Читать книгу In den Fesseln der Vergangenheit - Sara-Maria Lukas - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеKatie packte einige Konservendosen zu den frischen Lebensmitteln in ihrem Einkaufswagen, dann hatte sie alles, was sie brauchte, und schob ihn an den uralten Tresen. Neben der antiquarisch anmutenden Registrierkasse stand immer noch das große Glas mit Süßigkeiten, aus dem sich die Kinder bedienen durften, wenn sie mit den Eltern zum Einkaufen kamen. So war es immer gewesen, und so würde es wohl auch immer bleiben, solange es Meyers Laden in Kingscandle gab. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Katie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie sich als kleines Mädchen auf die Zehenspitzen gestellt und mit einer Hand am Tresen festgekrallt hatte, um mit der anderen in das Glas zu greifen. Am meisten hatte sie sich immer gefreut, wenn sie einen von den dunkelroten Kirschlollis erwischt hatte.
In diesen Teil des Landes verirrten sich nur selten Touristen, denn der Ort war genauso langweilig wie die Landschaft drumherum.
Carl Meyer junior führte das Geschäft, seit Carl Meyer senior in den Ruhestand gegangen war, und als er hinter den Tresen trat, musste Katie unwillkürlich schmunzeln. Der Junior hatte bereits schneeweiße Haare und eine Halbglatze, aber trotzdem blieb er in den Köpfen der Menschen hier der junge Meyer. So war das eben in einem kleinen Dorf wie Kingscandle.
Er tippte die Artikel aus ihrem Einkaufswagen in die Kasse ein und nannte ihr den Preis. Katie zückte ihre Karte und hielt sie ihm entgegen.
Mittlerweile konnte man sogar in diesem Geschäft bargeldlos bezahlen, was nun auch schnell erledigt war.
Als sie die Karte wieder einsteckte, nickte er ihr zu. «Hast du die erste Nacht in dem alten Haus gut überstanden?»
«Ja. Nachdem ich das Gröbste sauber gemacht und zwei Stunden lang gelüftet hatte, konnte ich es gut aushalten.»
«Funktionieren die Wasserhähne noch oder sind sie eingerostet?»
Katie winkte ab. «Alles in Ordnung, nur die Scharniere der Haustür musste ich ölen, weil sie furchtbar quietschten.»
Er nickte. «Dann wünsche ich dir eine schöne Zeit in deiner alten Heimat, Mädel. Wenn du bei irgendwas Hilfe brauchst, ruf an. Du weißt, dass eure Nachbarn inzwischen ebenfalls weggezogen sind, oder?»
Katie nickte. «Ja, das hat Grandpa mir kurz vor seinem Tod erzählt. Wurden die Häuser verkauft oder stehen sie leer?»
«Die alte Hütte von Henry steht leer, aber das große Cottage der Familie Jameson wurde vor vier Monaten an einen Ausländer verkauft, der es als Ferienhaus nutzen will. Es muss ein reicher Typ sein, denn er hat es aufwendig renovieren lassen. Aber es hat ihn noch niemand gesehen.» Er machte eine vage Handbewegung und verzog das Gesicht. «Keine Ahnung, was das für ein Kerl ist. Wir sind alle misstrauisch. Warum steckt jemand in dieser Gegend so viel Geld in ein altes Haus? Schließ nachts bloß sorgfältig ab, Katie!»
«Mach dir keine Sorgen um mich, Onkel Carl. Ich komme klar, ich bin ja schon ein großes Mädchen.» Katie zwinkerte, als sie ihn scherzhaft so ansprach, wie sie es aus Kindheitszeiten gewohnt war, griff nach den Einkaufstüten und wollte sich zum Ausgang des kleinen alten Ladens drehen.
Doch der Besitzer lachte und drängte sie sanft zur Seite. «Das ist nicht zu übersehen. Ich bringe dir die Sachen trotzdem zum Auto.» Er nahm ihr die Tüten ab und sie verließen nebeneinander das Geschäft. «Wie lange bleibst du?», fragte er sie.
«Bis zum Ende der Semesterferien. Ich muss mich ja um den Verkauf des Cottages kümmern und hoffe, ich finde überhaupt Interessenten. Der Zustand des Gebäudes ist nicht der beste. Als ich gestern ankam, roch es in den Räumen muffig und feucht.»
