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Signorina Lo Giudice

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Erst als das letzte Fahrzeug, der Alfa mit dem Kommissar an Bord, gänzlich aus dem Blickfeld verschwunden war, kam Rosario näher. Er beobachtete einige Augenblicke, wie sich Vittorio erneut mit den Bimssteinen abmühte.

— Hier braucht es Olivenöl, um den Teer zu entfernen, sagte er.

Der Junge hob den Kopf und starrte ihn an. Sie verstanden sich auch ohne viel Worte.

— Was wollte der da?, setzte Rosario nach.

Der Junge antwortete nicht sofort. Rosario hatte seinen aggressiven Ton wieder aus der Versenkung geholt, als wollte er ihm ankreiden, dass er mit dem Kommissar ein paar wenige Sätze gewechselt hatte. Zumindest war Vittorio dem Freund dankbar, dass er ihm das traditionelle Du hältst es also mit den Bullen ersparte. Denn das hätte in ihrem Verhaltenskodex zumindest nach einer formalen Repressalie verlangt. Vittorio dachte an den Kommissar nicht wie an einen Bullen.

— Er wollte wissen, ob wir etwas gesehen haben, rang er sich schweren Herzens durch.

— Und was hast du ihm gesagt?

Mit einem Achselzucken erwiderte Vittorio:

— Was soll ich ihm schon gesagt haben? Nichts habe ich ihm gesagt.

Andererseits hatte er tatsächlich nichts zu erzählen gehabt. Bis auf den Umstand, dass er Signorina Lo Giudice im Nachthemd mit hervorquellenden Augäpfeln quer überm Bett hatten liegen sehen. Dass sie tot war, war auf den ersten Blick zu erkennen gewesen, selbst von außen, durch die schrägen Schlitze der Holzlamellenläden hindurch, die sie im Sommer für gewöhnlich offen ließ. Rosario war umgehend zu ihm gestoßen. Und so war der Korb mit den Austern an diesem Tag und auf immer nur halbgefüllt geblieben.

— Wo ist Diego?, fragte Rosario.

Die drei trafen sich jeden Morgen in der Früh bei den an Land gezogenen Booten, zwischen den Felsen der kleinen Bucht, die irgendjemand Il Sacramento getauft hatte, vielleicht wegen der Votiv-Ädikula, die in einer Nische zwischen den Felsbrocken eingelassen war.

Zum ersten Mal bis auf den Meeresgrund von Sacramento zu tauchen, markierte den Übergang von der Kindheit zur Jugend. Die anderen sahen einen dann voller Respekt an. Die Bucht war tief. Von ihnen dreien war das just in diesem Sommer nur Diego geglückt. Zum Beweis hatte er eine Faustvoll grünlichen Sand mit nach oben gebracht.

Aber an diesem Tag hatte Diego sich verspätet, und Rosario und Vittorio machten sich ohne ihn ans Austernsammeln. Später sahen sie ihn für einen kurzen Moment von hinten, wie er sich vom Holzhaus entfernte, das war, nachdem sie beide bereits den Leichnam von Signorina Lo Giudice entdeckt hatten. Er war nicht einmal mehr in Rufweite, und sie hatten ihn nur an seinen Haaren wiedererkannt; von Ferne wirkte sein Kopf wie der eines alten Mannes, der recht und schlecht am Körper eines kräftigen jungen Burschen befestigt war.

Und dann war das ganze Theater losgegangen.

— Was macht ihr denn da?, hatte eine tiefe Stimme, jede Silbe betonend, gefragt, als sie erneut durch die Schlitze der Fensterläden linsten. Nach so langer Zeit war er noch immer nicht in der Lage, sich die Faszination zu erklären, die ihn und Rosario erfasst hatte und die sie daran hinderte, ihre Augen von Signorina Lo Giudices Leiche abzuwenden.

