Читать книгу In den Fesseln der Vergangenheit - Sara-Maria Lukas - Страница 4
Prolog
ОглавлениеKatie lag auf dem Rücken und starrte gegen die Zimmerdecke. Neben ihr schnarchte Trevor. Die Klimaanlage surrte, der Morgen dämmerte bereits und die Umrisse der Möbel im nobel eingerichteten Schlafzimmer wirkten wie bedrohliche dunkle Ungeheuer auf sie.
Sie hatte die ganze Nacht lang wach gelegen, denn am letzten Abend war ihr mit aller Deutlichkeit klargemacht worden, wie sehr man sie verarscht hatte.
Wie hatte sie bloß so dumm sein können? Warum hatte sie nicht viel eher etwas gemerkt? Warum hatte sie Trevor nicht durchschaut?
Liebe macht blind, dachte sie verbittert; der Spruch hatte definitiv seine Daseinsberechtigung.
Wie wunderbar hatte alles begonnen. Es war wie ein Traum gewesen.
Sie hatte Trevor de Winter in einem Café kennengelernt und sich schnell in ihn verliebt. Er war zehn Jahre älter als sie und sehr selbstbewusst gewesen. Sie hatte ihn nur zwei Wochen nach dem Tod ihres Großvaters, ihrem letzten Verwandten, kennengelernt. Es war eine Zeit, in der sie sich sehr allein und einsam gefühlt hatte. Trevor war charmant gewesen, aber gleichzeitig auch selbstsicher, dominant und fürsorglich. Er war genau der Typ Mann, auf den Katie stand. Er hatte ihr erzählt, dass seine Eltern früh durch einen Unfall gestorben waren, genau wie ihre. Das hatte sie von Anfang an miteinander verbunden, mehr als es normal gewesen wäre.
Er war ein Finanzgenie, legte das Geld anderer Leute an, kaufte und verkaufte Aktien. Seine Kontakte managte er diskret und intelligent, er verdiente sehr gut, und Katie hatte es genossen, nicht mehr immer nur sparsam sein zu müssen.
Sie hatte es auch genossen, wenn er ihr die Autotür zum Einsteigen öffnete oder streng darauf bestand, dass sie, anstatt zur Uni zu gehen, im Bett blieb und sich verwöhnen ließ, wenn sie eine kleine Erkältung hatte.
Ja, sie hatte sich von seiner Großzügigkeit, seinem Aussehen und seiner Selbstsicherheit blenden lassen. Er hatte sie schon nach ein paar Wochen ihrer Beziehung gefragt, ob sie ihn heiraten würde, und anstatt auf mehr Zeit zu bestehen, hatte sie zugestimmt, vielleicht auch, weil sie keine Familie mehr hatte und so gern wieder zu jemandem gehören wollte.
Jetzt hasste sie sich für ihre Naivität.
Alles Lüge! Es war alles Lüge und Show gewesen, nur mit dem Ziel, sie in eine Falle zu locken! Was für ein Scheiß!
Als sie zugestimmt hatte, ihn zu heiraten, hatte er um eine stille, heimliche Hochzeit gebeten. Ihre Eltern waren tot und viele Freunde gab es nicht, so war sie damit einverstanden, kein traditionelles großes, fröhliches Fest zu veranstalten. Sie hatten mit zwei Fremden als Trauzeugen vor einem Standesbeamten gestanden und sich in einer kurzen Zeremonie das Ja-Wort gegeben. Als Termin hatten sie den Beginn der Semesterferien gewählt, um anschließend eine ausgedehnte Reise unternehmen zu können.
Bereits während der ersten Tage ihrer Flitterwochen hatte er begonnen, sich zu verändern. Er war ungeduldiger geworden, hatte sie immer öfter stundenlang allein gelassen, angeblich, um sich um seine Geschäfte als Global Player zu kümmern. Am Anfang hatte sie sich nichts dabei gedacht, doch als er aufgehört hatte, mit ihr zu schlafen, sie stattdessen abends ebenfalls lange allein ließ und mit einer Alkoholfahne und unnatürlich vergrößerten Pupillen zurückkehrte, wurde sie allmählich sauer. Manchmal stank er auch nach billigem Parfüm oder hatte Lippenstiftspuren am Hemdkragen.
Er entschuldigte sich, sagte, er müsse manchmal mit Kunden in Nachtclubs gehen, um Geschäfte zu machen, und schenkte ihr teuren Schmuck und Blumen, doch sie entfremdeten sich immer mehr voneinander.
