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Kommissar Spotornos diffiziles Schweigen

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Aber eigentlich hatte das mehr den Sinn einer Grabinschrift, dachte Spotorno.

Es war fast Mitternacht und noch immer saßen sie bei Tisch. In dem Beruf, den er sich ausgesucht hatte, waren Abendessen zu nächtlicher Stunde keine Seltenheit. Die Kinder waren kurz zuvor erst zu Bett gegangen, im Sommer durften sie die üblichen Schlafenszeiten etwas laxer handhaben.

Amalia zündete sich eine Merit an. Sie genehmigte sich genau eine Zigarette pro Tag, und die gleich nach dem Essen, als eine Art glorreicher Abschluss des Tages und im Gedenken an die schönen alten Zeiten mit einem Päckchen pro Tag. Spotorno hatte eine Höllenangst, dass diese eine Zigarette der Funke sein könnte, der nach dem Großbrand unter der Asche vor sich hin glomm, als eine Art Vorwegnahme eines künftigen Lasters.

Amalia beobachtete ihn durch die perlgrauen Rauchringe hindurch. Während solcher Abendessen ohne Kinder waren sie oft schweigsam. An diesem Abend jedoch herrschte ein besonderes Schweigen, zumindest von Spotornos Seite. Amalia dachte, wenn Lorenzo mit seiner Manie für Oxymora jetzt hier wäre, würde er von einem dichten, gleichwohl durchlässigen, einem diffizilen Schweigen eben sprechen. Es musste etwas mit seiner Arbeit zu tun haben. Und über die sprachen sie so gut wie nie. Nicht etwa, weil Kommissar Spotorno jemand wäre, der nach den harten Dienststunden alles hinter sich ließe, nein, das gewiss nicht. Er war vom Typ Bulle-im-Dauereinsatz und nur in diesem Zuschnitt war ihm der Beruf erträglich. Andernfalls hätte er genauso gut die Stelle bei der Bank annehmen können, die man ihm nach seinem Uniabschluss angeboten hatte. Seine Schweigephasen waren viel mehr verdeckte Reifungsprozesse: Es waren Pausen nur augenscheinlicher Ruhe, die er dazu nutzte, die Ereignisse des Tages in den richtigen mentalen Fächern ad acta zu legen.

Puleo hatte ihn einmal mit der Vokabel organicare überrascht, die er von wer weiß woher zur Beschreibung des Prozesses heranzog, dem vielleicht auch er, Spotorno, ausgesetzt war. Später hatte er ihm gestanden, dass es sich dabei um eine Art lexikalische Ansteckung, eine Kontaminierung mit Fachjargon handelte, der von seinem Bruder Gaetano, einem Agrartechniker, stammte. In dessen Berufsfeld beschrieb genannter Begriff den Vorgang, bei dem chemische Elemente aus dem anorganischen Zustand zu organischer Materie übergingen.

Nun war Spotorno im Begriff, Rosarios Tod organisch zu verarbeiten, wie er sich schweren Herzens eingestehen musste. Aber es war eine widerspenstige Überführung in einen organischen Zustand. Und die anorganischen Elemente, die Geschosse, der Überfall samt dem ganzen Beiwerk, nahmen ungewöhnliche Bahnen und versetzten ihn zurück an jenen Septembermorgen vor vielen, vielen (wie vielen?) Jahren, dem Tag, da Santo Li Pani die Signorina Lo Giudice mit einem Kopfkissen erstickt hatte.

Es war der andere Tote, Mancuso, den er hätte organisch verarbeiten sollen, nicht Rosario, der scheinbar ein zufälliges Opfer war. Mancuso aber war nie Teil von Spotornos Leben gewesen.

Jetzt bemerkte er Amalias beharrlichen Blick, mit dem sie ihn durch ihre Rauchschranke hinweg beobachtete. Sie nahm nochmals einen langen Zug, und bei Spotorno schnellte erneut eine Erinnerung an die Oberfläche seines Bewusstseins. Eine Erinnerung an jene salzgetränkten Winston, die Diego geraucht hatte. Der Geschmack musste grauenvoll gewesen sein. Und wer weiß, warum sie als junge Burschen vom Inhalieren und nicht von einem Zug an der Zigarette gesprochen hatten. Im Nachhinein erschien ihm das wie die unterbewusste Materialisierung eines Begehrens. Oder eine Gestaltwerdung des zukünftigen Lasters. Eine ganze Weile hatte er den Eindruck, als könnte Amalia seine Gedankengänge mitverfolgen, beinahe wünschte er sich das geradezu. Und das war es schließlich, was ihn dazu brachte, den Mund aufzumachen.

