht an Simon dachte oder weil er mir egal war. Ich war einfach nicht so ein Internetmensch. Abgesehen davon, dass es schwierig war, beim Reisen überhaupt eine Netzverbindung zu finden.
Heute bin ich dankbar, wie sehr Simon am Ball geblieben ist, was mich betrifft. Denn erst als ich wieder in Schweden war, loggte ich mich eines Abends bei Facebook ein und sah, dass er ebenfalls online war. Ein Chatfenster ploppte auf: »Mrs. Garlic!« Das war er. Er hatte mir diesen Spitznamen verpasst, da ich an unserem ersten Abend fürchterlich nach Knoblauch gerochen hatte. Lisa und ich hatten Bruschetta gegessen, und wie das so ist: Man selbst bemerkt den Geruch irgendwann gar nicht mehr. Er fand das superwitzig, mir war es natürlich ganz schön peinlich. Sofort fingen wir an zu chatten und konnten gar nicht mehr aufhören. Bis fünf oder sechs Uhr morgens saßen wir vor unseren Bildschirmen und schickten Nachrichten hin und her. Innerhalb von Sekunden entstand wieder dieses Gefühl, das wir beide bei unserem Kennenlernen gespürt hatten. Wir konnten nicht aufhören zu reden und kamen in einen Flow, der gar nicht mehr abreißen wollte. Niemand hatte mich bisher so verstanden, meinen Humor geteilt und über jeden meiner Witze gelacht. Ich hätte mir die Antworten auf meine Fragen gar nicht besser ausdenken können, so sehr passte alles zusammen. Andersherum war es genauso. Wir wussten beide: Das ist etwas ganz Besonderes. Von dieser durchchatteten Nacht an schrieben und skypten wir jeden Tag. Es dauerte nicht lange, bis wir ein Wiedersehen planten. Er bot an, nach Schweden zu kommen. Doch da ich sowieso vorhatte, nach England zu reisen, schlug ich vor, drei Tage vorher loszufahren, um ihn zu besuchen. Das tat ich dann auch. Nur dass aus den geplanten drei Tagen am Ende ganze zwei Wochen wurden, weil Simon und ich uns nicht wieder trennen konnten. Ich sagte England ab und verschob zwei- oder dreimal meinen Heimflug, weil ich nicht wieder nach Hause wollte. Seit dieser gemeinsamen Zeit gab es zwischen uns keine Zweifel mehr. Wir besuchten uns, so oft es ging und unsere Portemonnaies und Studienzeiten es zuließen. Wir fieberten auf jedes Wiedersehen hin und litten bei jedem Abschied unendlich. Irgendwie schafften wir es, uns wenigstens einmal im Monat zu sehen. Solange wir beim Abschied bereits ein genaues Datum wussten, an dem wir uns wiedersehen würden, konnten wir die Trennungen ertragen. Mehr als hundert Mal besuchten wir uns, bevor wir entschieden, dass wir auf die tränenreichen Abschiede verzichten und etwas ändern mussten. Doch dazu mussten einige teils schmerzliche Entscheidungen getroffen werden.
Eine dieser Entscheidungen betraf mein Studium. Ich machte sie mir nicht leicht. Ich hatte mit Medizin aus mehreren Gründen begonnen, die alle eine Gemeinsamkeit hatten: Sie kamen nicht aus meinem Herzen. Immer öfter spürte ich, dass mich das Studium nicht glücklich machte. Niemand hatte mich dazu gedrängt, die medizinische Laufbahn einzuschlagen, vor allem nicht meine Eltern. Dennoch verspürte ich einen gewissen Druck. Für meinen Vater war Arzt der beste Beruf der Welt. Auch meine Brüder gehen bis heute in ihrer Tätigkeit auf. Nur bei mir stellte sich nie diese Zufriedenheit ein. Dagegen stand, dass ich kein gutes Selbstbewusstsein hatte und mich deshalb sehr stark über das Medizinstudium definierte. Wenn jemand fragte, was ich tat, konnte ich antworten: »Ich studiere Medizin.« Das fand jeder anerkennenswert. Schließlich musste man klug sein und viel Disziplin mitbringen, um es in dieses Studium zu schaffen. Es hört sich vielleicht komisch an, aber mich erleichterte der »Stempel«, den mir das Medizinstudium gab. Es sagte aus, dass ich genügte und etwas mit meinem Leben anfing. Dass ich die Chancen, die mir gegeben wurden, nutzte. Dass ich mich schließlich dafür entschied, das Studium nach zwei Jahren abzubrechen, geschah nicht von heute auf morgen. Im Gegenteil: Es war ein langer und steiniger Weg, den ich ging, bevor ich sicher sein konnte, das Richtige zu tun.
