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Abschweifungen über einen Teerfleck (samt Verbrechen)

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Wenn du einmal mit nackten Füßen in einen Teerklumpen getreten bist, gibt es nichts Besseres als Olivenöl. Du reibst mit einem Stückchen ölgetränkter màttola über die Stelle und kannst zusehen, wie das Schwarze verschwindet. Bei dem Wort màttola hätte sein Vater ihn mit schiefem Blick gerügt: Entweder du sprichst Italienisch oder Dialekt, eins von beiden! Also war folgender Kompromiss entstanden: Auf dem kurzen Weg vom Gehirn zur Zunge hatte sich die màttola bereits in einen einwandfreien weißen Wattebausch verwandelt. Zeitlebens sollte ihm eine gewisse schambesetzte Scheu bleiben, reinen Dialekt zu sprechen … nackt und schutzlos wäre er sich dabei vorgekommen. Dieses Bewusstsein erreichte ihn jedoch erst später, sehr viel später.

Einbeinig, um Gleichgewicht ringend, stand der Junge auf dem Felsen und begutachtete die betroffene Fußsohle. Der Teerfleck war groß, dick und klebrig. Nicht daran zu denken, in die nagelneuen weißen Stoffschuhe zu schlüpfen, um nach Hause zu eilen und alles wieder in Ordnung zu bringen. Er warf einen Blick hinter sich in Richtung Straße. Auf der schmalen Schneise zwischen den Felsen und dem Erdwall, auf dem die Bahngleise verliefen, lagen überall Glasscherben, somit war auch an Barfußgehen nicht zu denken.

Am Abend zuvor hatten die Jäger aus Frust ob der ausbleibenden Lerchen, ihre eigentliche Jagdbeute, wie wild auf leere Glasflaschen geballert. Die großen Vogelschwärme der vergangenen Jahre existierten nur noch als Erinnerung. Zogen dennoch welche vorüber, dann immer weiter draußen über dem Meer, und um sie von der Küste aus zu erreichen, hätte es Motorboote gebraucht. Hier aber gab es nur Ruderboote, und nie hatte er verstanden, weshalb die mit so vielen Jägern an Bord nicht untergingen oder zumindest kenterten. Ab dem Nachmittag bis zum Sonnenuntergang war der Golf zwischen Sant’Erasmo und Acqua dei Corsari voller Ruderboote.

Zu Beginn der Lerchenjagd vor einigen Wochen hatte sich ein halbes Drama abgespielt und tagelang für Gesprächsstoff gesorgt.

Das neue Boot von Don Angelino – den alle Donnancilino nannten, als wäre es ein einziges Wort – war bei der ersten Ausfahrt schnurstracks auf eine Teerpfütze aufgelaufen. Bis dahin nichts Ungewöhnliches. Das Ereignis aber hatte bei den anderen Bootsbesitzern kaum verhohlene Heiterkeit ausgelöst, denn Don Angelino hatte sein Boot von einem gestandenen Maler für Prachtkarren* verschönern lassen, der sich der Sache mit größtem Eifer gewidmet hatte – schließlich war das sein erster Auftrag dieser Art. Anders gesagt, ihm war noch nie zu Ohren gekommen, dass man Boote nach Art der Prachtkarren bemalen lässt. Er hatte das ganze Boot verziert, vom Rumpf bis zum Kiel, als müssten sie es immerzu auf der Malstaffelei, im Nirwana der Boote halten, ohne es je im echten Meer zu Wasser zu lassen.

Besonders die rechte Bootsseite hatte es dem Jungen angetan. Die dort aufgemalten Szenen hatte er auf den ersten Blick wiedererkannt: Vor ein paar Jahren war er in einem der Blättchen, die die Großmutter sonntags vom Kirchgang mit nach Hause brachte, auf sie gestoßen. Unter den Figuren waren zwei Paladine, die ein Duell miteinander austrugen. Da wird der eine von ihnen tödlich getroffen, und als der andere ihm dann den Helm abnimmt, zeigt sich, dass der Verwundete in Wirklichkeit eine junge Frau mit blondem Haar ist. Und die Frau bittet den Paladin, bevor sie nun sterben müsse, noch getauft zu werden, denn sie sei Türkin oder so was in der Art. Und so begibt sich der Paladin zum nahen Bach, füllt ihren Helm mit Wasser und tauft die Frau, die daraufhin glückselig in den Tod geht.