Vor zwei Tagen war die Situation eskaliert. Sie hatte ihn dabei erwischt, wie er im Badezimmer gekokst hatte. Sie hatte ihn angeschrien und er war wütend aus dem Hotelzimmer gerannt. Daraufhin hatte sie seine Sachen nach Drogen durchsucht, einen zweiten Pass mit seinem Bild gefunden und darin den Namen Mendoza gelesen.
Ihre Welt war zusammengebrochen. Sie hatte ihren Koffer gepackt und wollte nach London zurück, um die Ehe annullieren zu lassen, doch Trevor war zurückgekehrt, bevor sie verschwinden konnte. Er hatte sie mit der Waffe bedroht, als er den gepackten Koffer gesehen hatte, und seine Maskerade vollständig fallen lassen. Seine Eltern waren nicht tot, sondern putzmunter, und er gab zu, Trevor Mendoza zu sein statt ein harmloser Mann namens Trevor de Winter. Und das war das Schlimmste, denn der Name Mendoza war Katie ein Begriff. Als angehende Anwältin mit dem Ziel, eines Tages für die Staatsanwaltschaft zu arbeiten, hatte sie sich mit den großen Namen des weltweiten organisierten Verbrechens beschäftigt, und auf der langen Liste stand Mendoza ziemlich weit oben.
Es war nicht zu fassen! Ohne es zu wissen, hatte sie den Sohn von Carlos Mendoza geheiratet. Vielleicht wäre sie eher darauf gekommen, wenn sie nicht so vertrauensselig gewesen wäre, denn im Internet gab es Fotos der Familie. Sie hätte ihn darauf erkannt, aber natürlich hatte sie nie das Bild ihres Liebsten in Mafiakreisen gesucht.
Trevor telefonierte, während er sie mit seiner Waffe in Schach hielt. Kurze Zeit später wurden sie von mehreren Männern abgeholt und in einer Limousine mit abgedunkelten Scheiben zu einem kleinen Privatflugplatz gefahren. Dort zwang man sie mit vorgehaltener Waffe in einen Hubschrauber, der sie zum Landsitz des Clans flog.
Nachdem der Hubschrauber gelandet war, empfing Carlos Katie wie einen Gast in seinem Büro und schickte seine Männer und seinen Sohn weg, um sich allein mit ihr zu unterhalten. Sie stand mitten im Raum und hatte Zeit, ihn zu mustern, bevor sich die Tür schloss und sie mit ihm allein war. Er war ein alter Mann mit weißen Haaren und einem gebeugten Rücken. Trotzdem wirkten seine Gesichtszüge, die nichts von seinen Gedanken verrieten, nicht harmlos, sondern extrem gefährlich. Die Kälte, die er ausstrahlte, ließ Katie innerlich erstarren. Diesen alten Mann durfte sie auf keinen Fall unterschätzen.
Er schlenderte hinter seinen Schreibtisch und betrachtete sie. An jede Sekunde und jedes Wort, das sie miteinander gewechselt hatten, konnte sie sich erinnern:
«Bitte setz dich, Katie.» Er deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
«Für Sie bin ich Katinka Fleming», fauchte sie und ballte die Fäuste.
«Für mich bist du die Schwiegertochter, die ich mir immer gewünscht habe.»
«Was für ein Blödsinn.» Sie schnaubte. «Ich wurde hintergangen. Die Heiratsurkunde ist nicht gültig. Die Ehe zwischen Trevor und mir existiert nicht.»
Er lächelte. «Die Urkunde ist korrekt und die Trauzeugen werden das bestätigen. Ein sich liebendes, innig vertrautes Paar ist vor den Standesbeamten getreten und niemand wird die Echtheit der Ehe bezweifeln.» Er machte eine Pause, und seine Augen ruhten so eindringlich auf ihr, dass sie Mühe hatte, dem Blick standzuhalten. Dann fuhr er fort: «Ich kann dich nicht einfach gehen lassen, Katie, ich brauche dich. Zumindest für eine Weile.»
«Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich in ihre dreckigen Geschäfte verwickeln lasse! Sie unterschätzen mich, Mr. Mendoza. Ich bin kein dummes Weibchen, das sich manipulieren und herumschubsen lässt.»
