Читать книгу Vom Fuchs zum Wolf - Sascha Michael Campi - Страница 9

Das Erwachen

Оглавление

Es war in den frühen Morgenstunden des 10. Februars im Jahre 2012, als ich unter Schmerzen die Augen öffnete und vor mir eine zertrümmerte Frontscheibe meines Chryslers M300 wahrnahm. Ich versuchte zu realisieren, was geschehen war. Ein Piepsgeräusch war in meinem Ohr, viele Stimmen um mich herum. Mein Kopf tat weh, mein Gesicht brannte und das Piepsgeräusch störte. Meine Augenlider schienen tonnenschwer und meine Sinne in Trance. Etwas berührte meine Haut. Ich spürte zwei kalte Finger an meinem Hals.

«Er lebt», sagte eine Stimme, worauf die zweite Stimme meinte: «Schade für ihn», was ich in diesem Moment nicht einordnen konnte.

Mir wurde wieder schwarz vor Augen und ich war weg. Als ich erneut die Augen öffnete, sah ich ein Licht. «Wo bin ich?», fragte ich mich. Die Erde schien zu beben. Ich versuchte mich zu bewegen, doch vergeblich. Ich versuchte zu atmen, es fiel mir schwer, denn etwas drückte auf meinen Hals. Ich realisierte, dass ich in einem Krankenwagen lag und angebunden war. Ich realisierte auch eine Halskrause an meinem Hals. Das einzige was ich nicht realisierte, war, was geschehen ist?

«Wie komme ich hierher? Was ist passiert? Wo bin ich?», flüsterte ich.

Da beugten sich zwei Personen über mich, es schienen Rettungssanitäter zu sein.

«Versuchen Sie ruhig zu bleiben, wir sind gleich im Spital», versuchte man mich zu beruhigen.

«Ich kann nicht atmen», beschwerte ich mich vergebens.

Es gab einen Ruck, der Notfallwagen kam zum Stillstand. Meine Bahre wurde angehoben und auf den Boden gestellt. Die Bahre kam in Bewegung. Ich versuchte mich zu drehen, aber ich bewegte mich keinen Millimeter.

«Bin ich gelähmt?», fragte ich mich innerlich.

Mein Herz raste, die Panik vergrösserte sich bei jedem Pulsschlag. Ich sah Lichter, viele Lichter über meinem Kopf. Es schien ein langer Gang zu sein, durch den man mich schob. Eine Lampe nach der anderen sauste über meinem Kopf vorbei. Mein Gesicht schmerzte. Ich schloss die Augen.

«Herr Campi, sie werden nun geröntgt», hörte ich nach einer Weile eine neue Stimme sagen.

Ich wurde in eine Röntgenröhre geschoben und es wurde dunkel. Ich solle die Augen schliessen, wies man mich an und ich gehorchte. Durch meine Augenlider erkannte ich Licht. Meine Augen blieben verschlossen. Plötzlich verspürte ich Dunkelheit. Eine grosse Kälte überkam mich. Die Bahre bewegte sich erneut und es wurde wieder hell. Ich öffnete meine Augen und erkannte, wie eine Krankenschwester den Atemerschwerer, diese Halskrause zu entfernen begann. Das Ding war weg und ich konnte endlich wieder problemlos atmen. Es standen einige Ärzte vor mir.

«Was ist passiert?», fragte ich erneut.

Man teilte mir mit, ich hätte einen schweren Autounfall gehabt. Ich versuchte zu realisieren, was passiert ist, doch die Menschen machten mich nervös. Es kamen immer mehr Leute in den Raum, in dem ich mich befand.

«Aufstehen und ausziehen», wies man mich an.

Ich erhob mich langsam. Mein Gesicht schmerzte, das Piepsgeräusch im Ohr störte und mein Arm schien schwer. Ich sah Blut auf der Haut meines Arms und entdeckte einen grossen blauen Fleck auf meinem Unterarm. Ich schaute geradeaus und sah mich umzingelt von vielen Menschen. Zehn würde ich heute im Nachhinein schätzen, davon einige in Weiss und einige in normaler Kleidung. Ich zog mich vor den Leuten aus, wobei ich akribisch beobachtet wurde. Man schmiss mir eine Unterhose, eine Trainerhose und ein weisses T-Shirt hin.

«Anziehen!», wurde ich angewiesen, was ich umgehend tat.

«Umdrehen!», war die nächste Anweisung, die ich befolgte.

«Arme nach hinten!», ich folgte.

Ein metallenes Geräusch erklang und meine Hände waren am Rücken fixiert.

«Sie sind verhaftet», sagte ein Mann in Begleitung eines anderen Herrn.

«Ich bin was? Weshalb? Was ist passiert?»

