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In der Herberge
ОглавлениеBei Anbruch der Dunkelheit erreichten Professor Bechstein und Haribald die Stadt Blankenburg.
Der Wächter hatte bereits Fackeln angezündet und wollte gerade das Tor schließen, wies ihnen mürrisch den Weg, nachdem Bechstein den Passierschein bezahlt hatte. Haribald brachte die Kutsche vor dem Gasthaus Goldener Gockel in der Poststraße zum Stehen, ließ Bechstein absteigen und folgte ihm mit dem Gepäck. Die Tür war niedrig, der Schankraum düster. Bechstein musste sich bücken und auf der Schwelle warten, bis sich seine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten.
»Wir bringen Euer Pferd in den Stall hinter dem Haus«, schlug der Wirt vor, ein mageres Wiesel mit dürren Beinen und fusseligem Bart, der mehr mit seinen Händen als mit der Zunge sprach.
»Nicht nötig«, winkte Professor Bechstein ab. »Das schläft bei mir.«
»So witzig«, sagte Haribald.
»Könntet Ihr bitte die Kutsche unterstellen? Zeigt dann meinem Assistenten den Stall, damit er sie später finden kann.«
»Braucht er Stroh?«
»Nein, er speist mit mir. Sonst rennt er morgen wieder so langsam.«
Die Wirtsstube war klein und verräuchert. Im Kamin flackerte ein Feuer. Vier Männer an einem der Tische, sonst war niemand im Gasthaus. Der Professor zog sein Barett und grüßte.
»Besuch«, sagte ein dicker Mann mit vollem Bart, wie ihn Kaiser Karl V. getragen hatte. Unter seinem Wams wölbte sich ein mächtiger Bauch über den Bund der Pluderhose. Die Spieler legten ihre Karten zur Seite und tranken fast synchron von ihrem Bier. Der offene Kamin in ihrem Rücken knackte und knisterte, das Holz warf Funken in den Raum. In der Luft lag der würzige Geruch von Tanne.
»Guten Abend, der Herr«, sagte der Dicke. »Was führt Euch nach Blankenburg?«
Bechstein zögerte. Auf der zweiten Stufe hielt der Wirt inne. Welch ungünstig direkte Frage, dachte Bechstein. Gemacht für eine günstig indirekte Antwort. »Der Mensch.« Sein Schritt in den Raum war halblang.
»Der Mensch?«, wiederholte der Dicke und lachte herzlich. »Kennen wir ihn?«
Ein großer, blonder Mann mit ernstem Gesicht und spitzem Kinnbart schlug ihm den Ellenbogen in die Rippen. Der Dritte, hager und asketisch im Körperbau, rieb sich schweigend seine krumme Adlernase und sah dabei zu Boden, ein kräftiger Mann mit Halbglatze ließ ungeduldig die Karten zwischen den Fingern knattern.
»Ich bin Wissenschaftler an der Universität Greifswald, von Stettin aus unterwegs auf einer Forschungsreise mit meinem Assistenten und Schüler Haribald hier.«
Haribald lächelte zaghaft. Das Gespräch hatte ihm gerade noch gefehlt. Jeder Satz hielt ihn länger davon ab, die Bilder in seinem Kopf zu zeichnen, die Penetration, die Hautfalten, die dunkle Hütte, die Schatten.
»Und Ihr sucht also den Menschen?«, fragte der Hagere mit der Adlernase.
Bechstein kratzte sich am Hinterkopf. »Nun, ich untersuche ihn, um genau zu sein.«
»Ihr untersucht ihn. Erzählt uns mehr. Was genau untersucht Ihr?«
»Das Thema ist sehr komplex und ich stehe erst in der Mitte meiner Studien. Falls Ihr gestattet, möchte ich vorerst so viel verraten: es geht um Grundlagenforschung.«
»Verratet mir wenigstens, warum Ihr dazu gerade in unser verschlafenes Nest kommt«, sagte der Blonde.
»Es ist vor allem die Lage.« Bechstein drehte seine Mütze zwischen den Händen, machte einen weiteren Schritt in den Schankraum und sah zu Boden.
Müsste mal gewischt werden, dachte er, bevor er den Kopf hob.
»Die Lage? Wovon genau sprecht Ihr, in Gottes Namen? Setzt Euch und erzählt«, forderte der Hagere. Der Dicke und der Blonde nickten, der Kräftige kniff kritisch die Augen zusammen.
Bechstein drehte sich um zu Haribald, der die Augen verdrehend an der Theke stand. Der Wirt neben ihm verzog keine Miene. Mit einem breiten Lächeln wandte sich der Professor wieder den Männern zu.