Er erzählte ihr von den Toten des Tages. Über den alten Mordfall Lo Giudice war Amalia im Bilde, war er doch eines der vorherrschenden Themen während der langen Zeit des Werbens um sie gewesen, das Vittorio, was sie betraf, genauso gut hätte überspringen können. Von ihrer zweiten Begegnung an, die der ersten im Abstand von ein paar Jahren gefolgt war, hatte sie nämlich für sich beschlossen, dass sie ihn und keinen anderen als Vater ihrer zukünftigen Kinder akzeptieren werde.

Spotorno hatte ewig gebraucht, sich davon zu überzeugen, dass aus den spöttisch dreinblickenden dunkelbraunen Augen keine Überheblichkeit, sondern eine Erwartung sprach. Die Erwartung, dass dieser allzu ernsthafte und altmodische junge Mann endlich begreifen möge, wie die Dinge standen. Nämlich, dass ihr, Amalia Nisticò, gelegentliche Grasraucherin, zeitweilige Trägerin eines Pseudo-Zigeuner-Looks, Fremdsprachenstudentin mit gediegen bürgerlichem Familienhintergrund, all die langweiligen Typen, die in der Fakultät wie dicke Brummer um sie herumschwirrten und Spotornos Alpträume bei Tag und bei Nacht bevölkerten, wie lächerliche, unreife Hampelmänner vorkamen.

Schließlich aber hatte Amalia die Warterei sattgehabt. Und so, eines Morgens Ende November, hatte sie Vittorio in Richtung Punta Raisi, zur Strandvilla ihrer Eltern gelotst, die zwar verlassen, aber noch nicht gänzlich winterfest gemacht war, was hieß, dass die Matratzen noch nicht in feuchtigkeitsabweisenden Plastikhüllen steckten. Vittorio hatte für eine lachhaft lange Zeit geglaubt, dass sie ihn dorthin geschleppt hatte, um mit ihm Marihuana zu rauchen, und mit einem Gefühl seliger Unruhe hatte er entschieden, dass ihm das nichts ausmachte und er sogar Marihuana rauchen würde. Sie war einfach so schmachtend, und bis dato hatte er keinerlei Vorstellung, dass eine so junge Frau ein solch drängendes Sehnen, eine vorgezogene glückselige Ermattung ausstrahlen konnte.

Dann war alles nur Erdenkliche geschehen. Außer Marihuana rauchen. Und auch heute noch verspürte Spotorno auf der kleinen Veranda, wo sie im Sommer zwischen Efeututen, Yuccapalmen und Fensterblättern immer zu Abend aßen, bei der Erinnerung an jenen Vormittag im November exakt den gleichen Aufruhr in seinem Innern wie damals, als er mit seinen Kumpeln vom Gymnasium die Gran-Cancelliere-Gasse entlanggegangen war.

Als er mit seinen Ausführungen geendet hatte, überraschte Amalia ihn mit der einzigen Frage, mit der er nicht gerechnet hatte:

— Hast du der Mutter schon einen Besuch abgestattet?

Wieder einmal ertappte Spotorno sich bei dem Gedanken, dass seine Frau ein paar Jahrhunderte zuvor den Scheiterhaufen riskiert hätte. Vermutlich traf das aber auf alle Frauen zu.

Der Gedanke an Rosarios Mutter war ihm mehr als einmal durch den Kopf gegangen, und zwar von dem Moment an, da er einen der Toten vom Vormittag als ihren Sohn identifiziert hatte. Er hatte sich gefragt, ob er ihr persönlich die Nachricht überbringen sollte, doch am Ende behielten die ungeschriebenen Gesetze seines Berufs die Oberhand. So wenigstens hatte er es sich weisgemacht. Aber jetzt musste er sich eingestehen, dass das nur vorgeschoben war und es ihm nicht gelingen wollte, sich gänzlich von einem Schuldgefühl zu befreien, das einem allzu selektiven Gedächtnis geschuldet war.

Kein einziges Mitglied der Familie Alamia hatte sich in der Via degli Emiri blicken lassen.