Carl nickte. «Du kriegst das schon hin. Du wirkst so souverän und erwachsen, ich hätte dich fast nicht wiedererkannt. Dich haut so schnell garantiert kein Makler übers Ohr, da würde ich meine Altersversorgung verwetten.»
Katie gluckste. «Wenn du mich schon in meinen alten Jeans so einschätzt, solltest du mal die Klamotten sehen, die ich während meiner Praktika in den Anwaltspraxen trage.» Sie seufzte. «Hätte ich gewusst, dass Grandpa so plötzlich stirbt, wäre ich trotz des zeitaufwendigen Studiums öfter gekommen, um ihn zu besuchen. Doch immer, wenn ich anrief, prahlte er, wie gut es ihm geht und wie wohl er sich fühlt.»
«Mach dir keine Gedanken. Es ging ihm wirklich gut, er hatte den Tod deiner Großmutter verwunden und war sehr stolz auf seine Enkelin. Er plante sogar, dich zu deinem Abschluss in London mit einem Besuch zu überraschen. Niemand konnte ahnen, dass sein Herz so plötzlich schlappmachen würde.»
Katie öffnete die Kofferraumklappe ihres Kombis, Carl stellte ihre Einkäufe hinein und sie schüttelte ihm die Hand. «Danke. Auch dafür, dass du in den letzten Jahren immer für Grandpa da warst, wenn er jemanden brauchte.»
«Dafür brauchst du mir nicht zu danken, das habe ich gern gemacht.»
Sie schloss die Klappe und öffnete die vordere Tür. «Wundere dich nicht, wenn ich mich im Dorf nicht sehen lasse. Ich muss in den nächsten Wochen sehr konzentriert an meiner Masterarbeit schreiben.»
Sie stieg ins Auto und er nickte ihr zum Abschied zu. «Viel Erfolg dabei!»
Vierzig Minuten dauerte die Fahrt aus dem Dorf heraus, zu dem Grundstück, auf dem Katie ihre Kindheit verbracht hatte. Sie kannte die Strecke so gut, dass sie den Weg mit verbundenen Augen gefunden hätte, obwohl die Fahrt im Zickzackkurs über schmale, buckelige Straßen in die Landschaft hineinführte. Urige, vom Wind gekrümmte Büsche und Bäume unterbrachen ab und zu das eher eintönige Grasland. Seitdem die kleinen Bauern nach und nach aufgegeben hatten, gab es in der Gegend nur noch industrielle Landwirtschaft mit riesigen Weideflächen und Kornfeldern. Dazwischen lagen kleine Landstücke brach, die trotz der Jahreszeit an vielen Stellen trocken, ungepflegt und mager wirkten.
Früher wurde hier vorwiegend Schafzucht betrieben, denn der landwirtschaftliche Anbau von Getreide oder Gemüse lohnte sich auf den kargen Böden nur, wenn in großen Mengen und mit großen modernen Maschinen bearbeitet werden konnte. Doch inzwischen gab es keine Schafzüchter mehr. Die meisten Familien waren weggezogen und die einsam gelegenen kleinen Häuser verfielen oder wurden als Wochenendhäuser genutzt.
Als Katie am Vortag spät in der Nacht angekommen war, hatte sie von der Umgebung nicht mehr viel gesehen. Jetzt genoss sie den Blick in die Weite der Landschaft.
Nein, sie hatte definitiv keine Angst, ganz allein so weit draußen zu wohnen. Dies war ihre Heimat, was sollte ihr hier passieren?
Als sie bereits drei Viertel des Weges geschafft hatte und mit niedriger Geschwindigkeit den unbefestigten Weg entlangfuhr, der direkt zu ihrem Haus führte, sah sie nach einer Kurve einen dieser hypermodernen, teuren Geländewagen parken. Er glänzte in edlem Schwarz und Chrom, was darauf schließen ließ, dass er einem Fremden gehörte. Hier fuhren die Leute keine Autos dieser Bauart.
Katies Magen zog sich zusammen. Musste sie doch Angst haben? Nein. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Außer ihren engsten Freunden wusste niemand, dass sie nach Schottland gefahren war. Bestimmt war das bloß der neue Besitzer des Nachbarhauses.
Da an dieser Stelle rechts und links des Weges hohe Büsche wuchsen, konnte sie nicht einfach an dem Auto vorbeifahren, sondern musste anhalten.