Er lächelte wieder. «Das weiß ich, meine Liebe, deswegen bist du ja so wertvoll für uns. Trevor sollte dich allmählich auf deine zukünftige Aufgabe vorbereiten, aber leider hat er sich wie ein Dummkopf benommen.» Er seufzte. «Aber ich bin bereit, großzügig zu sein, um das wiedergutzumachen. Jeder hat seinen Preis, und ich bin bereit, dir für deine Kooperation einen guten Preis zu zahlen. Du bist eine intelligente Frau und wirst bestimmt zu schätzen wissen, was ich dir bieten kann. Es geht nicht nur um Geld. Trevor wird irgendwann die Zügel in dieser Familie in der Hand halten und jemanden brauchen, der darauf achtet, dass er … sagen wir mal … nicht allzu viel falsch macht. Du kannst eine der mächtigsten Frauen der Welt werden, Katie. Reizt dich das nicht?»
«NEIN!»
«Ich bin nicht dein Feind, ich will nur dein Bestes.»
«Wir haben nichts zu bereden! Ich bin nicht korrupt!»
Einen Moment blieb es still, dann räusperte er sich. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass du die Nacht in einem unserer Kellerräume verbringen möchtest, um einen klaren Kopf zu bekommen, damit wir uns vernünftig unterhalten können. Setz dich endlich.» Er deutete mit der Hand auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
Stille. Die Sekunden vergingen, und sie begriff, dass sie ihre Gefühle kontrollieren und mit ihm reden musste, denn zumindest im Moment hatte sie keine Chance, sich aus diesem Haus und dieser Familie zu befreien. Sie setzte sich und presste die Lippen aufeinander.
Er lehnte sich zurück, faltete die Hände und lächelte. «Du hast nicht nur einen wachen Geist, du bist auch eine Kämpferin, Katie. Das gefällt mir. Wir brauchen Kämpfernaturen in unserer Familie.»
Sie antwortete nicht, sondern wartete darauf, dass er weiterredete. Und das tat er.
«Du hast deine Eltern früh verloren und ich habe mir immer eine Tochter gewünscht. Wir haben dich lange beobachtet, bevor wir dich als Ehefrau für Trevor ausgewählt haben. Ich freue mich, dich jetzt endlich persönlich kennenzulernen.»
Katie starrte ihn nur an, denn ihr fiel wieder keine passende Antwort ein.
Er beugte sich vor und legte die Fingerspitzen zu einer Raute zusammen. «Was weißt du über den Namen Mendoza?»
«Genügend.»
Er lachte laut. «Da täuschst du dich, meine Liebe. Niemand weiß wirklich etwas über uns, man vermutet nur so einiges. Du gehörst jetzt zu einer der reichsten und einflussreichsten Familien des Landes. Du kannst ein herrliches Leben führen. Was ist daran so schlimm?»
«Ich bin betrogen worden. Ich habe einem drogensüchtigen Lügner vertraut! Die Ehe besteht für mich nicht! Auf der Urkunde steht ein falscher Name, wir haben nichts mehr miteinander zu tun.»
Er seufzte. «Ich verstehe, dass du auf Trevor sauer bist. Er ist jung und leider nicht immer so vernünftig, wie er sein sollte. Den falschen Namen mussten wir ihm besorgen, weil er bei einem Geschäft nicht vorsichtig genug war und auf die Fahndungslisten der Polizei geraten ist. Ich werde ein ernstes Wort mit ihm reden müssen. Er wird dir in Zukunft mit mehr Respekt begegnen, das verspreche ich dir. Ihr müsst keine Bilderbuchehe führen; solange der Schein nach außen gewahrt bleibt, reicht das völlig. Bleibt für ein paar Jahre das Ehepaar de Winter, danach kannst du dich meinetwegen auch offiziell von ihm trennen.»
«Warum? Was soll das alles?»
«Du wirst mal eine hervorragende Staatsanwältin sein. Bereits in den nächsten Semesterferien absolvierst du ein Praktikum in der Staatsanwaltschaft und bekommst interessante Einblicke in Akten, die uns bisher verschlossen sind. Du wirst Karriere machen, und es spricht nichts dagegen, dass du eines Tages in die Politik gehst. Du könntest sogar Premierministerin werden.»
Er zwinkerte und sie kapierte. Der Clan brauchte einen Insider in der Staatsanwaltschaft und plante langfristig mit ihr in dieser Rolle. Die Ehefrau eines Mafioso im Parlament wäre natürlich sehr praktisch.
«Nein.»
Er lehnte sich zurück, griff nach einem Kugelschreiber und drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. «Ich dachte, du würdest an deinem Leben hängen.»
Er sagte den Satz so beiläufig, als ob er übers Wetter reden würde, doch sein Blick glitzerte wie die blanke Schneide eines Schwertes. Dann lächelte er plötzlich wieder. «Ich meine natürlich dein Leben im Luxus, das Leben, das dein Ehemann dir bietet.»