In Schweden beginnt das Medizinstudium mit dem Prä-Klinikum, das vier Semester dauert. In dieser Zeit wird man mit viel Theorie auf die Praxis vorbereitet. Ich war am Ende meines Prä-Klinikums, als ich beschloss, mir eine Auszeit zu nehmen, um über meine Situation nachzudenken. Ich steckte in einem Konflikt, der mich sehr belastete: Ich könnte mit Medizin aufhören, aber was dann? Ich hatte keine Leidenschaft für etwas anderes, das an die Stelle der Medizin hätte treten können. Und was würden die anderen sagen? Meine Eltern, Freunde, Bekannte? Die Sanna, die doch so gute Noten hatte, hört einfach auf? Was macht sie stattdessen? Nichts? Da stand ich nun. Hinter mir zwei Jahre Studium, vor mir undurchdringliche Nebelschwaden der Zukunft, die mir so absolut nichts sagten. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich machen sollte. Also sorgte ich erst einmal für einen Ortswechsel und ging zwei Monate zu Simon nach Deutschland. Es war das erste Mal, dass wir so lange zusammen waren. In dieser Zeit begann ich darüber nachzudenken, nach Deutschland auszuwandern, denn hier fühlte ich mich von Anfang an wohl.
Doch auch in Deutschland begleitete mich täglich diese eine Frage: Was mache ich statt Medizin? Ich hatte viele Ideen, aber nichts hielt wirklich stand. Ein Innenarchitektur-Fernstudium von Deutschland aus? Oder vielleicht eines meiner Hobbys zum Beruf machen: Möbel restaurieren? Das Café, von dem ich so lange geträumt hatte, zum Leben erwecken? Doch würde mich das wirklich erfüllen, oder war es nur ein Ausweg? Würde ich es am Ende bereuen, die »sichere« Medizin aufgegeben zu haben? Ich drehte mich im Kreis. Das neue Umfeld in Deutschland, die Gespräche mit Simon und auch die neuen Leute um mich herum machten mir jedoch immer wieder klar: Medizin war einfach nichts für mich. Auch Simons Freunde und Bekannte führten mir das vor Augen. Ich war begeistert davon, was sie für Wege eingeschlagen hatten. Diese waren so anders als die, welche ich aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis kannte. Sie hatten eigene Firmen, studierten Marketing, machten Kreatives – jeder hatte auf seine Weise sein Glück gefunden. Je klarer mir wurde, dass ich in meinem Inneren eine unbekannte Tür aufgestoßen hatte, desto verzweifelter wurde ich. Einen Weg zurück konnte ich mir nicht mehr vorstellen. Doch noch traute ich mich nicht, durch diese neue Tür zu treten. Ich weiß nicht, wie viele Tränen ich in dieser Zeit der Unsicherheit vergossen habe. Drei Erkenntnisse halfen mir am Ende dabei, meinen Weg zu finden.
Eine Erkenntnis verdanke ich meiner Mama. Ich sprach mit ihr über meine Sorgen, und sie versicherte mir, dass ich nicht zur Uni gehen müsse. Sie selbst hatte in Krankenhäusern und Schulen gearbeitet, aber nicht studiert. Das fiel mir plötzlich wie Schuppen von den Augen: Meine Mama hatte nie studiert! Gleichzeitig ist sie aber der Mensch, den ich am meisten bewundere. Wie passte das zusammen mit meinem inneren Druck, dass ich studieren müsse, weil »man« es von mir erwartete? Gar nicht! Wenn mein größtes Vorbild nicht studiert hat und sie trotzdem der tollste Mensch der Welt ist, dann kann ja etwas an meinen Überlegungen nicht stimmen. Dieser Gedanke war wie ein Lichtstrahl in meinen verzweifelten Überlegungen: Meine Mutter war nicht zur Uni gegangen, wieso muss ich das dann machen? Ich fing zaghaft an, den Gedanken zuzulassen, dass ich auch okay war, wenn ich nicht studierte.
