Читать книгу Stille Tage in Roissy - Saskia Weißer - Страница 7

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I

Was für ein herrlicher Rotwein, dachte François, während Er am Fenster stand und in den Garten hinausblickte. Herrlicher Rotwein an einem nicht minder herrlichen Tag im Frühherbst. Strahlender Sonnenschein am tiefblauen Himmel, der den betauten Rasen, das Fell Goldies und das Haar Chantals in gleichem Glanz erstrahlen ließ. Seine Frau und Seine deutsche Schäferhündin tollten im Park, nicht weit von Seinem Salonfenster. Chantal warf den Ball, unermüdlich, lachend, und genauso gutgelaunt und ausdauernd apportierte Goldie. Chantal mußte nur auf eines aufpassen: den Ball nicht neben die kleine, malerische Ruine zu werfen, denn dann mußte sie ihn schon selber holen. Goldie druckste ’rum, lief aufgeregt im Kreis, immer schneller, aber immer im gleichen Abstand von irgendwas … Der Hund hielt sich von den verfallenen Mauern fern. Der berühmte sechste Sinn der Tiere? Schon möglich. Denn einen Geruch konnte es dort – nach menschlichem Ermessen – nicht geben. Eine dicke Schicht Plastikfolie, an Enden und Rändern sorgfältig eingeschlagen, und dann drei Meter Erde … Fünf Männer hatten eine ganze Nacht lang geschaufelt, während Chantal und die anderen sie mit Kaffee versorgt hatten … Unmöglich, daß die Hündin etwas riecht. Warum meidet sie die Stelle trotzdem? François wußte es nicht, und es kümmerte Ihn auch nicht wirklich. Was Er getan hatte, war richtig. Klar hatte Er Angéline nicht wieder zum Leben erwecken können. Aber wenigstens würde ihr unvorstellbar gräßliches Schicksal anderen armen, dummen Frauen erspart bleiben.

Angéline … Die Erinnerung schnürte Ihm die Kehle zu. Angéline mit ihren sanften, braunen Augen, den weichen, glatten, glänzenden, tiefschwarzen Haaren, der milchigen Haut, den straffen Formen … Angekleidet glich sie einem Renaissance-Bildnis der Gottesmutter, nackt sah sie aus wie eine Rodin-Statue aus Schlagsahne. Angéline … Chantal und sie hätten Schwestern sein können – das wäre für Angéline wohl auch besser gewesen, denn dann hätte Er, François, auf sie aufgepaßt, wie Er auch auf Chantal achtgab, seitdem sie zehn Jahre alt und Waise geworden war.