Katie wusste sehr genau, was er meinte. Sie schluckte und nickte. «Ich verstehe.»
Carlos stand auf, holte zwei Gläser und eine Flasche Cognac aus einem Schrank und schenkte für sie beide ein. Als er ein Glas vor ihr auf dem Schreibtisch abstellte, nickte er ihr zu. «Mach nicht so ein schockiertes Gesicht, meine Liebe. Du bist intelligent, nervenstark, ehrgeizig und realistisch. Du wirst ein sehr glückliches Leben führen und eine tolle Karriere machen. Für das, was ich dir anbiete, würden andere Frauen morden.» Er lachte. «Keine Sorge, das verlange ich gar nicht von dir. Für derartig profane Aufgaben haben wir genügend Männer auf unseren Lohnlisten. Wir stoßen jetzt auf eine erfolgreiche Zukunft an, und dann erkläre ich dir im Detail, was ich von dir erwarte.»
«Und wenn ich mich weigere? Sie können mich nicht ständig kontrollieren, wenn ich in der Staatsanwaltschaft arbeiten soll.»
Er zuckte mit den Schultern. «Du kannst deine Karriere vergessen, wenn rauskommt, dass du heimlich einen Mafioso geheiratet hast. Wir haben eine zweite Heiratsurkunde ausstellen lassen, in der du die Ehefrau von Trevor Mendoza bist, und du kannst mir glauben, die Unterschrift wird niemand als Fälschung erkennen. Ich habe wahre Künstler für derartige Aufgaben in unserer Organisation. Außerdem können jede Menge Leute bezeugen, was für ein glückliches Paar ihr gewesen seid. Die Urkunde liegt hier im Tresor, und dort bleibt sie auch … solange du kooperierst.»
Trevor räusperte sich im Schlaf und Katies Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Sie war in einer Luxusvilla eingesperrt, und ihr Leben hing davon ab, ob sie bei dem Arrangement mitspielte oder sich weigerte. Sie sollte Katie de Winter bleiben, um einen Fuß in die Staatsanwaltschaft zu bekommen, was ihr mit dem Familiennamen Mendoza natürlich niemals möglich wäre.
Sie würde mitspielen. Aber nur zum Schein. Katinka Fleming würde kein Opfer, kein Spielball, keine Marionette eines Mafiaclans sein. Carlos Mendoza würde sich noch wundern. Oh ja! So einfach konnte man sie nicht manipulieren. Er und sein widerlicher Sohn würden eines Tages Albträume von ihr haben, wenn sie den Rest ihrer jämmerlichen Leben in Zellen verbringen mussten, in denen sie durch die Staatsanwältin Katinka Fleming gelandet waren.
Durch sie wollte Carlos Mendoza einen Fuß in die Staatsanwaltschaft und die große Politik bekommen. Das war ein Fehler, den er bitter bereuen würde.
Sie würde sich zum Schein fügen und mitspielen, doch sobald man sie nicht mehr auf Schritt und Tritt bewachte, würde sie aktiv werden. Ihren Ehemann würde sie mittels einer anonymen Anzeige loswerden, die Trevor de Winter als Trevor Mendoza outete. Das sollte ihn in den Knast bringen oder ihn zumindest dazu zwingen, wieder unterzutauchen, denn es bestand ja immer noch der Haftbefehl.
Aber vorher musste sie Beweise sammeln, um sich auch gegen den Zugriff durch seinen Vater zu schützen. Seit Jahren arbeiteten die Behörden daran, den Mendoza-Clan zu zerstören. Sie war nun mittendrin und würde bestimmt genug Material finden, um Carlos dazu zu zwingen, sie in Ruhe zu lassen. Während ihres Studiums hatte sie sich nicht nur mit Rechtswissenschaften beschäftigt. Sie wusste über die Methoden der Kriminellen Bescheid, wusste, wie man Geld wusch, und kannte sich im Darknet aus. Sie wusste, wie man mit versteckten Kameras und Abhörgeräten arbeitete, wusste, wie man Informationen so gut verstecken konnte, dass sie auch durch die Anwendung von Foltermethoden nicht verraten werden konnten.
«Fuck, Carlos Mendoza, du schmieriger, böser alter Mann, du wirst es bitter bereuen, mir mein Leben gestohlen zu haben. Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist», flüsterte sie in die Stille des Schlafzimmers, schloss die Augen und schlief ein.