Der Mancuso-Clan hingegen hatte sich vollzählig eingefunden, und zwar nur wenige Minuten, nachdem die Bullen mit großem Trara eingetroffen waren. Der Auftritt war drehbuchreif gewesen, mit allem, was dazugehört: wildes, unartikuliertes Geschrei, Anrufungen des Verstorbenen, Einfordern der augenblicklichen und drakonischen Bestrafung der Verantwortlichen durch Gotteshand.

Sie machten sogar Anstalten, den Toten mitnehmen zu wollen, wohlwissend, dass die Polizei sie daran hindern würde. Aber das gehörte eben zum Ritual, ergo versuchten sie es. Die Szenerie erinnerte an den Drehort eines drittklassigen Mafiafilms aus den 60er Jahren.

Spotorno hatte sich über die Abwesenheit von Rosarios Angehörigen um den himmelblauen Fiat 127 herum nicht groß gewundert. Es gab kaum noch lebende Verwandte. Der Vater, Angestellter in einem Reisebüro, war kurz nach der Pensionierung an einer nicht auskurierten Hepatitis gestorben. Und Rosarios einzige Schwester musste ins Haus der Mutter geeilt sein, um dort die Dinge weitestgehend zu regeln.

Spotorno sah sie im Geiste deutlich vor sich. Sie war gut drei, vier Jahre älter als die Jungs, eine schlaksige Heranwachsende, auf dem Weg zu einer nervösen Jugendzeit, mit glattem rotem Haar, genau wie der Bruder. Und mit einem Namen, der ihm so gut gefiel, dass er, hätte er je eine Tochter gehabt, sie ohne Wenn und Aber so genannt hätte: Maddalena.

Hin und wieder war er ihr in seinen jugendlichen Träumen wiederbegegnet, den besonders unruhigen, kurz vorm Morgengrauen. Und das waren Träume, die er keinem je zu erzählen gewagt hatte.

Er wusste, dass sie bald nach ihrem dreißigsten Geburtstag einen aus dem Norden geheiratet und Kinder bekommen hatte. Außer ihr gab es, soweit er sich erinnerte, keine anderen Verwandten, weder Onkel und Tanten noch Cousins und Cousinen oder sonst wen. Er fand, dass zumindest Rosarios Schwager in der Via degli Emiri hätte auftauchen können, und versuchte vergeblich, sich zu erinnern, welchen Beruf er ausübte. Womöglich war er arbeitsbedingt unterwegs gewesen.

Um genau zu sein, gab es in Rosarios Leben noch eine Exfrau – eine unbedeutende Episode, ein Einsprengsel, wollte man zynisch sein.

Die Sache war noch ganz frisch gewesen, als Spotorno auf die übliche Art und Weise, bei einem der traditionellen Kaffeetreffen mit alten Freunden, davon gehört hatte. Es war eines jener Ereignisse aus der Kategorie Ewiger Pechvogel gewesen, die Rosario bereits bei der Registrierung seiner Geburt von Amts wegen ins Stammbuch geschrieben worden war. Ein Ereignis, wie viele es schon kommen sehen – oder herbeigewünscht – hatten: eine erst sechzehnjährige Braut in Erwartung eines ungewollten Kindes, eine Eheschließung mit Dringlichkeitsstufe. Das Kind war mit einer schweren Missbildung, von der Spotorno nie Einzelheiten wissen wollte, zur Welt gekommen und hatte nur wenige Wochen überlebt. Rosario war damals zwanzig gewesen, und seine Frau hatte ihm schon am Vorabend ihres ersten Hochzeitstages den Laufpass gegeben; diesen Tag hätten sie sowieso nicht feierlich begangen, weil es zwischen ihnen von Anfang an desaströs gelaufen war. Die junge Frau war anschließend aus der Öffentlichkeit verschwunden, und niemand wusste, wo sie abgeblieben war.

Spotorno beschloss, am folgenden Tag Signora Rosa seine Aufwartung zu machen. Amalia nickte zustimmend, als er ihr das sagte. Die Zigarettenzeremonie war schon seit einer Weile beendet. Jetzt war der Jasmin an der Reihe.

Das Jasmin-Zeremoniell bildete den Abschluss aller ihrer Sommerabende, es sei denn, sie steckten mal wieder in einer ihrer sporadisch auftretenden Spannungssituationen. Davon gönnten sie sich nur wenige, und auch die nur aus Prinzip, wie Amalia einmal ihrer Freundin Maruzza La Marca anvertraut hatte.

