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Meine Kindheit

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Geboren bin ich am 26. Juni 1986 in der Stadt Aarau, mein Heimatort ist der Kanton Bern und in meinen Adern fliesst Schweizer- und Italiener-Blut. Aufgewachsen bin ich in Schönenwerd, einem kleinen, modernen Dorf im Kanton Solothurn, direkt an der aargauischen Grenze. Schönenwerd verfügt über eine grosse Geschichte und war vor Jahrzehnten durch die Schuhproduktion der Firma Bally noch weltbekannt. Heute ist davon nicht mehr viel zu spüren. Was jedoch geblieben ist, ist ein wunderschöner Park, der von Herr Bally damals für seine Mitarbeiter zur Pausenbeschäftigung erbaut wurde. Heute dient der Park sowohl den Touristen, wie für Hochzeitsgesellschaften oder als optimale Kulisse für Foto-Shootings, sowie den Familien und Sporttreibenden für ihre Freizeitbeschäftigungen. Ich lebte bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr im Haus meiner Eltern am Rande des Dorfes, nicht unweit vom Bally Park entfernt.

Die Kindheitstage sind bekanntlich die Jahre der Prägung. Unser Umfeld und unsere Erlebnisse haben zu keinem anderen Zeitpunkt in unserem Leben einen so starken Einfluss mit prägender Langzeitwirkung wie in diesem Lebensabschnitt. Wir kopieren aus unserem Umfeld, besonders aus dem engsten, der Familie, verschiedenste Verhaltensweisen. Weitere entwickeln wir selbst, insbesondere dann, wenn sie sich als besonders wirkungsvoll herausgestellt haben. Wir wiederholen also quasi das Verhalten, das sich für ein Problem bewährt hat, immer wieder dann, wenn dasselbe Problem auftaucht. Mit der Zeit zeigen sich solche Verhaltensmuster immer mehr und immer mehr werden sie zu einem Teil von uns, einem Teil, der uns gegenüber von Mitmenschen je nach deren Manifestationen im Positiven aber auch mal negativ erscheinen lässt. Es sind die Ecken und Kanten anhand deren wir uns nebst optischen Merkmalen unterscheiden. Resümiere ich heute mit einunddreissig Jahren mein Leben, so kann ich viele solche Manifestationspunkte erkennen. Ich weiss heute, weshalb ich auf aktuelle Probleme reagiere, wie ich reagiere oder wieso ich in der Vergangenheit falsch reagiert habe. Wahrscheinlich gelingt mir diese Erkenntnis bedingt durch eine gewisse Reife, aber auch dadurch, dass ich mich vermehrt mit fachmännischer Literatur befasste, welche mir diesen Prozess erstmals in meinem Leben ermöglicht hat. Meine Kindheit war im Bereich der Familie eine Herausforderung, resultierend aus zwei differenzierten Erwartungen, gehegt von zwei verschiedenen familiären Parteien. Meine Tante und Grossmutter bestanden auf Regeln. Für sie musste alles organisiert sein. Ihr Leben bestand darin sich nach gesellschaftlicher Wertung als etwas Besseres darzustellen, als sie es in Wahrheit waren. Aus der nächsten Generation sollte dann auch etwas Besseres werden. Für sie waren das Ansehen, der Erfolg und finanzielle Aspekte die anzustrebenden Ziele im Leben. Meine Eltern waren hingegen Freigeister. Für sie zählte weder teure Kleidung, luxuriöse Gegenstände, noch berufliche Erfolge. Mein Vater, ein ehemaliges Mitglied und Fan der früheren Halbstarken Szene, und meine Mutter, die Tochter einer engstirnigen und nicht immer einfachen Mutter, kehrten solchen Werten den Rücken. Für sie zählte Freiheit, die Freude am Kleinen und der Zusammenhalt. Daher mag auch nicht erstaunen, dass sie sich bei der Erziehung zu einer Art der freien Entwicklung entschieden haben. Meine Eltern setzten mir so gut wie keine Grenzen, liessen mich immer wieder gegen Mauern prallen, damit ich daraus etwas lernen solle. Eine Erziehungsmethode, die sicher gerade in der heutigen Zeit umstrittener ist denn je. Das Positive einer solchen freien Entwicklung ist, dass man lernt aus Fehlern zu lernen, indem man die Lösungen selbst kreiert und zugleich weiss, wie sich die Konsequenzen anfühlen, wenn das kreierte Verhaltensmuster nicht eingehalten wird. Jedes Mal, wenn man gegen eine Mauer prallt, jedes Mal, wenn einem dadurch der Kopf brummt, überlegt man sich, was man ändern kann, um eine weitere Kollision mit dem steinigen Ungetüm zu verhindern. Das Negative an dieser Erziehungsmethode ist, dass man immer erst