Читать книгу Blaue Blumen zu Allerseelen - Santo Piazzese - Страница 5

Vorwort
Palermo, ein fließendes Mosaik?

Оглавление

Palermo ist ein hoffnungsloser Fall, eine Stadt, die »unerlösbar«* zu sein scheint. Das zumindest behaupteten in nicht allzu ferner Vergangenheit Sizilianer mit starkem Sinn für die sizilianischen Belange. Hartnäckig habe ich mich stets gegen das Nachplappern einer solchen Sentenz verwahrt. Denn im Laufe der Jahre und aufgrund der Ereignisse, die sicherlich Rechtfertigung genug dafür geliefert haben, war daraus letztlich einer jener Gemeinplätze geworden, der sich dank eifriger Verwendung zu einem konditionierten Reflex, ja zu einer regelrechten Verkrustung verdichtete und kaum mehr aus dem Bewusstsein, auch nicht aus dem der besonders »Wachgerüttelten«, herauszulösen ist. Denn uns Eingeborenen – lassen wir das Feigenblatt mal beiseite –, besonders den Intellektuellen unter uns, liefert ein solcher Spruch ein bequemes moralisches Alibi, um unser Sich-aus-allem-Raushalten, unser Auf-Distanz-Gehen von der so genannten res publica, unsere allfällige Verweigerungshaltung zu legitimieren.

Meine Widerstände, dessen bin ich mir vollkommen bewusst, sind mehr affektiver denn rationaler Natur: In dieser Stadt bin ich geboren, hier habe ich immer schon gelebt, zuweilen habe ich mir auch eine Tarnkappe aufgesetzt, und zwar in einer wackeligen Balance zwischen Schimpfen, sehnsüchtigen Fluchtgedanken und der Einsicht, dass es mir schlichtweg unmöglich ist, andernorts zu leben.

Ich bin mir ziemlich sicher, wäre Leonardo Sciascia heute noch am Leben, käme er um die Erkenntnis nicht herum, dass seine warnende Prophezeiung, die er in die berühmte Metapher von der Palmenlinie gekleidet hat, längst Wirklichkeit geworden ist. Die Nachricht, dass sich aufgrund der weltweiten Klimaerwärmung der nördlichste Breitengrad, auf dem die Palme optimale Lebensbedingungen vorfindet, pro Jahr um einige Zentimeter von Süd nach Nord verschiebt, hatte den aus Racalmuto gebürtigen Schriftsteller sehr nachdenklich gestimmt. Mit seiner bitterscharfen Ironie, der wir nie genug nachtrauern können, entwarf Sciascia das Bild der fortschreitenden Sizilianisierung ganz Italiens zum Schlechten hin.

Wovon er sich vermutlich keine Vorstellung machen konnte, ist die starke Beschleunigung, die dieser Prozess in den Jahren nach seinem Tod (er starb 1989) erfahren sollte. Italien, unrettbar verloren, hätte er heute gesagt. Und heute würde ich in dieser Aussage vielleicht einen Teil der Gründe finden, derentwegen ich eine Sonderstellung Palermos ablehne: Eine Weigerung, die, damit wir uns richtig verstehen, ganz und gar nichts Tröstliches an sich hat. Denn die Verwässerung unserer Verantwortung als Bürger Palermos und ihre Auflösung in einer kollektiven Verantwortung aller Italiener – als wäre es das Hinnehmen eines geteilten Leids – könnte für uns gewiss kein Trost sein.

Seitdem ich mich bei der Niederschrift meines ersten Romans bemüßigt gefühlt hatte, systematisch und, sofern möglich, auf wissenschaftliche Weise über die städtische Wirklichkeit nachzusinnen, kam ich nach und nach zu der Überzeugung: Sollte Palermo tatsächlich eine Besonderheit zu eigen sein, dann ist das nicht seine Unerlösbarkeit, sondern seine Vagheit, seine Vermeidungshaltung, seine Drückebergerei. Jedes Mal, wenn ich mich auf die Suche nach einem möglichen Kondensat machte, das heißt, dem nachspürte, was zuweilen mit einer gewissen Dramatisierung die Seele der Stadt genannt wird, bin ich mit schöner Regelmäßigkeit gegen eine Gummiwand geprallt. Ein fruchtloses Unterfangen, umso mehr noch für einen, der so manchen Zweifel an der Existenz einer Seele hegt, selbst beim Homo sapiens.