»Vielleicht ein anderes Mal. Die Reise hat mich sehr erschöpft, und mein Assistent hat noch eine Lektion zu lernen. Ich würde Euch gerne später ein paar Fragen stellen. Mit wem hatte ich die Ehre?«
»Mein Name ist Peter Solberg, Ratsherr von Blankenburg«, sagte der Bärtige. »Das ist Richard Dülmen, der Bürgermeister, und dort seht Ihr Burkhard Widmann, unseren Stadtkämmerer, daneben Claus Nowak, Ratsherr und Vorsitzender der Handwerkerinnung. Wie ist Euer Name?«
»Ludwig Bechstein. Sehr erfreut.«
Er machte eine kleine Verbeugung. Die vier Männer neigten ihre Köpfe ebenfalls.
»Es würde uns sehr gefallen, wenn Ihr uns mehr über Eure Arbeit erzähltet. Vielleicht führt Euch morgen Euer Weg ins Rathaus.«
Bechstein dankte. Der Wirt ging voran in den ersten Stock. Haribald kämpfte sich schimpfend mit dem Gepäck hinterher. In der zweiten Etage, direkt unter dem Dach, öffnete der Wirt eine schmale Tür zu einem engen Zimmer. Ein Fenster führte hinaus zur Straße. In einer Ecke des Raumes stand ein zweites, kleineres Bett.
»Das Beste im Haus. Und das einzige mit zwei Betten.«
»Ich hoffe, es ist nicht zu hart«, klagte Haribald. Ächzend setzte er das Gepäck ab. »Ich habe es mit dem Rücken.«
»Haribald, hör auf, dich zu beschweren«, forderte Bechstein. »Du hörst dich schon an wie mein letzter Assistent, der Alfred. Der Weg zu Wissen und Weisheit ist dornig.«
Bechstein gab dem Wirt eine Bestellung für das Abendessen mit, schloss die Tür. Haribald setzte sich prüfend auf sein Bett, sein Meister ging Hände reibend durch das Zimmer. Er hatte sein Barett achtlos auf den Nachttisch geworfen, die grauen Haare hingen ihm wirr um den Kopf. »Herrlich, Haribald, wir kommen voran. Die Hufeisen, die Kreuze an den Türen, die Anschuldigungen. Wunderbar. Oh Jahrhundert, oh Wissenschaften. Es ist eine Lust zu leben. Ich sage dir, bevor wir in Süddeutschland ankommen, werden wir einiges mehr an Gewissheit erlangen. Von hier sind es etwa sechs Meilen zum Gipfel, das sollten wir an einem halben Tag schaffen.«
»Mit einem Pferd, ja«, knurrte Haribald.
»Weißt du, wie viel uns der Gauner für ein neues Pferd abknöpfen wollte? Acht Taler, mein Junge, acht Taler. Für den mageren Klepper. Dieser Halsabschneider.«
Haribald schweifte in Gedanken ab, während der Professor sich über die hohen Reisekosten beschwerte, wünschte sich zurück nach Stettin in sein Atelier, in die Marienstraße.
»Lies bitte erneut die Stelle.« Bechstein setzte sich auf einen Stuhl und ließ sich von Haribald die Schuhe ausziehen.
»Schuhe oder lesen?«
»Erst Schuhe, dann lesen.«
»Ich dachte, ich solle auch den Überzieher putzen.«
»Also bitte, erst putzen, dann lesen.«
»Und sollte ich nicht nach einem Pferd fragen?«
»Also gut, erst ausziehen, dann den Überzieher putzen, dann nach einem Pferd fragen und dann lesen.«
»Lesen, bevor oder nachdem der Wirt das Bier gebracht hat?«
»Herrgott, Haribald, willst du bei mir was lernen, musst du auch was lesen. Du kannst dich nicht immer davor drücken. Denke daran, meine Junge: Du kannst zum Tier entarten; aber du kannst dich ebenso aus dem freien Willen deines Geistes zum gottähnlichen Wesen wiedergebären. Und der Weg dahin ist die Bildung.«
Der Professor stützte sich mit einem Fuß auf die Schulter seines Adlatus, und zog den anderen Fuß aus dem Schuh. Haribald begleitete mit einem missmutigen Gesicht die Schimpftiraden des Alten, der nach dem Buch auf dem Nachttisch griff und begann, darin herumzublättern.