lernt, wenn man den Kopf angestossen hat. Sprich, es muss immer zuerst etwas geschehen, bevor die präventive Überlegung in Gang gesetzt wird. Da meine Eltern selbst eine strenge und von vielen Regeln beengte Kindheit erlebten, war es ihnen ein prioritäres Anliegen, ihrem Kind nicht dasselbe zu bescheren, da ihnen die Erziehungsmethoden ihrer eigenen Eltern subjektiv als falsch erschienen. Ich hingegen, der lange diese freie Entwicklung genoss, sehnte mich, je älter ich wurde, immer mehr nach klaren Regeln, nach klaren Grenzen. Quasi nach einem Rahmen für den Alltag. Sodass ich des Öfteren meine Grenzen zu erkunden versuchte, auch in Bezug auf Alkohol und Party. Die subjektiven Ansichten zwischen meinen Eltern und mir sind dadurch bis heute sehr konträr. Ein altbekanntes, triviales Sprichwort trifft nicht nur die Problematik haargenau, nein, es entzaubert diese Kontroverse, die mich jahrelang beschäftigte, mit simplen Worten: «Was der Mensch hat, will er nicht und was der Mensch nicht hat, will er.» Aus diesem einfachen Satz lässt sich ebenso schliessen, dass keine der beiden Erziehungsarten, sei es die der freien oder der eng geregelten, falsch oder richtig ist. Oft ist es daher so, dass die Erziehungsmethoden sich von Generation zu Generation in der Familie abwechseln. Für mich als Einzelkind war die freie Entwicklung unbestritten, besonders in den jungen Jahren, eine sehr willkommene Erziehungsform. Doch gerade während der Adoleszenz, in den Teenagerjahren, geriet ich dadurch das erste Mal in Schwierigkeiten. Als ich in der Oberstufe die Begegnung mit strikten Regeln machte und ihren strengen, kompromisslosen Verfechtern. Besonders der damalige Direktor meiner Schule veränderte einiges bei mir. Seine militärische Art, seine Arroganz gekoppelt mit seiner Liebe zu Erniedrigungen hinterliess bei mir nicht nur seelische Narben, sondern liess mich in mir einen inneren Schutzpanzer erstellen, ausgestattet mit einer Gegenwehrfunktion, welche ohne zu zögern das Gegenfeuer in Gang setzt. Der Schuldirektor, ein ehemaliges Militäroberhaupt, legte besonders grossen Wert auf die sportliche Leistung seiner Schüler. Da kam ich ihm als dickliche Junge gerade Recht, um zu demonstrieren, was dick sein für Nachteile mit sich bringt. Nebst dem Präsentierwert den ich für ihn hatte, war ich seine Voodoo Puppe, das Objekt, in das er seine Nadeln hineinstechen konnte, um seine sadistischen Vorlieben auszuleben. Nebst seiner Direktorposition leitete er den Sportunterricht. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wie er mich das erste Mal demütigte. Das erste Spiel klang harmlos, sogar für einen dicklichen Jungen wie mich interessant. Er nannte es das Karretten Spiel. Es wurden Zweiergruppen gebildet. Einer der Jungs ging in die Liegestütze, der andere griff seine Beine und hob sie hoch. Der Erste musste nun mit seinen Händen laufen. Einmal die Turnhalle hoch und dann wieder runter. Es machte allen Spass. Es gelang allen spielend. Allen? Nein, ein dicklicher Junge schaffte es nicht. Nach zwei Schritten mit den Händen prallte sein Gesicht gegen den Boden. Beim zweiten Versuch ebenfalls. Der dickliche Junge stand auf, wollte abbrechen, da geriet er in den Fokus des ehemaligen Kommandanten. Ich bedauerte, es nicht zu schaffen, was den Direktor nicht interessierte, nur erboste. Er liess die rund fünfundzwanzig anderen Jungs in einer Reihe aufstehen und bestand darauf, dass alle mir zusahen, bis ich die Turnhalle hoch und wieder runter auf den Händen gelaufen war. Zweiundfünfzig Augen waren auf mich gerichtet, meine eigenen den Tränen nahe. Der nächste Versuch startete. Mein Kopf prallte immer nach zwei Schritten auf den Boden. Ich erhob mich immer und immer wieder. Immer und immer wieder prallte mein Kopf gegen den Boden. Unzählige Hämmer musste ich einstecken bis ich die Strecke hin und zurück geschafft hatte. Fünfundzwanzig Münder lachten, mit der Zeit verstummten sie, wohl, weil sie nicht über die sadistische Ader des Direktors verfügten. Sein Mund schrie. Schrie und fluchte. Ein anderes Beispiel war, als ich an einem Tag meine Hallenschuhe zu Hause vergessen hatte. Der Direktor sprach gerade mit einem seiner Lehrerkollegen, als ich mich vor ihn stellte. Mit