Ein Mann stieg aus dem Angeberauto und lehnte sich mit übergeschlagenen Knöcheln an den Kotflügel. Er trug schwere Stiefel, eine ausgeblichene Jeans und darüber eine braune Lederjacke, wie Motorradfahrer sie hatten. Seine Haare waren schwarz und sehr kurz geschnitten. Er hielt ein Smartphone in der Hand und sah mit gesenktem Kopf auf den Bildschirm.
Katie beschlich ein mieses Gefühl. Dieser Typ wirkte nicht wie jemand, der sich ein Cottage in dieser Gegend als Feriendomizil aussuchte.
Er blickte auf und stellte sich ihr mit leicht gespreizten Beinen in den Weg. Er war schlank, aber nicht dünn, seine Schultern wirkten breit und sein Brustkorb kräftig. Katie schätzte sein Alter auf über fünfunddreißig. Seine von der Sonne gebräunte Haut passte zu einem Spanier oder Italiener. Ein schwarzer Dreitagebart bedeckte seine ausgeprägten Kieferknochen und das Kinn, wodurch sein Gesicht nicht schön, sondern kantig, düster und böse wirkte. Im krassen Kontrast dazu waren seine Lippen weich geschwungen und das Weiß in seinen Augen schien geradezu unheimlich zu leuchten. Beim Blick in sein Gesicht glaubte Katie, gefährliche elektrische Schwingungen in der Luft zu spüren.
In ihrem Nacken begann es zu kribbeln. Sie konnte nicht definieren, was sie fühlte. Es war eine seltsame Mischung aus Unbehagen und Faszination, die ihren Blick an diesen ungewöhnlichen Mann fesselte.
Er zeigte keine Regung. Seine Miene schien wie in Stein gemeißelt, und Katie konnte nicht wegsehen, es war, als hätte der Typ sie hypnotisiert.
Seit der Zeit ihrer Ehe reagierte sie äußerst misstrauisch auf Männer, die sie nicht sofort einschätzen konnte. Bei diesem war es besonders schlimm. Er erinnerte sie an Trevor und seine Mafiafreunde. Am liebsten würde sie den Rückwärtsgang einlegen und flüchten, zwang sich aber, es nicht zu tun. Angst war ein fieses Mittel der Unterdrückung, und Katie hatte sich geschworen, sich nie wieder in ihrem Leben von Bedrohungen einschüchtern zu lassen.
Sie schaltete den Motor aus, öffnete die Tür, stieg halb aus und sah ihn über die Autotür hinweg an. «Haben Sie ein Problem?»
Er schlenderte näher, und sie musste den Kopf heben, um ihm weiterhin ins Gesicht sehen zu können.
Seine Lippen verzogen sich zur Andeutung eines Lächelns. «Nein, es läuft alles nach Plan.»
Irritiert starrte sie ihn an und öffnete den Mund, doch bevor sie einen Laut von sich geben konnte, raschelte es im Gebüsch und jemand trat neben dem Auto von hinten an sie heran. Sie zuckte zusammen und wollte sich umdrehen, doch da wurde schon in ihre Haare gepackt und der Lauf einer Waffe bohrte sich in ihren Hals. Sie keuchte auf.
«Kein Ton, Süße, sonst muss ich dir sehr wehtun.» Die männliche Stimme direkt an ihrem Ohr klang rau und gehässig. Der Gestank von kaltem Zigarettenrauch, gemischt mit altem Schweiß, erreichte ihre Nase.
Katies Herzschlag raste und sämtliche Muskeln ihres Körpers versteiften sich.
Auf der anderen Seite des Weges raschelte es erneut und ein dritter Typ kam aus den Büschen heraus. Seine kurzen Haare waren blond, aber sie hatte keine Zeit, ihn näher zu betrachten, denn der Dunkelhaarige vor ihr begann zu reden. «Karim, du folgst uns mit ihrem Wagen.»
«Alles klar, Boss», hörte sie eine leise Stimme, die an das Knurren eines großen Hundes erinnerte. Sie wurde von ihrem Auto weggezerrt und der Blonde schlenderte an ihr vorbei und setzte sich hinein.
Drei Männer hatten sie in ihre Gewalt gebracht. Ihr Mund wurde trocken und Panik drohte ihren Verstand zu überschwemmen.