Meine Fragen blieben unbeantwortet, und ich wurde von den beiden Männern durch einen Gang geführt. Sie erklärten mir, dass sie Polizisten seien und dass ich verhaftet sei. Ich könne über das Geschehene sprechen, doch könne dies vor Gericht gegen mich verwendet werden. Mein Herz pochte, meine Gedanken rotierten, mein Körper schmerzte und die Angst eroberte meinen Körper. Ich versuchte mich zu erinnern. Die Erinnerungen kamen langsam. Ich erinnerte mich an meine Nacht an der Langstrasse in Zürich, an die Auseinandersetzung mit einer Prostituierten. Es ging um Geld. Ich erinnerte mich, ins Auto gestiegen zu sein und wie ich abfuhr, wie ich telefonieren wollte, aber was war danach? Ich erinnerte mich an die defekte Frontscheibe. Nun hiess es: «Einsteigen!», wodurch ich beim Erinnern gestoppt wurde. Die beiden Zivilpolizisten wiesen mich an, auf dem Hintersitz eines Kombis, einem zivilen Polizeiauto Platz zu nehmen. Ich gehorchte. Die Türe schloss sich und die beiden Männer fuhren mit mir los. Ich studierte kurz die beiden Zivilpolizisten. Der Jüngere war schlank und sportlich. Er wirkte streng und sehr unter Druck. Der Ältere war etwas korpulenter. Er schien der Nettere und der Erfahrenere zu sein. Ein Blick auf meine Füsse. Sie waren nackt. Vom Weg zum Auto durchnässt und durch den Boden aufgekratzt. Ich sah zum Fenster hinaus. Es war Tag. Es schneite stark und die Kälte überkam meinen Körper.

«Kann ich Schuhe haben?», fragte ich nach, aber angeblich waren nirgends welche vorhanden.

Der ältere Polizist schaltete das Radio ein. Der Jüngere schaltete es sofort wieder aus.

«Besser nicht – wegen den Nachrichten», begründete er dem anderen seine Handlung.

Warum sagte er das? Das beschäftigte mich nun zusätzlich, nebst der Frage was passiert war. Das Fahrzeug kam zum Stillstand und ich wurde aus dem Wagen geholt. Die beiden Polizisten führten mich zu einem grossen Gebäude. Der Weg war mit Kieselsteinen und Schnee bedeckt. Jeder Schritt tat mir weh, die Schnitte an meinen Füssen wurden grösser. Im Gebäude eingetreten, stiegen wir eine Treppe hinauf, wo uns eine blonde Ärztin entgegenkam.

«Werde ich untersucht?», fragte ich nach.

Der Schlankere der beiden Zivilpolizisten schien genervt, sein Blick war passiv, dann erwiderte der ältere festere:

«Ja auf Spuren.»

«Ausziehen!», wurde mir erneut befohlen.

«Vor ihnen und der Frau?», hakte ich verwirrt nach.

Es folgte ein strenges «Ja!», worauf ich gehorchte.

Da stand ich nun nackt vor den zwei Polizisten. Die Ärztin kam mit Wattebäuschchen in der Hand auf mich zu und fing an meinen Körper damit abzustreichen. Sie griff zu einem Protokoll und begann meinen Körper zu dokumentieren. Sie hielt sämtliches an meinem Körper anschliessend mit Fotos fest. Ein Handy summte. Der schmale Polizist schien eine SMS zu erhalten. Es schien keine gute Nachricht zu sein, denn sein Blick war lesbar. Er schüttelte seinen Kopf und stupste seinen Kollegen.

«Schau dir das an», raunte er.

Danach folgte ein strenger Blick zu mir. Ein erneutes Kopfschütteln folgte. Der Ältere versuchte seinen Kollegen zu beruhigen. Die Prozedur schien ein Ende zu nehmen und man bedeutete mir, mich wieder anzukleiden. Ich erkundigte mich erneut nach Schuhen, allerdings vergebens. Man legte mir die Handschellen wieder an und steckte meine Füsse in zwei Plastiksäckchen, was wohl der Schuhersatz zu sein schien. Wir verliessen das Gebäude und kamen wieder zum zivilen Streifenwagen. Ich nahm erneut Platz. Meine Füsse schmerzten. Durch die Plastiksäcke, in denen sich nun Wasser und Schnee sammelten, war mir noch kälter als zuvor. Der Wagen kam in Gang und die Polizisten waren still.

«Kann ich ihnen erzählen was passiert ist?», fragte ich.

«Wenn Sie wollen», antwortete der Polizist.