leiser, ängstlicher Stimme gestand ich ihm das Fehlen der Schuhe. Seine Reaktion vor dem Lehrer war erstaunlich. Denn er zeigte Verständnis, meinte sogar, dass es nichts mache, er lächelte sogar. Erleichtert lief ich in den Socken zu meinen Mitschülern. Der Lehrerkollege des Direktors verschwand. Mit ihm das Lächeln des Direktors. Dieser nahm seine Sportpfeife hervor. Ein Pfiff ertönte und wir mussten uns alle vor ihm aufstellen. Die Rede war von einem neuen Spiel, welches ihm angeblich spontan eingefallen sei. Er wies uns an, die zwei Plastikwagen gefüllt mit Tennisbällen aus dem Turnhallenlager zu holen. Wir gehorchten. Das neue Spiel wurde erklärt. Es sei eine abgeänderte Art von Brennball. Während man beim normalen Spiel, eigentlich mit einem grossen Softball spielte, und mit diesem den Körper des anderen treffen sollte, bestand die neue Version aus mehreren Bällen. Aus kleinen und harten. In dieser Version galt es, nicht den Körper zu treffen, sondern nur die Füsse. Alle die Schuhe dabei hätten, müssten sich nicht sorgen, spottete der Kommandant zynisch. Sein Blick fokussierte mich bei seiner Erklärung. Sein Hass galt mir, er galt dem dicklichen Kind, welches für ihn eine Schande war, dass dazu noch zu dumm war, heute seine Schuhe mitzunehmen. Ein Pfiff erklang. Fünfzig Hände griffen nach Tennisbällen. Hunderte von Bälle feuerten durch die Halle. Hunderte gegen die einen Füsse. Die Füsse ohne Schuhe. Nach kurzen Fluchtversuchen, nach unzähligen Ausweichversuchen musste ich aufgeben. Ich liess die Lawine über mich ergehen. Meine Füsse schmerzten. Sie schmerzten sehr. Noch mehr schmerzte das zynische Lächeln des Direktors, dessen sadistische Gelüste einmal mehr gestillt wurden. Nach einer dieser Geschichten schalteten sich eines Tages meine Eltern ein. Mein Vater nahm telefonischen Kontakt mit dem Direktor auf. Diesem gelang es jedoch sich als fürsorglich darzustellen. Es sei alles nur zu meinem Besten. Sein Ziel, mich zum Sport zu treiben, könne für mich einmal lebensrettend sein. Würde ich einmal von einer Leiter zu fallen drohen, könnte ich mich nur mit gestärktem Körper festhalten. Ansonsten würde ich ja fallen. Und zudem sei Sport zu treiben wichtig für den späteren Militärdienst. Diese absurden Beispiele schienen meinen Eltern einzuleuchten, sodass für sie das Thema vom Tisch war und ich mich über weitere Peinigungen nicht mehr beschwerte und in Schweigen ausharrte. Doch für mich war eines klar. Hilfe gibt es keine und so kommt nur die Flucht in Frage. Die Klasse oder Schule zu wechseln. Obschon ich die Bezirksschule problemlos hätte absolvieren können, so auch die Chance auf meinen Traumjob als Anwalt hätte aufrechterhalten können, liess ich meine Noten herunterfallen. Ich bestand vehement auf eine Herunterstufung in die Sekundarschule, wo ich nicht nur vom Direktor verschont wurde, da er dort den Turnunterricht nicht unter sich hatte, wo ich auch wieder mit meinen ausländischen Freunden vereint sein konnte. Mein damaliger Weg war gezwungenermassen das Aufgeben. Zum Kämpfen fehlte mir der Mut, die Kraft und die Willensstärke. Doch genau diese Flucht war ein prägendes Ereignis in meinem Leben. Denn sie nagte an mir, immer und immer wieder. Ob ich mal gegen einen Boxsack schlage oder Kraft schöpfen muss. Der Gedanke an die damalige Flucht nagt und hilft mir zugleich. Denke ich bloss an sie, so kann schnell Wut das Resultat sein. Wut über den sadistischen Direktor, aber auch Wut über das eigene Versagen, über die Flucht. Benötige ich Ansporn, muss ich meinen Willen im Sport oder in einem Disput stärken, so dient mir der Gedanke an diese Zeit als Energiespender. Im Laufe der Zeit, im Laufe des Erwachsenwerdens habe ich mir einen Schutzpanzer zugelegt, um mich niemals mehr in eine so demütigende und erniedrigende Lage zu begeben. Besonders aktiviert wurde dieser Schutzpanzer Jahre später in meiner Zeit in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies. In keiner Lebenslage zuvor kam ich so nahe an den Zustand meiner damaligen Schulzeit. Während meiner Zeit in der Pöschwies kam ungewollt immer wieder etwas aus der Zeit der Erniedrigung, der Peinigung hervor. Der Direktor der JVA wandelte sich immer mehr zu meinem ehemaligen Schuldirektor.