Die zweite Erkenntnis verdanke ich Simon. Er gab mir als erste Person eine ganz neue Sichtweise auf mein Leben. Dass ich es selbst in der Hand hatte, mein Glück zu finden. Er sprach als Erster ganz konkret aus: »Guck mal, Sanna, du bist nicht glücklich mit Medizin. Warum solltest du es dann weitermachen?« Stundenlang redeten wir darüber. Simon ging das Ganze sehr systematisch an. Er fuhr mit mir zum See, packte Notizblock und Stift aus, und dann begannen wir aufzuschreiben, was mich ausmacht. Was sind meine Stärken? Was meine Wünsche? Was will ich nicht? Wofür brenne ich? Simon nahm sich viel Zeit für mich und gab sich unendlich viel Mühe. Er war sich sicher: Wir finden eine Lösung, ganz klar! Noch nie hatte sich jemand in diesem Ausmaß zusammen mit mir Gedanken gemacht. In diesem Moment sah ich ganz deutlich, wie wichtig Simon für mich war und was für einen unglaublichen Mann ich da an meiner Seite hatte. Für das, was ich damals machen wollte, brauchte ich Mut. Durch und mit Simon fand ich ihn.
Die dritte Erkenntnis war ein Bild, das mir eines Abends in den Kopf kam. Ich lag auf dem Bett, starrte an die Decke und sah plötzlich zwei Wege vor mir. Der eine Weg ging in die Richtung weiter, aus der ich gekommen war. Er sah vor, dass ich mein Studium beendete, obwohl mich die Medizin nicht erfüllte. Es war kein schlechter Weg, er sah aus, als könne man darauf entspannt gehen. Ich würde genug Geld verdienen können, um meine Familie zu ernähren. Beruflich wäre ich aber vielleicht nur halb glücklich. Der andere Weg sah ganz anders aus, unsicherer. Da würde ich mich durch Gestrüpp schlagen müssen. Dieser Weg machte keine Versprechungen, aber er hatte Potenzial. Hier bestand die Möglichkeit, wirklich glücklich zu werden. Ich würde vielleicht auf etwas stoßen, das mich so erfüllte wie der Arztberuf meinen Vater. Die Entscheidung, die ich treffen musste, hieß plötzlich nicht mehr: »Medizin oder nicht?« Mit dem Bild der zwei Wege vor Augen hieß sie jetzt: »Sicherheit oder die Chance auf absolutes Lebensglück?« In mir machte es »Klick«: Ich musste diesen zweiten Weg gehen! Auch wenn ich keine Ahnung hatte, was mich erwartete. Aber zu wissen, dass auf diesem Weg zumindest die Chance auf ein noch unbekanntes Glück wartete, war eine wichtige Entdeckung. Mit meiner Mutter als Vorbild, Simon, der mir den Rücken stärkte, und dem Bild der zwei Wege vor Augen fand ich endlich den Mut, zu der bislang größten Veränderung meines Lebens »Ja« zu sagen. Es war wie ein Wendepunkt. Ab diesem Zeitpunkt sah ich nicht mehr nur das Beängstigende an der Situation, sondern auch das Aufregende.
Ich wäre jedoch nicht ich, wenn ich bei einer so großen Entscheidung einfach einen Cut gemacht hätte. Mir war es wichtig, hundertprozentig sicher zu sein. Deshalb bat ich meinen Vater, mir bei der Suche nach einem Praktikumsplatz in Deutschland zu helfen. Wenn ich erfahren wollte, wie sich der Berufsalltag in einem Krankenhaus anfühlte, musste ich es ausprobieren. Spätestens dann würde ich genau wissen, ob mein Bauchgefühl recht gehabt hatte. Über einen befreundeten Chefarzt erhielt ich wenig später tatsächlich die Möglichkeit, zu entdecken, ob irgendwo in mir drin vielleicht doch eine Medizinerin steckte. Während des Praktikums durfte ich in viele verschiedene Abteilungen reinschnuppern, obwohl ich in Wahrheit nur an einer interessiert war: der Pädiatrie. Ein Leben als Kinderärztin konnte ich mir am ehesten vorstellen. Doch bevor ich mich hier ausprobieren konnte, hieß es für mich zunächst: Auf in die Chirurgie! Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich darauf wenig Lust hatte. Doch ich blieb für alle Erfahrungen offen.