Die Stimme gehörte dem Vater eines ihrer Spielkameraden, den sie alle den Türken nannten, obwohl er in einer Baracke am Stadtrand von Frankfurt zur Welt gekommen war. Nach seiner Rückkehr aus Deutschland hatte er eine Anstellung bei der Firma Vaselli gefunden und leerte jeden Morgen den Inhalt der Mülleimer, die alle Haushalte in ihrem Viertel am Abend auf die Straße stellten.

Er trug diesen Müll in einem großen Sack auf dem Rücken, und seine schmächtige Statur verschwand beinahe darunter. Es war unbegreiflich, wie in diesem Körper eine solche Stimme wohnen konnte.

Mit einer Armbewegung hatte der Türke ihn und Rosario vom Fenster weggeschoben und einen Blick ins Innere geworfen. Dann hatte er den Sack abgestellt.

— Schaut ja nicht hin!, hatte er sie gewarnt und weiter: Verzieht euch, geht nach Hause!

Also waren sie zu den Felsen hinuntergegangen, und kurz darauf trafen all die Autos mit den blinkenden Lichtern und den Sirenen und auch der Transporter mit den weiß gekleideten Totengräbern ein. Rosario hatte sich genau wie Diego davongemacht, aber zur entgegengesetzten Seite. Und er, Vittorio, war in den Teer getreten.

Er hatte den riesigen Klumpen, den die wuchtigen Brecher auf dem Trockenen hinterlassen hatten, durchaus gesehen, doch er hatte nichts getan, um ihm auszuweichen. Ja, er war sich sicher, absichtlich hineingetreten zu sein, auch wenn er nicht hätte erklären können, warum.

Es hatte ihm gutgetan, sich auf jenen Fleck zu konzentrieren, nach einem Bimsstein Ausschau zu halten, sich damit die Fußsohle bis fast aufs rohe Fleisch abzureiben. Sein Denken war völlig von diesen Steinen absorbiert. Sie stammten, so hatte Diegos Großvater ihnen einmal erzählt, von einer Insel namens Lipari und wurden vom Grecale, dem Nordostwind, auf dem Wasser schwimmend herangetrieben. Vom Meer aus gesehen erschien die Insel wegen des Bimssteins vollkommen weiß.

Diegos Großvater war während des Krieges in der Taucherbrigade gewesen, später hatte er auf den Schwertfischkuttern in den Gewässern um Lipari und den anderen Inseln des Liparischen Archipels gearbeitet. Manchmal waren einige dieser Inseln von ihrem Viertel aus zu erkennen – wie eine Ahnung von etwas Violettem zwischen Himmel und Wasser, wenn die Luft ganz klar war und der Wind den schwarzen Rauch aus den Schornsteinen von Quattroventi, dem Kraftwerk zwischen Hafen und Schiffswerft gegenüber dem Ucciardone-Gefängnis, Richtung Norden blies.

Er wollte gerade antworten, dass er nicht wüsste, wo Diego sei, als Rosario den Arm hob und auf eine Stelle hinter Vittorio deutete. Von dort kam Diego langsam am Meeressaum entlang auf sie zu. Nicht ein einziges Mal sah er hinüber zum Haus von Signorina Lo Giudice.

Und so begriffen sie, dass er die Leiche noch vor ihnen gesehen hatte.

Andererseits war das unumgänglich, denn Diego musste auf seinem Weg zum Strand am rückseitigen Fenster des Bretterhauses vorbeigehen. Für ihn war das von zu Hause der kürzeste Weg. Und von ihnen dreien war er immer schon der Gewiefteste, der, der als Erster die Zigarettenstangen Marke Winston entdeckte, die von irgendeinem Kutter über Bord geworfen worden waren, weil mitten in der Nacht ein Patrouillenboot der Finanzpolizei auf ihn zusteuerte. So etwas wurde zuweilen angeschwemmt, wenn ein Flugzeugträger in der Bucht vor Anker ging. Gewöhnlich blieben sie für ein paar Wochen, brachten Schlechtwetter mit und vom offenen Meer trieb so gut wie alles heran: Kanister voller Tütensuppen, leere Coca-Cola-Flaschen, Packungen mit Kondensmilch. Und Zigarettenstangen. Einmal war eine ganze Kiste dabei, auf der in azurblauen, mit Schablone aufgedruckten Großbuchstaben U.S.S. Forrestal geschrieben stand.

