Читать книгу Verdammte Unschuld - Sarah Engell - Страница 6
ОглавлениеKapitel 4
Weit weg zwitschert ein Vogel in einer Baumkrone. Sonst ist es vollkommen still in den einsamen Villenstraßen. Ich gehe auf dem Bürgersteig, setze einen Fuß vor den anderen, ein Seiltänzer auf dem Weg durch die Dunkelheit.
Aus beiden Richtungen ziehen mich meine Gedanken. Ich breite die Arme aus und konzentriere mich auf die Schritte. Es ist schwierig, in den hochhackigen Sandalen zu laufen. Ich denke an Jannicks Hände in meinen. Die Wärme seiner Lippen. Die Musik, die meine Stimme übertönte, als ich flüsterte: „Du darfst mich nie verlassen.“
Ich knicke mit dem Fuß um. Der Knöchel tut mir weh, aber ich setze meinen Balanceakt auf dem Bordstein fort. Die Stille und die Dunkelheit schmelzen um mich herum zusammen. Mit jedem Schritt verschwindet die Hoffnung, seine Stimme hinter mir zu hören. Das Geräusch seiner laufenden Schritte und meines Namens zwischen seinen Lippen.
Ich beeile mich jetzt, halte die Tränen zurück, während ich immer noch mit ausgestreckten Armen und geradem Rücken laufe. Auf dem Bordstein wechseln sich meine Füße ab, immer ein Fuß nach dem anderen.
Man hört Stimmen und Gelächter. An der Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite steht eine Gruppe junge Männer. Einer schwingt sich um die Eisenstange der Haltestelle. Er reibt sich daran und stöhnt. Die anderen lachen und klatschen.
Ich nehme das Handy aus der Tasche und suche die Nummer meiner Eltern hervor. Ich habe sie als einzige unter der Telefonnummer statt unter ihrem Namen bei den Kontakten gespeichert. Ich bleibe kurz stehen und betrachte die acht Ziffern. Dann klappe ich das Handy zusammen und lege es in die Tasche zurück.
Als ich weiter geradeaus laufe, klicken meine Absätze gegen den Bordstein. Jedes Mal, wenn ich mit dem Fuß umknicke, beiße ich die Zähne zusammen und konzentriere mich auf den nächsten Schritt.
Es wird still, als ich mich der Bushaltestelle nähere. Ich spüre Blicke auf meinem Körper.
Der Typ an der Eisenstange pfeift. „Hallo Hübsche, und jetzt?“
Ich bleibe stehen.
„Kommst du nicht rüber und trinkst ein Bier mit uns?“
„Halt die Klappe.“ Einer der anderen trifft ihn am Hinterkopf.
Er lacht laut und schwingt sich um die Eisenstange, während er sich auf die Brust schlägt. Das Gelächter hallt durch die einsamen Villenstraßen.
„Doch, gerne“, sage ich. „Ein Bier klingt gut.“
Es wird vollkommen still, als ich die Straße überquere und zu ihnen gehe.
Der Typ lässt die Eisenstange los. Er wirft erst den anderen einen schiefen Blick zu, dann mir.
Ich gehe an ihm vorbei und setze mich auf die Bank unter dem Schutzdach. Der Vogel in der Baumkrone fliegt raschelnd davon und verschwindet.
Die Typen bleiben stehen, unbeweglich. Dann eilen sie zu mir und setzen sich neben mich. Sie haben eine Plastiktüte mit Bierdosen, die sie verteilen. Ich öffne eine Dose und nehme einen ersten Schluck. Das Bier ist lauwarm. Dann nehme ich einen großen Schluck.
Die Typen sind in Jannicks Alter, vielleicht älter. Sie sind zu viert. Der mit der Eisenstange sitzt rechts von mir, so dicht, dass sich unsere Schenkel berühren. Er trägt eine Brille mit dunklem Gestell und hat ein markantes Kinn. In beiden Ohren Diamantenpiercings.
„Und wohin will eine so schöne Jungfrau?“, fragt er.
„Nirgendwohin“, sage ich.
„Cool, von dort komme ich gerade.“
Die anderen lachen.
Der Stangentänzer leert sein Bier und nimmt sich ein anderes. Ein wenig Schaum läuft über den Rand. Er saugt es mit den Lippen auf.
Einer der anderen nimmt sein Handy hervor und schaltet Musik ein. Der Ton ist schlecht. Es klingt wie Rihanna.
Auf der Straße fährt ein Auto vorbei. Die Scheinwerfer zeigen auf den schwarzen Asphalt. Ich höre den Motorenlärm, der schwächer und schwächer wird, bis er ganz verschwindet.
„Wann kommt der Bus?“ frage ich.
„Das weiß man nie“, sagt der Stangentänzer. „Das weiß man nie.“
Er sieht mich mit einem merkwürdigen Blick an, und lehnt sich dichter an mich. So dicht, dass ich seinen Atem riechen und die kleinen Blutäderchen in seinen Augen sehen kann.