Daher mag es auch nicht erstaunen, dass man mir eine narzisstische Persönlichkeitsstörung attestiert hat. Dr. Elmar Habermeyer beschreibt dazu: Bei narzisstischen Persönlichkeiten kann es somit sein, dass sich schwerwiegende Probleme erst manifestieren wenn ihre, in gewisser Weise als Schutzschild dienende, Arroganz und Selbstsicherheit in Frage gestellt wird und ein Gesichtsverlust droht … Letztlich können dann aus einer Kränkung Wut- und Rachegefühle resultieren, welche eine Abwertung des Gegenübers bei gleichzeitiger Erhöhung der eigenen Position nach sich ziehen.

Nach der Flucht in die Sekundarschule lernte ich eine weitere Lektion. Den Direktor war ich zwar los, aber der Teil meiner Familie, der gerne in der Gesellschaft besser dastehen wollte, war und blieb ja ein Teil meines Lebens. Holte mich meine Grossmutter für einen Ausflug ab, so wurde ich gemustert. Hatte ich zu enge Kleidung getragen, in der man Bauchspeck erkennen konnte, bestand sie darauf, dass ich mich umziehen gehe. Sie würde nicht mit einem dicken Enkel in die Öffentlichkeit gehen. Wohlbemerkt war ich von dick ein rechtes Stück entfernt. Adipös wäre wohl die passende Beschreibung gewesen. Ich erkannte also, dass ich zwar den sadistischen Direktor losgeworden bin, aber mein Körper scheinbar selbst den Ansprüchen gewisser Familienmitglieder nicht genügte. Während meine Eltern priesen, dass es egal sei wie man aussieht, wurde ich vom anderen Teil der Familie vor dem Eintreten in die Öffentlichkeit geprüft. Die Spuren dieser Zeit sind für mich auch heute noch erkennbar. Nehme ich nur zwei Kilos zu, oder spricht mich gar jemand darauf an, verfalle ich in einen massiven Drang zum Gewichtsverlust, zur Korrektur. Es erklärt sicher auch meine oft so übertriebene Eitelkeit, meine Vorliebe zu auffälliger und eleganter Kleidung.

Im Grossen und Ganzen waren meine Jugendjahre trotz allem schön und mehrheitlich unkompliziert, meine Eltern schenkten mir Liebe und dazu besass ich oft mehr als ich eigentlich gebraucht hätte. Meine Eltern haben bis heute täglich hart gearbeitet, damit es der Familie an nichts fehlt. Meine Mutter, ehemals als gelernte Verkäuferin im Globus tätig, hat die meiste Zeit danach im Reinigungsdienst gearbeitet und mein Vater arbeitet seit rund zwanzig Jahren als Verkäufer für Whirlpools, mittlerweile steht seine Frühpensionierung an.

Vom Fuchs zum Wolf

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