»Hast du deine letzte Lektion über die Schädelhälften gelernt? Ja? Nun, dann können wir heute ein neues Kapitel aufschlagen. Etwas, das zu unserer Aufgabe passt. Also. Laut Institoris und Sprenger gibt es dreierlei Arten. Die eine... na, wie hieß Institoris mit bürgerlichem Namen, Haribald, wie hieß er?«
»Heinrich Krämer«, sagte Haribald, öffnete seinen Tabaksbeutel und zog die Membran mit spitzen Fingern aus dem Tabaksbeutel. Er brauchte Wasser. Warmes Wasser und Seife. Gab es etwas Gutes, das Haribald über seinen Lehrer sagen konnte, so war es dieser fast dogmatische Glauben an Seife, ein Werkzeug der Körperhygiene, das viele Ärzte als Ursache für Krankheiten verteufelten, da es den Körper erst für Erreger öffnete. Was auch immer daran war – nichts machte den Überzieher sauberer als dieses Stück Kernseife, das Bechstein von einem Barbier in Stettin bezog.
»Richtig, gut, also, dreierlei Arten. Einige bezaubern, lösen aber den Zauber wieder auf, andere beschädigen, ohne wieder zu entzaubern, und einige können nur entzaubern... Was ist, warum putzt du nicht?«
Haribald war in der Mitte des Zimmers stehen geblieben und lauschte. Es war totenstill.
»Hört Ihr das, Professor?«
»Was soll ich hören?«
»Nichts.«
»Ja, das höre ich.«
»Ist das nicht schön?«
»Haribald, manchmal frage ich mich, ob du ganz bei Sinnen bist.«
Kopfschüttelnd schlug der Professor eine andere Seite auf, die er sogleich vorzulesen begann, während Haribald auf die Membran starrte, die von seinen Körpersäften und denen der Bäuerin verklebt war und unangenehm roch.
»Laut der Theorie Aliboris, und das solltest du dir gut einprägen, hat der alte Brauch, in der Nacht vom 30. April auf den ersten Mai unerträgliche Musik zu spielen, den tatsächlichen Effekt, sie sichtbar zu machen. Hören sie also diese Musik, verlieren sie das zur Schau getragene Gesicht und zeigen ihr wahres Selbst, ob sie wollen oder nicht...oder nicht. Was ist? Du putzt ja immer noch nicht.«
Haribald hielt den Überzieher angewidert in der Hand, sah zum Fenster. »Hört Ihr das?« Der Professor verstummte und lauschte.
»Nein, ich höre wieder nichts. Du lenkst ab, Haribald.«
»Zu schön«, sagte Haribald und holte den in einem Leinenbeutel steckenden, unförmigen Klumpen Seife aus der großen Reisetasche des Professors. »Zu schön.«
»Langsam denke ich, du willst mir gar nicht zuhören.«
Schulterzuckend stellte sich Haribald in die Mitte des Zimmers, Bechstein schlug eine neue Seite auf. »...treffen sie sich auf dem Brocken, um ihrem Meister zu huldigen, sich zu vergnügen, zu treffen, Rezepte auszutauschen, zu feiern... Rezepte austauschen? Was ist denn das? Wer hat das geschrieben? Rezepte, Haribald, hast du wieder in meinem Buch herumgeschmiert? Haribald!«
»Ich brauche Wasser.«
»Dann geh zum Wirt und hol dir welches. Aber lass den Überzieher hier. Ich will kein Aufsehen erregen.«
Der Wirt schickte ihn zur rothaarigen Magd, die sich als Philippa vorstellte und ihn mit tief ausgeschnittenem Hemd zur Herdstelle im hinteren Teil der Küche begleitete. Dort füllte sie aus einem Bottich frisches Wasser einen kleinen Kessel, den sie an einem Haken über die offene Flamme hängte.
»Wofür brauchst du das?«, fragte die Magd.
»Zum Waschen.«
»Du wäscht dich? Aber das ist doch ungesund.«
»Mein Meister ist da anderer Meinung.«
Die Magd, rothaarig, mager und nicht viel älter als Haribald, blickte verschwörerisch über die Schulter, bevor sie ihr Gesicht ganz nah an sein Ohr brachte. Haribald hatte nicht einmal Zeit, erschrocken zurückzuweichen »Ich mache es auch. Heimlich. Heute Abend, wie jeden Samstagabend.«
Und dann kicherte sie. Haribald gefiel, wie ihr rotes Haar über die von Sommersprossen gesprenkelte Haut fiel. Ihre Brüste waren kaum mehr als eine Andeutung unter dem Kleid. Rotes Haar auf weißer Haut, dazu blassrosa Lippen und kleine, spitze Brustwarzen – ideal für eine Rötelzeichnung. Ob sie ihn diesen Kontrast zeichnen ließ, diese Authentizität? Nur Weiß und Rot, Papier und Kreide, die Wiedergabe der Natur, festgehalten für die Ewigkeit.