«Setz dich mit ihr auf die Rückbank», befahl der Typ vor ihr mit Blick auf den Geländewagen. Er agierte zweifellos als ihr Anführer.
Der, der sie festhielt, zerrte sie rückwärts. Die Autotür wurde geöffnet und endlich löste sich die Starre in Katies Kopf. Sie stieß einen gellenden Hilfeschrei aus.
«Still! Sofort!» Der Anführer packte sie so fest am Kinn, dass sie glaubte, ihre Kieferknochen würden brechen.
Sie verstummte, konnte aber ein Keuchen nicht unterdrücken. Er musste ihr nicht drohen, sie zu töten, seine Mimik war aussagekräftig genug.
«Rein hier», zischte der Typ, der sie festhielt, in ihr Ohr und zerrte so fest an ihren Haaren, dass sie glaubte, ihre Kopfhaut würde aufreißen. Eine Minute später saß sie auf der mit schwarzem Leder bezogenen Rückbank des Geländewagens. Ihr Aufpasser hatte sie halb auf seinen Schoß gezogen, drückte weiterhin den Lauf der Waffe an ihren Hals und hielt sie an den Haaren gepackt.
Der Anführer schloss die Tür und setzte sich auf den Fahrersitz. Er startete den Motor, der mit einem tiefen Brummen seine hohe Leistungsfähigkeit demonstrierte, und fuhr los.
Das in traditioneller Bauweise aus grauen Felssteinen errichtete kleine Cottage der Großeltern kam in Sicht. Seit es niemand mehr pflegte, war der Garten verwildert und die alten, hohen Bäume warfen große Schatten auf das Haus.
Der Typ am Steuer bog auf die Zufahrt ab und fuhr den gut dreißig Meter weiten Weg bis vor den Eingang.
Er stieg aus und öffnete dann die hintere Tür, damit ihr Aufpasser mit ihr aussteigen konnte.
Das Motorengeräusch ihres alten Kombis wurde lauter. Der Blonde parkte ihn neben dem Geländewagen und stieg aus. Er kam in ihr Sichtfeld und reichte dem Anführer ihren Schlüsselbund.
«Danke.» Er sah Katie an, und schon wieder schienen seine Augen die seltsame Kraft zu haben, gefährliche elektrische Schwingungen in ihre Richtung zu feuern. «Welcher ist für die Haustür?»
«Bei mir lohnt sich ein Überfall nicht. In diesem Haus gibt es nichts Wertvolles.»
Er lächelte und sein Blick wanderte nachdrücklich über ihren Körper. «Das sehe ich anders, Schätzchen.»
Katies Herzschlag dröhnte durch ihre Adern bis in ihre Schläfen hinein, als ihr klar wurde, was ihr anscheinend bevorstand. Die Männer würden ihren Spaß mit ihr haben wollen, sie wollten sie vergewaltigen.
In ihrem Bauch breitete sich Kälte aus, während sie beobachtete, wie der Typ in aller Ruhe zur Haustür schlenderte und die einzelnen Schlüssel in das Schloss steckte, bis er den erwischte, der passte. Die Tür sprang auf und er trat ein. «Bringt sie rein.»
Katie wurde ins Haus bugsiert. Im Wohnzimmer blieben sie stehen. Der Anführer sah sich kurz um, dann wandte er sich ihr zu. «Wo ist dein Handy?»
Katie starrte ihm in die Augen und presste die Zähne fest aufeinander. Kein Ton kam über ihre Lippen.
Der Anführer nickte dem Blonden zu. «Durchsuch sie, Karim.»
Der war also der, der Karim hieß. Das musste sie sich für ihre Aussage bei der Polizei merken.
Lächelnd stellte er sich vor sie. «Sehr gerne.»
Sein Gesichtsausdruck erinnerte Katie an den einer grinsenden Hyäne. Sie hielt die Luft an. Ihr Aufpasser hatte seinen Griff nicht gelockert, und sie konnte keine Bewegung machen, ohne dass er ihr den Lauf der Waffe noch fester an den Hals drückte. Dieser Karim hatte die Ausstrahlung eines Verbrechers, dem Hemmungen völlig fremd waren. Seine eisblauen Augen und seine Lippen bildeten schmale Linien, seine Haare waren militärisch kurz geschnitten und seine Haut glatt rasiert. An der rechten Augenbraue fiel ihr eine kleine Narbe auf. Er war nicht so groß wie der Anführer der Bande, aber breitschultrig und kräftig.