Schon am zweiten Tag sagte der Oberarzt zu mir: »Sanna, morgen haben wir eine Operation. Bist du dabei?«
»Ja«, antwortete ich, obwohl ich gleich einen Kloß im Hals spürte. Natürlich hatte ich in meinem Medizinstudium schon an Menschen gearbeitet. An einer echten OP hatte ich aber noch nie teilgenommen. Dementsprechend aufgeregt war ich. Am folgenden Tag stand ich um sechs Uhr im OP-Saal. Ich sollte assistieren und war deshalb die ganze Zeit angespannt. Dazu kam, dass ich vor lauter Aufregung noch keinen Bissen gegessen hatte. Nach zweieinhalb von vier Stunden Operation passierte deshalb etwas wenig Überraschendes: Vor meinen Augen begann sich der OP-Saal zu drehen. Ich konnte gerade noch sagen: »Okay, ich glaube, es geht mir nicht so gut.« Dann war ich auch schon in Ohnmacht gefallen. Was für ein toller Eindruck an meinem zweiten Tag!
Kaum zu mir gekommen, musste ich mich an diesem Tag noch einer zweiten OP stellen. Als ich am Abend nach Hause kam, war ich völlig erledigt. Aber ich wusste mit absoluter Sicherheit: Chirurgie war nicht mein Fach. Umso mehr freute ich mich, als endlich meine Zeit auf der pädiatrischen Station begann. Jetzt würde ich eine Antwort auf meine drängendste Frage finden. Und ich fand sie ziemlich schnell. Die Kollegen auf der Station hätten nicht herzlicher und die kleinen Patienten nicht lieber sein können, aber die Arbeit gefiel mir nicht. Alle bemühten sich sehr um mich, ich durfte überall dabei sein. Doch jeden Morgen fuhr ich mit einem riesigen Stein im Magen zum Krankenhaus. Ich nutzte jede Chance, um mit den Ärzten über ihre Arbeit zu sprechen. Doch meine Entscheidung nahm immer deutlichere Konturen an.
Schließlich klopfte ich eines Tages schweren Herzens an die Tür des Chefarztes und bat um ein Gespräch. Bei dem Chefarzt handelte es sich um Peter Goretzki, einen Freund unserer Familie, den ich schon von Kindesbeinen an kenne. Das machte es mir leichter, offen zu reden. Ich erzählte ihm, wie unglücklich ich mit meiner Berufswahl war. Dass mir das Praktikum jeden Tag aufs Neue zeigte, dass ich nicht für den Arztberuf geboren war. Dass ich mich deshalb wie eine Versagerin fühlte. Ich hatte erwartet, dass er antworten würde, wie die meisten vor ihm geantwortet hatten: dass alles eine Frage der Zeit war und ich meine Leidenschaft noch entdecken würde. Doch er überraschte mich. Er riet mir, mit der Medizin aufzuhören. Er erzählte mir von seiner Tochter, die einmal vor derselben Entscheidung wie ich gestanden hatte. Auch sie hatte einen anderen Weg eingeschlagen und es nicht bereut. Sie war ihrem eigenen Weg gefolgt, dem zweiten, unsicheren Weg. Dr. Goretzki sprach mit mir auf so eine empathische, menschliche Weise, dass ich endlich loslassen konnte. Er sagte mir, dass wir alle unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Interessen sind, die ihren eigenen Wegen folgen müssen – und dürfen. Letztendlich war es dieses Gespräch, das mich von der Last der Entscheidungsfindung befreite. Dafür bin ich ihm auf ewig dankbar.
Ab diesem Moment fühlte sich alles leichter an. Komisch, wie man manchmal im Nachhinein denkt: Wie konnte es so lange so schmerzhaft sein, diese Entscheidung zu treffen, die sich auf einmal einfach nur richtig anfühlt? Doch der Weg bis zu diesem Punkt ist eben das Schwierige. Nun aber, als die Würfel endlich gefallen waren, war ich überglücklich. Blieb nur noch diese eine winzig kleine Hürde übrig: Was sollte ich jetzt bloß tun?