»Ich wasch mich jeden Tag«, sagte Haribald. Ihre Augen begannen zu leuchten.
»Komm mit«, sagte sie und nahm ihn bei der Hand. Überrascht folgte der schmale Junge ihr, flüsterte, flehte fast.
»Darf ich dich zeichnen?«
»Später«, flüsterte sie. Haribald seufzte unhörbar. Bekam er denn nie, was ihm wichtig war?
Die Vorratskammer war eng und roch nach Kohl, nach Äpfeln vom letzten Winter und nach Schinken. Sie klammerte sich an ihn und bohrte ihm ihre Zunge in den Mund. Ganz anders als ein paar Stunden zuvor. Diese Magd duftete frisch, nicht ranzig wie die Bäuerin. Hier brauchte er keinen Überzieher. Und doch war es nicht, was er wollte. Er wollte sie ansehen, mit den Augen verschlingen und ihr Antlitz zu Papier bringen.
Das dünne Kleid war schnell gehoben, die Beine gespreizt. Im flackernden Licht der Kerze, die das Mädchen auf das Regal mit den Broten gestellt hatte, jubelte Haribald über milchweiße Haut, über spitze Brüste mit hellroten Nippeln, über rotes Haar auf einem köstlichen Schamhügel, über die rosafarbene Möse, die nach Jugend roch, und nicht nach Stall, sich in seine Augen brannte, rosa, blass, vorsichtig, faltig und feucht, die fixiert werden musste, erst mit den Augen, dann mit Kreide und schließlich mit Leim auf dem Papier, damit sie nicht verwischte.
Dass er nicht so tief eindringen konnte, sondern weit vor Ende des Weges auf Widerstand stieß, den das stöhnende Mädchen quiekend wie ein Ferkel ankündigte, nahm er nur unbewusst war. Zu sehr dachte er an seine Skizzen, die Kreide zwischen seinen Fingern, die Strich für Strich die Wirklichkeit nachbaute, ohne echt zu sein, die das Schönste des Menschen festhielt und einen schlechten Charakter vergessen ließ, Krankheiten, Hass und alles, was später kam.
Und schließlich überkam ihn doch die Lust, und er spürte die Reibungen seines Degens im engen Futteral. Das Haff im Winter und schattige Haine im Sommer, Rundungen und Öffnungen, Gefühl, aus dem Bilder entstanden, verlorene Dinge, die zerbrochene kleine Flasche.
Sie hielt inne, drückte ihn an den Schultern nach oben, stoppte seine Stöße. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Schenkel dampften, die Möse troff von ihrem ersten Höhepunkt. Nur er hatte seinen Samen noch nicht vergossen. Irritiert blickte er zur Magd hinab.
»Was ist? Das Wasser kocht bestimmt noch nicht.«
Sie errötete, schob ihn von sich herunter, so dass sein steifer Schwanz aus ihr glitt. Katzengleich rollte sie sich auf die Knie und streckte ihm ihren kleinen Po entgegen. Die Hälften teilten sich und entblößten eine entzückend rosa Öffnung, glatt und ohne Falten. Über die Schulter geblickt flüsterte sie: »Neben dir auf dem Regal steht etwas Rindertalg.«
Haribald seufzte wieder, dieses Mal aber nicht so tief.
Der Wirt, mit Bier und Schweinshaxen auf einem großen Tablett, unterbrach Haribald später bei dem Versuch zu verstehen, was die Mission im Harz mit den Grundzielen seiner Ausbildung zu tun hatte, warum er sich noch immer mit den Problemen des freien Willens, des menschlichen Schicksals, der mitmenschlichen Verantwortung und der sittlichen Entscheidung beschäftigen sollte, wenn es sich im Grunde genommen bloß um Aberglaube drehte.
Haribalds Augen leuchteten beim Anblick des Tabletts. Schon lange hatte sein Magen geknurrt. Der Sinn stand ihm jetzt, wo sein inneres Auge satt war vom Anblick gespreizter Schenkel, offener Mösen und spitzer Brüste, nach Bier und nicht nach Bruno.
Der Wirt ließ sie alleine mit den Worten: »Zum Frühstück haben wir Hafergrütze und kräftiges Bier, der geheime Ort ist hinter dem Haus, wo die meisten Fliegen sind.«
Bechstein und Haribald aßen schweigend und gingen dann zu Bett. Spät nachts setzte sich Haribald an einen Tisch und brachte beim Schein des Mondes die ersten Skizzen zu Papier. Für einen Augenblick war er glücklich.