Er öffnete ihre Jacke und zog sie mit einem Ruck halb über ihre Schultern. Dann packte er mit einer plötzlichen Bewegung in ihren Ausschnitt und riss ihre Bluse auf. Die Knöpfe purzelten auf den Boden und Katies Oberkörper war bis auf den weißen BH entblößt. Er nickte beifällig, packte ihre Brüste, knetete sie, fuhr mit den Händen an ihrem Brustkorb bis zu ihrer Taille hinab und tastete dann mit unsensiblen Griffen ihre Beine entlang nach unten. Katie biss die Zähne so fest zusammen, dass es schmerzte. Auf keinen Fall würde sie dem Typen den Gefallen tun und ihre Angst zeigen.
***
Jayden schnaubte verächtlich. «Die wenigstens Frauen tragen ihr Handy im BH, wie wäre es mal mit einem Griff in die Jackentaschen?»
Karim grinste. «Es hätte doch sein können.» Er tätschelte die Wange ihrer Gefangenen. «Nicht wahr, Süße?»
Sie antwortete nicht und er griff in ihre Jackentasche. Tatsächlich steckte darin ihr Smartphone.
Jayden hielt die Hand auf. «Gib her.»
Karim gehorchte.
Jayden tippte auf das Display. Der Fingerprint wurde verlangt und er winkte ungeduldig. «Ihre Hand.»
Karim packte ihren rechten Arm, zerrte ihn nach vorn, Jayden griff nach ihrem Zeigefinger und drückte ihn in die gewölbte Einbuchtung. Wie vermutet, hatte sie die einfachste Version der Fingerabdrucksicherung benutzt und das Smartphone wurde entsperrt. Er ließ sich damit auf einem der alten Sessel nieder, um sich in Ruhe den Inhalt anzusehen.
«Was machen wir mit ihr?», fragte Aaron.
Jayden sah auf, überlegte kurz und zeigte in die Zimmerecke gegenüber des Couchtischs. «Fesselt sie und legt sie dort an die Wand. Dann holt ihre Einkäufe rein, parkt ihr Auto in dem alten Schuppen und beseitigt sämtliche Fingerabdrücke darin.»
Karim zog die Augenbrauen in die Höhe. «Ich hatte Handschuhe an, als ich die Kiste eben gefahren bin.»
«Und ich will, dass in ihrem Auto überhaupt keine Fingerabdrücke zu finden sind, weder von dir noch von ihr noch von ihrem Ehemann.» Während er das sagte, fixierte er Katies Gesicht und glaubte, ein Zucken ihrer Wimpern zu erkennen, als er das Wort Ehemann ausgesprochen hatte. Bingo. Seine Vermutung war also richtig und die Scheidung ein Fake, um ihre Karriere als Anwältin nicht zu gefährden. Sie traf sich heimlich mit ihm und die beiden mussten dabei sehr, sehr raffiniert vorgehen.
Eine Zeit lang hatte Jayden vermutet, dass der morgendliche Job in der Großbäckerei den Treffen diente, aber dann war ihm klar geworden, dass Schottland in dem Eheleben von Katie und Trevor eine Rolle spielen musste, denn sonst hätte sie das leer stehende Haus doch längst verkauft. Vielleicht nutzten die Mendozas das unscheinbare alte Cottage schon lange für ihre Zwecke, als Lager, als Briefkasten oder als geheimen Treffpunkt. Es musste ja einen Grund dafür geben, dass Katie es nach dem Tod ihres Großvaters behalten hatte und jetzt sogar ihre Semesterferien in dem alten Gemäuer verbringen wollte.
«Anschließend könnt ihr das Haus durchsuchen. Fangt oben mit den Schlafzimmern und dem Dachboden an. Achtet unbedingt auch auf gelöste Bodendielen», befahl er, ohne Katie aus den Augen zu lassen, aber sie tat ihm nicht noch mal den Gefallen, eine Reaktion zu zeigen.
«Alles klar, Boss.»