„Meine Güte, ich bin erregt“, flüstert er. „Du auch?“
Um mich herum wird die Welt verschleiert. Weiß lackierte Nägel trommeln auf die Außenseite der Dunkelheit und ein kaltes, klebriges Gefühl klettert meine Beine hoch.
Dann nicke ich.
Der Stangentänzer lacht. Er sieht die anderen an und nickt.
Mit einer ungeschickten Bewegung nimmt er mich am Nacken. Die Lippen sind leicht geöffnet. Er riecht nach Bier und billigem Parfüm.
Als er mich küssen will, drehe ich mein Gesicht weg.
Das Herz hämmert in meiner Brust.
„So, so.“ Er nuschelt. „Vielleicht mag man kein Vorspiel?“
Die anderen lachen.
„Ich habe einen Freund“, sage ich.
„Du hast ihn aber verdammt gut versteckt.“ Er schaut unter die Bank und breitet die Arme aus.
Ich versuche zu lachen, aber mein Lachen ist eine Spieldose.
Alles dreht sich, und Jannick geht es ohne mich bestens. Er hat sicher nicht einmal bemerkt, dass ich gegangen bin.
„Kommst du mit?“ fragt der mit dem Handy. „Zur Party!“
Er spricht das Wort Party nicht richtig aus. „Gratis Alkohol“, fügt er hinzu und wippt mit den Augenbrauen.
„Tja“, murmele ich und blicke in die dunkle Straße.
„Oder hast du vielleicht andere Pläne?“, fragt der Stangentänzer.
Ich zucke mit den Schultern. Der Klumpen im Hals sperrt den Weg für meine Worte. Wenn überhaupt noch Worte da sind.
Eine Hand legt sich auf meinen Schenkel. Ich drehe den Kopf und blicke in das dunkle Brillengestell. Hinter den Gläsern schwimmen ein paar suchenden Augen.
„Du bist schön“, sagt er.
Mein Gesicht fühlt sich steif an. Ich drücke auf einen Knopf, und meine Mundwinkel heben sich automatisch in ein mechanisches Lächeln.
Ihm geht es ohne mich bestens. Also gut. Super für mich.
Die Hand fährt meinen Oberschenkel weiter hoch. Ich blicke an das Schutzdach, während ich an Jannicks Lächeln denke. Seinen nackten Oberkörper. Die Hand, die den Kopf des Mädchens dichter dran schob. Das kleine Stückchen Banane auf dem rot gefärbten Mund.
Der Stangentänzer atmet schneller. Seine Hand ändert die Richtung gegen meinen Innenschenkel. Ich bekomme eine Gänsehaut, obwohl der Abend warm ist.
„Immer noch erregt?“ flüstert seine Bierstimme in mein Ohr.
Ich lasse die Lippen hochfahren. Ich lächle.
Super für mich. Super.
Die Hand ist zwischen meinen Oberschenkeln. Die Finger drücken auf mich. Das Lied spielt schneller, und ich höre immer noch nicht, ob es Rihanna ist oder nicht.
Der Stangentänzer leckt mich am Hals. Die Zunge ist viel zu warm.
„Ich habe einen Freund“, murmle ich wieder, während die Worte fest sitzen und keinen Inhalt haben.
„Sehr, sehr schön“, nuschelt er und steckt seine Zunge in mein Ohr.
Die Tüte mit Bier raschelt. Das Geräusch, als eine neue Dose aufgemacht wird, bringt meinen Atem zum Stillstand.
Der Vogel ist weit weg, und nur das leise Rascheln der Baumkronen hallt ins Vakuum der Nacht.
Die Hand in meinem Schritt arbeitet schneller, als würde sie etwas suchen, das nicht da ist. Es fühlt sich ungeschickt und ekelhaft an. Aber ich bleibe sitzen. Ich bleibe sitzen, und er hat sicher nicht einmal bemerkt, dass ich gegangen bin.
Ein schwerer, gelber Nachtbus dreht um die Ecke und kommt näher.
Party, nicht richtig ausgesprochen, stellt sein Handy ab und steht auf. „Let´s go!“
„Jetzt halt die Klappe“, sagt der Stangentänzer. „Wir nehmen einfach den nächsten. Die Party hat gerade erst angefangen.“
Er zieht den Reißverschluss meiner Shorts runter und berührt meinen Slip. Die Finger sind warm, wie die Zunge. Sie wandern unter den Rand meines Slips.
Party klappst ihm auf die Schulter, aber er reagiert nicht. Er stöhnt in mein Ohr.
Der Bus fährt zum Bordstein und hält seufzend an. Der stechende Geruch des Auspuffs geht direkt in die Nase.
„Komm jetzt, verdammt noch mal“, sagt Party.
Der Stangentänzer versucht, mich zu küssen. Ich drehe das Gesicht weg.
Party packt ihn am Arm. „Komm jetzt, lass sie in Ruhe.“
Der Bieratem ist viel zu nahe.
Die zwei anderen kommen hinzu. Sie nehmen den Stangentänzer und ziehen ihn weg von der Bank. Er protestiert und tritt nach ihnen, aber sie sind zu viele. Sie ziehen ihn mit zum Bus. „Verdammt, sie ist höchstens 15 Jahre alt“, zischt Party und schiebt ihn durch die offene Tür.