Ihr Name war Chlorinde, und als man einige Jahre später einem Waschmittel diesen Namen verpasste, war das in seinen Augen ein Sakrileg, das auf obskure Weise nach Wiedergutmachung verlangte.

Als er zum ersten Mal das Ende der Geschichte las, war ihm ein kleiner Seufzer entwischt. Überrascht stellte er fest, dass sein Atem schwer ging und sein Kinn zitterte. Beim Anblick der Frauenfigur mit dem blonden, aus dem Helm hervorquellenden Haar spürte er, wie ihm etwas Salziges die Kehle hinab rann. Seither riefen blonde Frauen bei ihm zwiespältige Gefühle – Misstrauen und Faszination zu ungleichen Teilen – hervor.

Das Boot war also geradewegs über den Teer geglitten, und Chlorinde war von einem dunklen Guss verunstaltet worden, so gnadenlos wie der Schwerthieb des Paladins. Finster war auch Don Angelinos Miene, schließlich hatte die aufwendige Bemalung ihn ein Vermögen gekostet.

Hast du aber kein Olivenöl zur Hand, kannst du dir mit Bimsstein behelfen. Der löst zwar den Teerfleck nicht vollständig auf, aber wenn du damit kräftig rubbelst, absorbiert er nach und nach die Ölschicht, und zurück bleibt nur noch ein grauer Schatten. So kannst du zumindest ohne großes Risiko in deine Schuhe schlüpfen.

Einzelne Bimssteine wurden hin und wieder von den Gezeiten angeschwemmt, aber nach den starken Fluten unter dem Nordostwind konnte man sie inmitten der gestrandeten Austern haufenweise einsammeln. Die Austern legte er in einen Korb aus Weidengeflecht, und war der einmal voll bis oben, konnte er ihn unmöglich alleine hochheben. Und aus dem Grund zogen sie zum Austernsammeln auch stets zu dritt los, immer das gleiche Gespann.

Signorina Lo Giudice behauptete, sie ähnelten der Flagge eines Heers, das auf immer und ewig der Niederlage geweiht sei, denn Rosario war rothaarig und Diego blond, nicht vom gleichen Blond wie das von Chlorinde, es war viel heller, fast weißblond wie bei einem Albino.

Der Junge hingegen hatte schwarzes Haar, schwärzer als jener verdammte Teerfleck.

In ihrem Viertel war es seit Menschengedenken Usus, die Grundschullehrerinnen mit Signorina anzureden, selbst wenn sie Mütter oder, wie im Fall von Signorina Lo Giudice, Witwen waren. Den männlichen Lehrkräften gebührte der Titel Professore. Wer weiß, warum. In Norditalien aber wurde das ganz anders gehandhabt. Der Junge erinnerte sich noch gut an das überlegene Grinsen seiner Schulkameraden an der Sanzio-Schule, als sie zum ersten Mal hörten, wie er den Lehrer Dorigatti mit Professore ansprach. Er hatte sich einfach nie an das dort übliche Signor Maestro und Signora Maestra gewöhnen können. Nicht, dass ihn das wer weiß welche Anstrengung gekostet hätte. Nein, aber er wäre sich beinahe wie ein Verräter vorgekommen.

Ein Jahr später war seine Familie zum Glück zurück nach Palermo gezogen, und alles wurde wieder so, wie es sich gehörte. Signorina und Professore.

Signorina Lo Giudice war verrückt nach Austern. Also sammelten die drei nach den ersten Stürmen, die vom Ende des Sommers kündeten, welche für sie, frühmorgens, wenn der Rückfluss noch kräftig war, und bevor die Austern anfingen, unter der Sonne weich zu kochen.