Während Jayden die Kontakte in ihrem Handy durchsah, zwangen Aaron und Karim die Frau seines Erzfeindes auf den Boden. Karim holte Stricke aus der Tasche und sie fesselten ihre Hände auf dem Rücken. Dann umwickelten sie ihre Knöchel, zerrten sie in die Zimmerecke und schlenderten Richtung Haustür.
Jayden hob den Kopf. «Aaron?»
«Boss?» Er drehte sich um.
«Durchsuchen, nicht verwüsten. Wenn jemand durchs Fenster sieht, muss alles normal wirken. Und zieht euch Handschuhe an.»
Aaron seufzte. «Verstanden.»
Sie verschwanden nach draußen und der Motor des alten Kombis sprang an.
Im Raum wurde es still, während das Geräusch des Motors leiser wurde und schließlich ganz verstummte.
Jayden sah sich um. Das Haus hatte Katies Großeltern gehört und war dementsprechend altmodisch eingerichtet. Anscheinend war nichts verändert worden, seit es leer stand. Die Möblierung des Wohnzimmers war typisch für eine ländliche gute Stube – schlichte Schränke aus dunklem Holz, Polstermöbel mit dunkelroten Stoffüberzügen, ein polierter Holzfußboden und gerahmte Familienfotos an den weiß gestrichenen Wänden.
Alles wirkte sehr unauffällig und war daher bestens als Versteck für die Mafia geeignet. Niemand würde hier ein Waffen- oder Drogenlager vermuten. Sicher würden sie während der Durchsuchung interessante Sachen finden.
Aus den Augenwinkeln beobachtete Jayden sein Opfer, Trevors holde Gattin. Vor seinem inneren Auge erschien sie im Bleistiftrock, mit flachen Pumps, einer weißen Bluse und hochgesteckten Haaren, dem Outfit, in dem er sie oft beobachtet hatte, wenn sie ihre freiwilligen Praktikumstage absolvierte. Jetzt trug sie Jeans und ein schlichtes Sweatshirt. Ungeschminkt wirkte sie wie ein junges Mädchen, nicht wie eine angehende Anwältin.
Sie lag auf dem Bauch, ihre linke Wange auf der Seite, sodass sie in den Raum hineinsehen konnte. Jedoch hingen ihr Haarsträhnen ins Gesicht. Er konnte nicht erkennen, ob sie ihn ansah oder die Augen geschlossen hatte. Sie bewegte sich nicht. Sie weinte auch nicht. Nicht mal, während Aaron und Karim sie verschnürt hatten, hatte sie einen Laut von sich gegeben. Sie schien ziemlich nervenstark zu sein. Ohne dass er sich dagegen wehren konnte, nistete sich ein Hauch von Respekt für ihre unglaubliche Selbstbeherrschung in seinem Hass ein.
Fuck! Was für ein Quatsch! Die Tussi war geschockt, sonst gar nichts. Oder sie fühlte sich sicher, weil sie eine mächtige Mafiafamilie hinter sich wusste.
Während der vielen Wochen, in denen er sie in der Stadt beobachtet hatte, hatte sie stets einen gepflegten und modebewussten Eindruck gemacht. Sie schminkte sich dezent und geschmackvoll, trug die Haare meist zu einem Knoten am Hinterkopf geschlungen und zeigte ein einnehmendes Lächeln. Allerdings ordnete er diese aparte Erscheinung eher als eine Fassade ein. Ihr wahres Gesicht zeigte sie, wenn sie in Londons Bars und Clubs unterwegs war. Jayden hatte sie einige Male beobachtet, wie sie mit Freundinnen ausgelassen gefeiert hatte. Allerdings hatte sie sich nie ernsthaft mit einem Mann eingelassen, was sie sicher getan hätte, wenn sie tatsächlich geschieden wäre. Ein weiteres Indiz dafür, dass er mit seiner Vermutung richtiglag und die Trennung nur fingiert war, um in der Staatsanwaltschaft freie Bahn zu haben.