Vittorio hatte nie etwas von den Zigaretten wissen wollen, aber die anderen vollführten regelrechte Kämpfe, um so viele wie möglich an sich zu bringen. Dann ließen sie die mit Meerwasser durchweichten Päckchen in der Sonne trocknen und brachten sie später heim zu ihren Vätern. Einmal hatte Diego eine geraucht, aber Vittorio hatte nicht einmal einen winzigen Probierzug machen wollen.

Jetzt war Diego bei ihnen angelangt, schwitzend und mit umherirrendem Blick. Er brachte es nicht einmal fertig, ihnen in die Augen zu schauen. Spotorno entdeckte in seinem Gesicht einen Ausdruck, der ihm bekannt vorkam.

Damals, als sie am Strand einen Totenschädel gefunden hatten, da hatte er genauso ausgesehen. Rosario hatte den Schädel entdeckt, ihn umgehend unter einem Stück Karton verborgen und dann seine beiden Freunde herbeigerufen.

Der Schädel war grau und glatt poliert, die leeren Augenhöhlen wirkten wie schwarze Löcher, der Unterkiefer fehlte.

Spotorno hatte sich mit einer Mischung aus Neugier und Vorsicht genähert. Er hatte Angst, ohnmächtig zu werden. Doch im Gegenteil: Regungslos stand er da, so als würde er bloß einen Stein betrachten, den das Meer zu etwas Bizarrem geformt hatte.

Auch Diego betrachtete ihn lange, ohne ihn zu berühren, dann trat er ihm mit dem Absatz den Stirnknochen ein.

In seinem Gesicht stand ein entschlossener, doch zwiespältiger Ausdruck, den Kommissar Spotorno dank langjähriger Berufserfahrung auf dem Gesicht vieler seiner Klienten zu erkennen wusste. Eine verstohlene Niedertracht, auf halber Strecke zwischen Befriedigung und Schuldgefühl.

Danach hatten sie ein Loch in den feuchten Sand gegraben, die Bruchstücke des Schädels hineingelegt und zugedeckt. Diego war mit wahrer Inbrunst am Werk gewesen und hatte abschließend mit dem Zeigefinger ein Kreuz in den festgeklopften Sand gezogen.

Spotorno hatte nie jemandem von diesem Totenschädel erzählt. Jetzt beugte Diego sich nach unten, um seine Sandalen zu öffnen, und kickte sie dann von sich.

— Hast du sie gesehen?, fragte Rosario ihn.

— Nein, entgegnete Diego.

Sein unruhiger Blick verschwand, und er sah seinen Freunden, einem nach dem anderen, kurz und durchdringend in die Augen. Und da die naheliegende Gegenfrage: wen oder was er hätte sehen sollen, ausblieb, schlussfolgerten die beiden, dass er tatsächlich über alles Bescheid wusste. Diego nahm den Korb, schleifte ihn bis zum nächsten Felsen und brachte ihn in einen Neigungswinkel, damit er kippte.

Sämtliche Austern glitten in einem gewaltigen Schwall hervor und schufen die Illusion einer kompakten Masse, eines einzigen abstoßenden Organismus, der dann in einem langen Moment hinabstürzte und beim Aufprall auf dem Wasser zersplitterte.

Vittorio hatte irgendwann einmal in einem Film eine Seebestattung gesehen, und etwas in Diegos Gebaren beschwor genau diese Atmosphäre herauf. Das Bild der aus dem Korb gleitenden und im Wasser verschwindenden Mollusken wurde in seinem Kopf vom Bild der Leiche von Signorina Lo Giudice überlagert, wie sie langsam über eine hölzerne Trage rutschte und in die Tiefe glitt.

Blaue Blumen zu Allerseelen

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