Die beiden Jasminpflanzen hatten sich so weit ausgebreitet, dass sie einen Gutteil der nach Süden gelegenen Balkonwand bedeckten. Es dauerte zehn Minuten, um sämtliche Blüten in Reichweite zu pflücken und in einen kleinen Bastkorb zu sammeln, den Amalia dann auf der Konsole in ihrem Schlafzimmer platzierte.

Als Spotorno noch Kind war, hatte er von Zeit zu Zeit Gelegenheit zu beobachten, wie sich die Mädchen Jasminblüten zwischen die Brüste steckten. Sie taten das, ohne auf die Jungs seines Alters zu achten, als wäre da überhaupt niemand, der ihnen zuschaute, so sehr waren sie – wie sehr aber guten Glaubens? – in einer vermeintlich kindlichen Unschuld befangen.

Auch Amalia schmückte ihren Busen zuweilen mit Jasmin.

An diesem Abend jedoch nicht, vielleicht weil die Blüten dort eh nicht lange überdauert hätten.

Draußen, auf offener See, zog ein Flugzeugträger vorüber. Vielmehr war es gar nicht so weit draußen, denn Spotorno konnte problemlos die aufgedruckte Schrift auf den Mützen der Matrosen lesen: U.S.S. Forrestal. Der Flugzeugträger steuerte geradewegs auf ihn zu, so wie er da stand in seinen weißen Stoffschuhen, die mitten auf dem Sacramento-Strand fast ganz im Kies des Ufersaums versanken.

Er wollte flüchten, doch vergeblich, denn seine Beine waren bleischwer.

Zum Glück drehte das Schiff wenige Meter vor dem Ufer bei, und er sah die Schiffsseite an sich vorüberrauschen, während die Matrosen Winston-Kisten über Bord warfen. Diego stürzte sich ins Wasser, mit Kurs auf die Kisten.

Dann bemerkte Spotorno die riesige Welle, grün, durchsichtig und vollkommen lautlos. Im Näherrollen brach sie an den Seiten weg und formte so eine Grimasse, angetrieben von einer ureigenen und bösen Willenskraft, mit einem weißen Schaumkamm obenauf. Er hatte schreien und Diego alarmieren wollen, brachte stattdessen lediglich einen seltsamen Laut hervor, eine Art tiefes, raues Röcheln, das er selbst nur als Vibrieren in seinem Kopf verspürte. Dann erwischte die Welle Diego, der sofort im Wasser verschwand und erst dahinter, im offenen Meer wiederauftauchte. Doch schon wurde er von einer zweiten, noch viel größeren Welle erfasst. Spotorno sah Diegos weißblondes Haar verschwinden und wiederauftauchen, dann verlor er ihn endgültig aus den Augen.

Jetzt war er wieder in der Lage, die Beine ganz normal zu bewegen. Er ging in östliche Richtung, zur nächsten Bucht mit den sandgoldenen, algenbedeckten Felsen und wartete ab. Er wusste, dass die Leiche genau an dieser Stelle angespült werden würde und musste nicht lange warten. Die Meeresoberfläche war wieder glatt, bis auf eine kleine Brandungswelle, die Diegos Körper Richtung Land trieb. Auch der Flugzeugträger war verschwunden. Ich muss seine Mutter verständigen, dachte Spotorno. Und auch Diegos Großvater, der als ehemaliger Seemann immer wusste, was zu tun war. Der Leichnam strandete mit einem dumpfen Geräusch auf den Kieseln, einem schwachen Reiben wie vom Tonabnehmer am Ende einer Schallplatte; Spotorno trat näher und zog den bäuchlings Liegenden aufs Trockne, auf die glatt polierten, heißen Steine. Er versuchte, ihn umzudrehen.

Im Drehen noch erkannte er, dass er da nicht Diegos Leiche vor sich hatte, sondern den Körper des erwachsenen Rosario. Eine Pistolenkugel hatte seinen Kopf von einer Schläfe zur anderen durchbohrt.

Schweißgebadet erwachte Spotorno, neben ihm die friedlich schlafende Amalia.