Obwohl Trevors Vater, Carlos Mendoza, noch nie wegen eines Verbrechens verurteilt worden war, war es trotzdem klüger, nicht zur Familie Mendoza zu gehören, denn nur weil es der Polizei nicht gelungen war, Beweise gegen ihn vorzulegen, wogen die Indizien für viele Verbrechen trotzdem schwer. Für die Ehefrau eines Mendoza wäre eine Karriere als Staatsanwältin nicht möglich, auch wenn sie noch so tolle Noten vorweisen konnte. Es sprach zwar niemand aus, aber dass die Beweise bei der Polizei verschwunden waren, wunderte nur Leute, die keine Ahnung hatten, wer die Mendozas hinter ihrer bürgerlichen Fassade wirklich waren. Vielleicht wäre das anders, hätten Trevor und Katie ihre Ehe weiter unauffällig unter dem falschen Namen de Winter geführt. Jahrelang hatte ihn niemand erkannt, weil niemand Interesse daran hatte, einen langweiligen Typen zu fotografieren und mit den internationalen Verbrecherkarteien zu vergleichen.
Jayden verstand noch nicht so ganz, warum Trevors Tarnung aufgeflogen war. Auch den Sinn von Katies frühmorgendlichen Aufenthalten in der Bäckerei konnte Jayden trotz aller Erkundigungen nicht wirklich erkennen. Offiziell war es ein Studentenjob. Doch diese Studentin hatte es nicht nötig, hart zu arbeiten, um ihr Studium zu finanzieren. Immerhin waren die Eigentümer Italiener. Vermutlich diente der gesamte Betrieb der Geldwäsche.
Vielleicht würde er jetzt, in diesem Haus, etwas finden, was die vielen offenen Fragen klärte.
Er hielt das Handy in Katies Sichtfeld. «Unter welchem Namen hast du ihn gespeichert?»
Stille. Keine Regung.
Er stand auf und hockte sich vor sie. Ihr Brustkorb hob und senkte sich deutlich sichtbar, aber sie bewegte sich keinen Millimeter. Er berührte mit einem Finger ihre Wange. Sie zuckte, und er hörte, wie sie kurz keuchte. Doch dann schien sie den Atem anzuhalten.
Er strich die weichen welligen Haarsträhnen nach hinten, um ihr Gesicht zu sehen. Ihre Nasenflügel bebten, ihre Augen waren offen und sie starrte geradeaus an ihm vorbei.
«Du kannst dir viel Leid ersparen und wirst mich schnell wieder los, wenn du kooperierst. Das ist dir doch klar, oder?»
«Was wollt ihr von mir?» Ihre Stimme war nur ein heiseres Flüstern und immer noch sah sie ihn nicht an.
«Ich muss deinen Mann sprechen und dummerweise weicht er diesem Gespräch seit Jahren aus.»
«Ich habe keinen Mann.»
Kopfschüttelnd schnalzte er mit der Zunge. «Ich frage dich später noch mal, Katie. Denk in Ruhe darüber nach, ob du dich wirklich für ihn opfern willst.»
***
Erst nachdem der Typ sich erhoben und entfernt hatte, konnte Katie zitternd ausatmen. Immer noch kribbelte ihre Wange von der Berührung durch seine Fingerspitzen, als er ihre Haare nach hinten gekämmt hatte.
Der Kerl war unheimlich. Er wirkte eiskalt, als ob er nichts fühlen würde, aber unter der gefrorenen Maske schien heißer Hass zu brodeln. Dieser Mann war einer der Sorte, für die es so selbstverständlich wie Zähneputzen war, Menschen umzubringen, die ihnen im Weg standen.
Er drehte sich um und zog lederne Handschuhe aus der Gesäßtasche seiner Jeans. Als er sie angezogen hatte, begann er, Schranktüren zu öffnen und deren Inhalte zu betrachten. Er fand alte Fotoalben, schlenderte damit zurück zu Grandpas Lieblingssessel, auf dem er vorher schon gesessen hatte, und begann, darin zu blättern.
Katie zwang sich, ruhig zu atmen. Sie durfte nicht die Nerven verlieren, auch wenn ihr jetzt klar war, dass dies kein gewöhnlicher Überfall und sie kein Zufallsopfer war.
Ihren Namen aus seinem Mund zu hören, hatte sie fast panisch aufheulen lassen. Natürlich hätte sie schon vorher darauf kommen können, doch erst seine Stimme, die ihren Namen auf eine Art artikulierte, die fast genussvoll sanft klang, ließ die schmerzhafte Ahnung zur Gewissheit werden: Er gehörte zu einer der Mafiafamilien, die sich die Welt untereinander aufteilten. Was immer dieser Typ wollte, es hatte mit den Mendozas zu tun. Das organisierte Verbrechen ließ sie nicht aus seinen Klauen.