Ich erwähnte eine Auseinandersetzung mit einer Prostituierten, wie ich danach wegfahren wollte, es schwarz wurde und ich als nächstes eine zertrümmerte Frontscheibe vor Augen hatte. Ich solle nicht zu viel reden, wies man mich an und ich stellte mein Reden ein. Wir kamen auf ein Areal gefahren. Der Wagen hielt vor einem riesigen Gebäude. Ich wurde in einen Raum geführt wo man mir Fingerabdrücke abnahm und meine Daten festhielt. Es folgte eine kurze polizeiliche Befragung. Kurz darauf landete ich in einer kleinen Zelle, wo mir der ältere Polizist ein Sandwich, etwas zu Trinken und Turnschuhe brachte. Ich zog mir die Schuhe an und ass mein Sandwich. Beim Kauen tat mir alles weh, doch ich hatte Hunger. Meine Gedanken rotierten. Was ist passiert? Was geschieht nun? Wie geht es weiter? Nach einer halben Stunde, die mir wie eine Ewigkeit erschien, wurde ich abgeholt und erneut in eine Zelle gebracht, eine noch kleinere als die zuvor. Vor der Zelle war ein riesiges Büro mit vielen Computern und Menschen. Als ich mit den Polizisten da durch ging, waren sämtliche Blicke auf mich gerichtet. Es schien die Polizeiwache zu sein. Man fragte mich, ob ich einen Anwalt wünsche, was ich bejahte. Ich nannte den Namen eines mir bekannten Anwalts, worauf man mir nach kurzem mitteilte, dass dieser in Urlaub sei und man mir daher einen anderen bestellt hätte. Da sass ich nun in der kleinen Zelle. Alles tat mir weh und die Angst liess mein Herz seit Stunden nicht ruhig schlagen. Wofür brauche ich ein Anwalt? Was ist geschehen? Ich will zu meiner Familie. All diese Fragen besetzten meinen Kopf. Tränen schossen über meine Wangen und ich begann zu weinen. Ich versuchte mich zu beruhigen jedoch vergebens. Die Zeit schien still zu stehen. Nach einer Ewigkeit öffnete sich die Tür.

«Ihr Anwalt ist hier», teilte mir eine Stimme mit und ein Mann im Anzug betrat den kleinen Raum, worauf sich die Türe wieder schloss.

«Mein Name ist Marcus Saxe, ich wurde ihnen als Pflichtverteidiger zugewiesen», erklärte der Fremde, gab mir die Hand und streckte mir anschliessend die Tageszeitung 20 Minuten, mit der Titelseite gegen mich gerichtet, vor mein Gesicht.

Amokfahrer an der Langstrasse, so in ungefähr nahm ich die Zeile von der Titelseite beiläufig auf.

«Ich möchte nichts zu lesen danke», erwiderte ich und wischte mir die Tränen aus den Augen.

Es ginge nicht darum, mir etwas zum Lesen zu geben, sondern es würde hierbei um mich gehen, um meinen Fall, erklärte der Anwalt.

«Sie haben einen Menschen getötet und andere Personen schwer verletzt, ihnen steht nun einiges bevor.»

Mein Atem stand für einen Moment still, sogar die Schmerzen schienen kurz inne zu halten. Einzig meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich fing an zu weinen.

«Haben Sie absichtlich jemand getötet und die Leute verletzt?», fragte Herr Saxe langsam.

«Sicher nicht! Ich weiss selber noch nicht einmal was genau passiert ist. Ich hatte eine Auseinandersetzung, fuhr davon und erwachte danach vor einer defekten Frontscheibe.»

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. Die alten wurden durch neue abgelöst.

«Was geht hier vor sich? Wieso fragen Sie mich so etwas?», erkundigte ich mich.

Marcus Saxe teilte mir mit, dass die Medien voll mit Spekulationen seien und man mich als Amokfahrer hinstelle, der absichtlich Menschen verletzt und eine Person getötet habe. Was das für ein Gefühl ist, kann man kaum beschreiben, man fühlt sich, als wäre man in der Hölle erwacht, in einer Art Paralleluniversum, wo sich die Welt gegen einen gerichtet hat. «Ein Mensch ist tot, mehrere verletzt.» Dieser Satz rotierte in meinem Kopf und lähmte meinen Körper. Meinen Kopf besetzten per sofort zusätzliche Fragen. Wer ist der Verstorbene? Wer sind die Verletzten? Wie kam es dazu? Der Anwalt orientierte mich. Ich würde zuerst von der Polizei und in den kommenden Tagen von einem Staatsanwalt vernommen, wobei ich mich nun bei der ersten Einvernahme mit Reden zurückhalten solle, bis sich meine Gedanken geordnet und ich vor allem Schlaf und Ruhe hinter mir hätte. Kurz nach diesen Anweisungen erfolgte eine erste polizeiliche Einvernahme, wobei ich mit einer Hand durch Handschellen an einen Heizungsradiator gefesselt wurde. Nach der Einvernahme wurde mir mitgeteilt, ich würde nun in die Polizeikaserne gebracht, wo ich erst mal verweilen müsse, bis man die weiteren Schritte geprüft hätte. So wurde ich vom Polizeiposten abtransportiert und kam zu einem neuen Gebäude namens Kaserne. Bei der Kaserne handelt es sich um das Zürcher Polizeigefängnis, wo die Straftäter kurz verbleiben und anschliessend entweder wieder frei gelassen oder in ein Untersuchungsgefängnis überstellt werden. Es handelt sich dabei um ein Gebäude, das auch als Schlachthalle einer Grossmetzgerei durchgehen könnte. Ein Aufseher nahm mich in der Kaserne entgegen, drückte mir einige Zigaretten und eine Schüssel Suppe in die Hand und brachte mich in eine Zelle, in der sich bereits eine Person befand. Die Türe schloss sich hinter mir und mein Puls raste wie wild.