Beim Frühstück erzählte er ihr seinen Traum, der ihm noch immer in den Knochen saß. Still hörte sie ihm bis zum Ende zu, kommentierte nur von Zeit zu Zeit mit einem Nicken. Dann wachten die Kinder auf, und alles drehte sich nur noch um sie.

Beim Rasieren dachte er an ein Buch, das Amalia ihm zu Zeiten ihrer ersten Liebesgeplänkel geschenkt hatte, es hieß: Ein Kinderspiel*. Er erinnerte sich, dass Amalia ihm ans Herz gelegt hatte, sofort mit der Lektüre zu beginnen, und dann hatten sie lange über das Buch gesprochen, das ihm ebenfalls sehr gefiel. Wenn er jetzt nicht so intensiv geträumt hätte, wer weiß, vielleicht hätte er Lust bekommen, es erneut zu lesen. Es war eine Geschichte über junge Leute, in einer Phase des Übergangs von einer schmerzdurchdrungenen Adoleszenz zum frühen Erwachsenenalter, die sich als viel zu kurz erahnen ließ.

Heute gibt es keine schmerzdurchdrungene Adoleszenz mehr, dachte er. Aber das musste nichts Schlechtes sein, wenngleich er davon nicht vollständig überzeugt war. Vielleicht hing das mit der Vokabel schmerzdurchdrungen zusammen, die ihn immer schon fasziniert hatte, ja, er hatte sie oft in den Schulaufsätzen am Gymnasium und sogar zwei Mal beim schriftlichen Abitur verwendet, und der Prüfungslehrer für Italienisch hatte das bei der Mündlichen angesprochen, weshalb er überzeugt war, die Prüfung vermasselt zu haben. Am Ende aber hatte er die beste Abschlussnote der ganzen Klasse bekommen.

Heutzutage sind die adoleszenten Wachstumsabschnitte durchgeplant, dachte er. Durchgeplant und mittelmäßig. Und da es ihm nicht an selbstkritischen Denkanstößen mangelte, konnte er nur hoffen, dass er sich selbst nicht wie ein Besessener in die Entwicklungsschübe in der zukünftigen Adoleszenz seiner Kinder einmischen würde.

Auf den letzten Seiten dieses Buchs ging es um einen Mann, der in einer Art schwimmendem Container ertrunken war: Die Monsterwellen der aus dem Hafen von Triest auslaufenden Militärkreuzer hatten ihn erfasst und versenkt.

Es gab einen französischen Regisseur, den Amalia sehr schätzte, und bei dessen Tod sie gesagt hatte, es sei wirklich schade, dass niemand ihm dieses Buch vorgeschlagen hatte, denn er und nur er hätte daraus einen großartigen Film gemacht. Eigentlich mochte Spotorno das Kino, doch, wie Amalia behauptete, war er nie über die Filme aus den späten 50er Jahren hinausgekommen. Filme mit Kratzspuren auf dem Zelluloid, wie sie im Sommer in den Freilichtkinos liefen, die in der Stadt längst ausgestorben waren.

Den Hollywoodfilmen der letzten Generationen mit ihren Spezialeffekten und der unerträglichen Geräuschkulisse konnte er nichts abgewinnen. Ihm gefielen die Filme von Totò. Und die alten amerikanischen Noirs in Schwarzweiß oder die französischen Filme mit diesem Schauspieler, wie hieß der noch mal?, der ebenfalls schon gestorben war – der Himmel weiß, wann genau. Er mochte vor allem den einen Film mit ihm, den er aufgenommen hatte und sich von Zeit zu Zeit wieder ansah, obwohl er voller Werbespots war: Der Tag bricht an.

Spotorno hatte es nie geschafft, sich an die Namen der Regisseure zu erinnern, und verwechselte die der Schauspieler, mit Ausnahme von Johnny Weissmüller, weil die Filme von Tarzan mit Abstand die ersten waren, die er als junger Bursche gesehen hatte.

Er fluchte leise. Wegen dieser für ihn so ungewöhnlichen Abschweifungen war er unkonzentriert und hatte sich mit dem Rasiermesser am Kinn geschnitten. Er war gezwungen, den blutstillenden Stift zu verwenden. Dann fiel ihm ein, dass ja Sonntag war, und er sich sonntags für gewöhnlich gar nicht rasierte.

Er verfluchte noch einmal diesen Traum, der ihn derart aus dem Konzept gebracht hatte.

* Roman von Pier Antonio Quarantotti Gambini, Turin 1947

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