Sie klaubten die geschlossenen Exemplare auf, und war der Korb voll, bedeckten sie alles mit einer Schicht Meersalat, aber nur mit dem, der an den Felsen wuchs, damit ja kein Sand in den Spalt zwischen den Schalenhälften eindringen konnte. Hin und wieder öffneten sie eine mit dem Messer und sahen, wie das Weichtier sich zuckend krümmte, als erwartete es den Spritzer Zitronensaft, der einen nicht gerade würdigen Tod einläutete, nämlich mittels Zersetzung durch Magensäure. Der Junge mochte keine Austern, auch später nicht.

Der Korb war zu einem Drittel gefüllt, und dabei blieb es. Für den heutigen Tag hatten sie aufgehört, Austern zu sammeln. Vielleicht würden sie nie wieder welche sammeln gehen, kam es ihm blitzartig in den Sinn. Die Austernbank war ohnehin dem baldigen Untergang geweiht, zerstört von stinkig-giftigen Abwässern, die binnen Kürze die Wasser des Golfs mit allerhand Sauereien angereichert haben würden, und begraben unter einer Masse Schutterde, die man einfach so im Meer entsorgt hatte.

Aber das konnte der Junge gar nicht wissen. Noch nicht. Er setzte auch den anderen Fuß auf den Boden und schaute nach rechts, gen Osten bis zur anderen Spitze des Golfs im Gegenlicht. Dort schimmerte etwas Rostfarbenes, die Haare von Rosario, der vornübergebeugt nach etwas suchte. Wahrscheinlich nach leeren Patronenhülsen. Die frisch Abgeschossenen rochen nach gebrauchtem Leder, ein Geruch, der einem die Lungenflügel weitete, den Herzschlag verlangsamte und einen Vorgeschmack auf die kommenden Jahre des Erwachsenwerdens bescherte. Ein beinahe schmerzliches Vergnügen.

Diego hatte er nicht im Blick. Der weiße Umriss des Postdampfers war schon seit einer Weile im Hafen verschwunden, nachdem er auf schräger Linie den gesamten Golf durchkreuzt und dabei die üblichen, die Brandung zerteilenden Wellen aufgeworfen hatte. Die Saturnia hingegen würde nach Sonnenuntergang die Anker lichten, die große Flaggengala in voller Beleuchtung, als ließe sich mit solcherart künstlicher Freude die echte Tristesse ausgleichen, die gar aus den Luken zu dringen schien.

Obwohl die Saturnia ein dunkles, schweres Riesenschiff war, warf sie Wellen auf, die flacher und langgezogener als die des Postdampfers waren. Sie lief, zur Hälfte bereits mit Emigranten aus Genua, Neapel oder von sonst woher beladen, in den Hafen ein und legte von der Landungsbrücke Vittorio Veneto wieder ab, nachdem sie seine Landsleute aufgenommen hatte, die zusammen mit den anderen, unbekannte Dialekte sprechenden Passagieren in New York von Bord gehen und sich über die amerikanischen Lande zerstreuen würden.

Daran dachte der Junge zuweilen.

Er sprang vom Felsen und sammelte ein, zwei noch feuchte Bimssteine von einer gewissen Größe. Dann hockte er sich auf einen flachen Felsbrocken und begann, über den Fleck zu reiben, und sobald die Oberfläche den Teer absorbiert hatte, wechselte er die Seite. Hin und wieder schaute er über die linke Schulter zu dem Bretterhaus mit dem Dach aus matten ockerfarbenen Ziegeln. Die Bretter waren noch in den ursprünglichen Farben lackiert, die zunehmend verblassten, besonders das Hellblau, das sich mit dem Dunkelblau und dem Weiß abwechselte. Das Haus hatte Ähnlichkeit mit einer riesigen Strandkabine, war aber überaus solide aus abgelagertem Tannenholz gebaut, wie ihm der Großvater einmal gesagt hatte. Andernfalls würde es, von den ersten kräftigen Windböen im Herbst in die Luft gehoben, auf und davon fliegen.