«Hallo», entgegnete mir der Zellenbewohner und wies mich an zu sitzen.

Ich setzte mich auf eine Art Holzbank vor einen kleinen Tisch, begrüsste mein Gegenüber und begann mich umzuschauen. Ein düsterer Raum umgab uns, spartanisch mit einem Bett und einem offenen Toilettenbereich eingerichtet.

«Kann ich eine Zigarette von dir haben?», fragte mich der Fremde.

Ich bejahte und zündete ihm eine an. Der Mann schien jung. Er war dunkelhäutig, hatte eine Brille und erinnerte vom Typ her an einen Studenten.

«Du siehst ja übel aus, wer hat dich so zugerichtet?», fragte der Mann mit prüfendem Blick.

«Was?», erkundigte ich mich nach einigen Sekunden und realisierte nicht, was er meinte.

«Schau mal selbst in den Spiegel hinter dir», doppelte der Fremde nach.

Ich erhob mich, begab mich zum Spiegel und beim Blick hinein blieb mein Puls einmal mehr kurz stehen. Meine Haare waren in alle Richtungen verteilt, mein Gesicht war mit gut hundert kleinen Rissen übersät, überall an meiner Haut waren noch Blutspuren erkennbar. Mein Unterarm war mittlerweile violett und meine Hände voller Krusten. Ich ging zurück zum Tisch und bediente mich ebenfalls einer Zigarette.

«Willst du darüber reden?», erkundigte sich der dunkelhäutige Fremde.

Nach kurzem Überlegen fing ich an zu reden. Ich kam nur etwa zu drei Sätzen, als das Gegenüber meinte:

«Ah, du bist das! Über dich höre ich schon den ganzen Tag im Radio. Sie berichteten fast den ganzen Tag von dir. Es gab eine Sondersendung von der Langstrasse. Du hast Menschen umgefahren und jemanden getötet.»

Ich war baff und die Tränen schossen erneut aus meinen Augen. Ich erklärte ihm, dass ich mittlerweile auch vom Unfall Kenntnis hätte, jedoch nicht von den genauen Details.

«Also hast Du gar niemanden absichtlich getötet und verletzt?», erkundigte er sich.

«Sicher nicht, wie kommt ihr nur alle auf so einen Mist», konterte ich und bat um etwas Ruhe.

In meinem Kopf kreisten so viele Fragen: Was ist genau passiert? Wer wurde verletzt? Wer ist gestorben? Wo ist meine Familie? Wie geht’s meiner Familie? Wie muss es den Verletzten gehen? Wie muss es der Familie des Verstorbenen gehen? Wie geht es weiter? Meine Gedanken nahmen kein Ende, dazu kam immer noch das nervende Piepsgeräusch, das mich verfolgte, was, wie ich später erfahren habe, vom Airbag stammte. Durch den Druck, welcher durch den Aufprall eines Airbags erfolgt, kann es zu tagelangen Hörproblemen kommen. Ich legte mich ins Bett und versuchte den Vorabend zu resümieren und die momentane Situation zu realisieren, aber das Denken viel mir schwer. Die Tränen drückten, alles schmerzte, trotz Müdigkeit brachte ich kein Auge zu. Ich begab mich zum Notfallgerät der Zelle und drückte. Eine Stimme erkundigte sich nach meinem Problem. «Ich benötige jemanden zum Reden, mir geht es nicht gut», erklärte ich. Man teilte mir mit, ich müsse mich gedulden, man hätte den Notfallpsychiater für mich bestellt. Ich bedankte mich mit leiser Stimme und begab mich ins Bett zurück, wo ich versuchte, den Vorabend gedanklich zu ordnen.

Vom Fuchs zum Wolf

Подняться наверх