Mein Versuch ging in die Richtung einer anthropologischen Verschmelzung – und ich nehme als schlichter Beobachter, als, nennen wir es ruhig so, einfacher Mann von der Straße, gewiss nicht als Eingeweihter Zuflucht bei der Anthropologie – denn eine Stadt verstehen zu wollen, bedeutet selbstverständlich und vor allem, zu verstehen, wer ihre Bürger sind. Und das ist es, wo wir Palermitaner als Kollektiv ein Höchstmaß an widerständiger Verschleppungstaktik betreiben: ein passives und unbewusstes, wiewohl hartnäckiges Allem-aus-dem-Weg-Gehen.

Nun will ich mir keine Analyse über den Identitätsverlust der Stadt und ihrer Bewohner anmaßen – also den Niedergang der Gesellschaftsklassen und ihrer Führungsriege in der Zeit nach dem Bauboom der 60er und 70er Jahre; ich begnüge mich mit der Mutmaßung, dass die Schwierigkeit, Palermo zu lesen, die mehr als logische Konsequenz daraus ist.

In meinen Augen ist Palermo gegen jedwede Bestrebung gefeit, es unter einen gemeinsamen Nenner quetschen zu wollen.

Lange war ich überzeugt, dass nur ich mit einer derartigen Beschränkung geschlagen bin. Dass es andernorts luzidere Köpfe gibt, die in der Lage sind, sämtliche Signale, die diese Stadt unaufhörlich und seit eh und je sendet, zu empfangen, zu deuten und aus ihnen ein organisches und kohärentes Bild zu entwerfen. Widersprüchliche, aber starke Signale, denn Palermo ist ein Ort, der dauerhaft zwischen Agonie und übermäßiger Vitalität schwebt, der imstande ist, auf extreme Weise Schönheit und Grausamkeit, Furor und Trägheit, Niedertracht und Heldentum, Tristesse und Lebensfreude hervorzubringen. Zu verführen und zurückzuweisen.

Signale also, die in ein Fresko zusammenfließen. Und der Ort, der per Definition dazu bestimmt ist, Identitäten zu skizzieren, ob es sich um Metropolen oder Personen handelt, ist nun mal der Roman. Und in den Romanen, deren Handlung in dieser Stadt spielt, hoffte ich, selbige Identität zu finden.

Aber es gibt ihn nicht. Der Fresko-Roman, der Epochenroman oder wie es heutzutage so schön heißt, der Roman über das Universum Palermo, wartet noch darauf, geschrieben zu werden. Zumindest wartet er noch auf seine Veröffentlichung. Und das, so meine ich, ist kein Manko der palermitanischen Schriftsteller, es ist vielmehr die eigene Unfähigkeit der Stadt, sich aus dem Blickwinkel eines einzigen, wiewohl talentierten Romanautors erzählen zu lassen.

Im ersten Moment weckt die Stadt Illusionen, dann jedoch weicht sie dem aus, der glaubt, den Schlüssel zu ihrem Wesen gefunden zu haben. Palermo ist eine Stadt wie ein Mosaik, das nur in Fragmenten und unter subjektiven Gesichtspunkten sichtbar wird. Und sobald man meint, jedes Element an die richtige Stelle gesetzt zu haben und ein komplexes Bild zu erkennen, wenn man glaubt, alles ins rechte Licht gerückt zu haben, dann entgleiten jene Mosaikteilchen, eines nach dem anderen, und erschaffen auf diese Weise eine verschwommene, nicht greifbare Landschaft. Wie ein fließendes Mosaik.

Dabei hat es, besonders in den letzten Jahren, an Passbildern dieses Mosaiks nicht gefehlt, ganz im Gegenteil: Nur wenige Städte haben das Auftauchen einer solch großen Anzahl von Schriftstellern innerhalb eines relativ engen Zeitrahmens erlebt, was manche Kritiker dazu verleitet hat, von einer regelrechten palermitanischen Schule zu sprechen, und das besonders im Genre Krimi und Noir. Nebenbei bemerkt, teile ich dieses Urteil nicht, denn die palermitanischen Schriftsteller bilden zum Glück für ihre Leser einen Archipel, dessen Inseln untereinander frei von Verbindungen sind. Wenn es sich um eine Schule handelt, dann um eine der Differenzen.

Dass dies quasi State of the Art in der Beziehung eines angehenden palermitanischen Schriftstellers und seiner Stadt ist, habe ich bereits beim Schreiben meines ersten Romans Die Verbrechen in der Via Medina-Sidonia gemerkt, und zwar ganz instinktiv, so meine ich. Und ebenso instinktiv hat sich auch mein Schreiben angepasst, weg von jedem analytischen Ansatz, bis auf marginale Momente, hin zum Erzählen.