Der Transporter stand nach wie vor auf dem Platz zwischen dem Haus und den Gleisen der Schmalspureisenbahn. Auch die Pkws waren noch da, einige große schwarze Alfa Romeos mit Blaulicht auf dem Dach, das jetzt ausgeschaltet war.

Der Junge hatte die näherkommenden Schritte deutlich vernommen und zuckte deshalb auch nicht zusammen, als sich der mächtige Schatten eines Mannes über ihn schob und einige Momente verharrte. Dann ging der Mann weiter bis zum Saum der Bucht und ließ dabei genussvoll den Kies unter seinen Schuhen knirschen – zumindest deutete der Junge das so. Lange blickte der Mann übers Wasser, das mit jeder Brandungswelle die Spitze seiner zweifarbigen Schuhe umspülte. Schließlich näherte er sich erneut dem Jungen, der die Bimssteine auf der anderen Seite neben sich hatte fallen lassen.

— Um den Teer wegzukriegen, sagte er, brauchst du Öl. Oder zumindest einen Bimsstein.

Der Junge nahm die Steine zur Hand und zeigte sie dem Mann. So zu ihm hochschauend erschien er ihm wie ein Riese im grauen Anzug, der einen Strohhut mit havannabraunem Band auf dem Kopf trug. Riesig und überproportioniert zwischen den Felsen und dem Teerflecken.

Der Mann nickte wortlos. Sein Gesicht war terrakottafarben. Der Junge wandte sich erneut zum Bretterhaus um. Dort öffnete gerade ein junger Mann die Ladetüren des Transporters; zwei andere Männer kamen mit einer Bahre aus dem Haus, über der ein weißes Tuch lag, dessen Saum beinahe den Erdboden berührte. Das Tuch schien sich nur leicht zu kräuseln, so schmal war die Silhouette, die sich ganz schwach darunter abzeichnete. Signorina Lo Giudice war nach ihrer Pensionierung wie ausgedorrt. Die Männer schoben die Bahre in den Laderaum, schlossen die Türen und stiegen ein. Sie waren ganz in Weiß gekleidet, trugen weiße Kittel. Langsam fuhr der Transporter los.

Andere Männer verließen das Haus. Einer hielt einen Fotoapparat mit großem Blitzlichtstativ in der Hand. Ein junger Mann im grauen Anzug mit lockerem Krawattenknoten näherte sich bis auf Hörweite und blieb am Rand der Fläche aus weißen Steinen stehen, genau oberhalb der fest ins Gestein eingepassten Ädikula mit der ewig brennenden Votivlampe.

— Kommissar, sagte er, wir wären hier fertig.

Der Mann machte eine Geste mit dem Arm. Dann sah er auf den Jungen.

— Wie heißt du?, fragte er.

— Spotorno, heiße ich, sagte der Junge.

— Spotorno, wie noch?

— Vittorio. Vittorio Spotorno.

— Aha, Vittorio. Wie König Vittorio Emanuele. Und was willst du einmal werden, wenn du groß bist, Vittorio Spotorno?

Der Junge blickte zum Horizont. Dann drehte er sich zu der hell gekleideten Gestalt um. Der Mann trug ein kleines Abzeichen am Revers seines Sakkos, etwas, das mit einem König im Exil zu tun hatte. Er kannte das Abzeichen von Diegos Opa, der oft von Königen redete und den er sehr mochte. Der Mann sah ihn noch immer an, als hinge von seiner Antwort das Schicksal des ganzen Erdenrunds ab.

— Ich will Kommissar werden, sagte der Junge. Polizeikommissar.

* Gemeint sind natürlich die üppig und farbenfroh verzierten zweirädrigen, von einem Esel gezogenen sizilianischen Karren.

Blaue Blumen zu Allerseelen

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