Sie verschwinden in den Mittelgang, vier Silhouetten gegen die mit Werbung besetzten Fenster. Der Busfahrer lehnt sich zur Tür raus und sieht mich an. Ich starre zurück, sitze immer noch mit leicht gespreizten Beinen und einen Klumpen im Hals. Er kneift die Augen zusammen, dann zieht er an einem Hebel, und die Vordertür geht zu.
Der Bus fährt in die Nacht hinein. Ich bleibe auf der Bank sitzen und sehe ihn um eine Ecke verschwinden. Die Baumkronen rascheln über mir. Ich versuche zu spüren, ob es mir besser oder schlechter geht als vorher, aber abgesehen vom Geschmack des lauwarmen Biers in meinem Mund spüre ich keinen Unterschied.
Langsam stehe ich von der Bank auf, nehme ein Stück Kaugummi und gehe das letzte lange Stück nach Hause.
Diesmal balanciere ich nicht auf dem Bordstein.
Meine Hände zittern, als ich die Schlüssel hervorsuche und das dunkle Haus aufschließe. Ich stelle meine Sandalen im Eingang ab und gehe in die Küche, wo ich einen Toast mit Schinken, Tomaten und Oregano mache. Die Schranktüren gehen lautlos zu, obwohl ich sie zuknalle.
Der Duft von geschmolzenem Käse verbreitet sich. Ich lehne mich an den Küchentisch und nehme mein Handy aus der Handtasche. Es war den ganzen Abend auf lautlos gestellt. Auf dem Display heißt es, dass ich vier unbeantwortete Anrufe und zwei SMS empfangen habe. Alle Anrufe und die Nachrichten sind von Jannick.
In der ersten Nachricht heißt es:
Wo bist du?
In der zweiten heißt es:
Ruf mich an
Ich drücke mehrmals auf Delete. Während ich das Handy in der Hand halte, fängt es wieder zu läuten an. Es ist Jannick. Ich stecke den Daumen unter die Klappe des Telefons, so dass sie sich ganz wenig öffnet. Das Licht auf dem Display verschwindet.
Ich lege das Handy weg und nehme den Toast aus dem Ofen. Das Brot dampft. Ich umwickle es mit Küchenpapier in mehreren Schichten und esse es in langen, schnaufenden Bissen. Jedes Mal beim Schlucken tut es mir weh. Ich zwinge das Essen herunter, während ich in die Stille horche. Vor mir sehe ich immer noch das kleine Stückchen Banane, Jannicks Lächeln. Das Tequilaglas, das nach hinten in seinen Mund gekippt wurde.
Das Handy klingelt wieder. Das Display leuchtet auf und blinkt lange. Dann wird der Schirm schwarz.
Ich esse den Rest vom Toast und werfe das Küchenpapier in den Abfall, konzentriere mich darauf, nicht an die Jungen an der Bushaltestelle zu denken. Ich wasche mir die Hände. Der Wasserstrahl spült die Seife weg, und das Ganze verschwindet in einer Spirale durch den Abfluss.
Im Küchenschrank finde ich ein großes Glas, das ich mit Wasser fülle. Ich leere es, während ich mir vorstelle, dass mein Körper eine Spirale ist, die alles verschwinden lässt.
Das einengende Gefühl im Hals ist noch da.
Seufzend stelle ich das Glas weg und gehe aus der Küche. Das Haus ist ganz still. Ich schleiche durch den Flur zum Schlafzimmer meiner Eltern. Die Tür ist angelehnt. Beide Betten sind leer. Die Decken liegen auf jeder Bettseite zusammengeknüllt, zwei Kellerasseln, die auseinander gerollt sind.
Ich kehre dem Schlafzimmer den Rücken und gehe hoch in mein Zimmer. Das Handy lege ich unter das Kopfkissen.
Ich ziehe mich aus und lege die Kleider auf einen Stuhl. Den Slip werfe ich in den Papierkorb.
Ich setze mich aufs Bett, so dass ich aus dem Fenster schauen kann. Es ist bewölkt, und es ist kein einziger Stern am Himmel. Schwere, weiße Wolken liegen quer zum Himmel, zusammengeklebt und entfernt.
Ich erblicke eine Gestalt im Garten. Ich lege die Stirn gegen das Fenster und schaue hinaus. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit.
Es wird mir merkwürdig kalt, als ich ihn wiedererkenne. Papa steht im Garten hinter dem Haus und betrachtet seinen großen Vogelkäfig. Er hat die Hände in die Hüfte gestemmt und den Rücken zum Haus hin. Sein Körper zeichnet einen unbeweglichen Schatten in das sonst überall Schwarze.
Vorsichtig öffne ich das Fenster und lehne mich hinaus. Der milde Nachtwind duftet nach Jasmin und feuchtem Gras. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, aber alle Worte sind weg. Langsam lasse ich das Fenster zugleiten und krieche unter die Decke mit dem Kopf auf meinem schweigenden Telefon.