Entscheidend dafür war möglicherweise auch das Krimi-Genre, das sich für die Annäherung an heutige Städte wohl am besten eignet. Denn hinter den polizeilichen Ermittlungen verbirgt sich oft die Erforschung gesellschaftlicher Subjekte. Der Roman, zusammen mit seinem Nachfolger Das Doppelleben von M. Laurent, entstanden wie durch ein »Auskeimen« aus dem vorigen, offeriert eine Sicht auf Palermo, die als anormal definiert wurde.

Mehr als von Anomalie wäre es vielleicht korrekter, im wortwörtlichen, das heißt im geometrischen Sinne, von Ex-Zentrizität zu sprechen, da ich mich mit beiden Romanen von dem thematischen Mittelpunkt Mafia wegbewegt habe. Mein Hauptanliegen beim Schreiben war es, die Mafia als eine Palermo-immanente Realität darzustellen, die derart empirisch erfahrbar ist, dass anders als in Andeutungen über sie zu sprechen zum verzichtbaren Beiwerk wird. Es handelt sich bei diesen beiden Krimis also eigentlich nicht um Storys ohne Mafia, sondern um solche ohne die Mafia als Hauptakteur. Aber deswegen ist ihre Wirkkraft nicht weniger dramatisch, und das trotz der bissigen Ironie, von der sie durchdrungen sind. Jean-Claude Izzo, der vor einigen Jahren verstorbene Schriftsteller aus Marseille, hat sie gar unter die Noirs aus dem Mittelmeerraum eingereiht, deren »Stammbaum bis zur griechischen Tragödie zurückreicht«.

Mit dem vorliegenden Roman Blaue Blumen zu Allerseelen, der jetzt dank der Hartnäckigkeit meiner Übersetzerin Monika Lustig glücklich in deutschen Landen gelandet ist,* ändert sich alles. Anstelle des Protagonisten der ersten beiden Bücher, des Ich-Erzählers Lorenzo La Marca, Flaneur, Universitätsdozent, unfreiwillig in die Rolle des Detektivs geraten, tritt nun dessen Freund Vittorio Spotorno, seines Zeichens Kommissar, auf den Plan, dessen Trauzeuge er einst gewesen war. Und der ist von Berufs wegen befugt, sich mit Mafiadelikten zu befassen; überdies wird in der dritten Person erzählt, was der Handlung mehr Objektivität verleiht.

Der vorliegende Roman verhält sich in mancher Hinsicht spiegelbildlich zu den Verbrechen in der Via Medina-Sidonia. So spielt er zum Teil in derselben Zeit, und einige, in beiden Romanen vorkommende Episoden werden im ersten Buch aus La Marcas Sicht und hier aus der Perspektive Spotornos erzählt: In einem Kapitel der Verbrechen erfährt man von einem Mafia-Doppelmord, der nun zum Gegenstand der Ermittlungen in Blaue Blumen geworden ist. Immer schon hat mich die Möglichkeit fasziniert (und mir einen Heidenspaß bereitet!), nichtparallele literarische Universen zu schaffen, die interagieren, sich ausdehnen und Wegen folgen, die sich am Ende überschneiden, wie es häufig auch in der Realität der Fall ist, ohne dass wir uns dessen immer bewusst sind.

Das Palermo aus diesem dritten Roman hat augenscheinlich nur wenige Berührungspunkte mit der emanzipierten, höchstlebendigen Metropole der ersten beiden, ja, an manchen Stellen wirkt es geradezu antithetisch, unkommunikativ und manchmal wie von einem düsteren Schleier umhüllt.

In Wahrheit existieren diese beiden Städte, zusammen mit vielen anderen, Seite an Seite und vor den Augen all derer, die Lust haben, sie zu sehen. Was sich zwischen den ersten beiden Romanen und dem dritten verändert, ist der Blickwinkel des Betrachters. Denn La Marca und Spotorno können aufgrund der Unterschiede bei Beruf, bürgerlichem Stand und sozialer Kontakte nicht ein und dieselbe Sichtweise teilen. Und so wie die Stadt unseren Blick beeinflusst, so ist sie ihrerseits davon gefärbt. Genau wie die Literatur.

Santo Piazzese, im April 2018

* Leonardo Sciascia sprach als Erster von Palermo, das ihm auf immer verloren erschien, lehnte sich dazu an Tomasi di Lampedusa an, der ganz Sizilien auf diese Weise sah.

* Der Übersetzerin ist es eine Ehre, schließlich verdankt sich die Gründung ihrer Edition CONVERSO zu einem Teil diesem »Landemanöver«.

Blaue Blumen zu Allerseelen

Подняться наверх