Angéline waren keine Eltern gestorben, sie wuchs »wohlbehütet« auf – François geriet erneut in stille Rage, als Er an diesen Ausdruck dachte. »Behütet« ein bürgerlicher Haushalt denn automatisch? Stellen Eltern, die nicht über ihre Nase hinausblicken, einen Schutz dar? Eltern, die die Augen vor einem »Verehrer« verschließen, der ihnen nie vorgestellt zu werden wünscht, der aber immer mehr Zeit und Engagement von ihrer Tochter verlangt? Wie konnte diesen »liebenden Eltern« die immer magerere Figur ihrer Tochter, ihr immer strähnigeres Haar, ihre ständige Hektik, ihre Unsicherheit verborgen bleiben? Als François sie zum letzten Mal lebend sah, war sie ein Schatten ihrer selbst, fahrig, abgespannt – das Erschreckende daran war, sie hörte nicht auf zu beteuern, wie gut es ihr ginge. Auf nüchterne Fragen nach einer festen Bindung mit ihrem ach so geliebten Herrn – etwas, wovon sie Seines Wissens ihr Leben lang geträumt hatte –, einer BDSM-Beziehung im Rahmen einer schönen, altmodischen Ehe, antwortete sie ausweichend. An einer Stelle verteidigte sie sogar heftig und ungeschickt den Standpunkt ihres »Herrn«, nämlich daß man nach einem ausgiebigen »Spiel« tunlichst in das eigene, reale Leben zurückkehren solle, um sich wieder den Pflichten zuzuwenden und Verantwortung für den eigenen Alltag zu übernehmen … Das Schwein, das widerliche, selbstgefällige, dumme Schwein, dachte François zähneknirschend. Als er noch hier saß, in diesem Zimmer, Ihm gegenüber, schwafelte er von dem Unterschied zwischen »Spiel« und »Ernst«; er schlürfte dabei an dem Rotwein, streckte die Füße aus, zum Kamin, genoß die Wärme des Frühlingsabends. Die Wärme des Feuers … Angéline hatte François davon erzählt, und sie hätte es wohl nicht getan, wenn sie geahnt hätte, wieviel diese Einzelheit über das wahre Wesen ihrer Beziehung zu ihrem »Herrn« oder vielmehr über seine Beziehung zu ihr verriet – daß es ihr jedesmal so entsetzlich kalt gewesen war, wenn sie sein Haus verlassen hatte, nicht nur im Winter, sondern auch im Sommer, als der ganze Alptraum angefangen hatte. Natürlich sah nur François und nicht Angéline, daß die ganze Beziehung einer Horrorshow glich. Kalt, klirrend kalt, eisig, so daß sie jedesmal die heiße Dusche aufsuchte, wenn sie nach Hause kam; sie ließ das heiße Wasser manchmal über eine Stunde lang über ihren Körper laufen, bis sie zu zittern aufhörte – und sie erzählte dies mit leuchtenden Augen. »Ich habe noch nie auf einen Mann so reagiert, daß ich noch Stunden nach unserem Treffen zittere, so wunderbar, nicht wahr, François?«. Sie malte mit fiebernden Augen die dicken Striemen über ihrem ganzen Körper aus, die von dem heißen Wasser noch röter glühten … Ihr überdrehtes Kichern, als sie damit prahlte, wie sie auch an den heißesten Sommertagen Langarm und Hosen tragen mußte, so sehr hatte er sie mit der Bullwhip zugerichtet … Und dann ging sie nach ihrem kurzen Besuch. In ihren Pelz gehüllt, stakste sie die Auffahrt entlang und entschwand. François schloß die Augen, drückte sie zu, stöhnend, nur um dieses Bild, das seither nicht aufhörte, Ihn zu verfolgen, aussperren zu können – die zerbrechliche Figur, das Klick-Klick ihrer High Heels, wie sie an dem düsteren Winternachmittag von Ihm ging, immer kleiner und undeutlicher wurde, schließlich mit den Bäumen verschmolz, mit den Bäumen, hinter denen ein Auto auf sie wartete, mit einem Mann darin, der sie umbringen würde …

Und schon wieder diese selbstquälerischen Gedanken. Ich bin schuld,, ich alleine, ich habe sie im Stich gelassen, nicht ihre Eltern. Ich, ich habe sie mit umgebracht, ich hätte sie festhalten sollen. Ich halte so viele Frauen fest, warum nicht sie? Nur weil sie Chantals Freundin war? Wieso? Warum habe ich sie nicht verteidigt, so lange eingesperrt, bis sie zu sich gekommen wäre, bis sie ihn vergessen hätte? Schon wieder rannen Ihm Tränen übers Gesicht, und als Er durch die große Tür in den Garten hinausstarrte, sah Er nicht Seine sklavin, sah nicht Seine Hündin und auch nicht die Ruine, unter der der Beweis lag, daß Er wenigstens im nachhinein nicht versagt hatte, als es für Angéline schon zu spät war. Vielmehr sah er immer dasselbe Bild, ein Foto, Eigentum der Polizei, die »kein Fremdverschulden« feststellen konnte, wiewohl die ermittelnden Beamten zugeben mußten, daß die junge Frau eine besonders gräßliche und unverständliche Art des Freitods gewählt hatte, eine, die ihres Wissens noch nie dagewesen war. Auf einem niedrigen Holzbock kauernd im Wochenendhaus ihres »Herrn« wurde Angéline gefunden, nackt, steifgefroren. Dabei war der Korb mit dem Brennholz neben dem Kamin noch mehr als zu Hälfte voll, die Tür nicht versperrt, ihr Auto stand aufgetankt, in einwandfreiem technischen Zustand vor dem Haus, ihre Kleider lagen sauber zusammengefaltet in Armesweite von ihr. Warum hatte sie kein Holz nachgelegt, als das Feuer ausging – oder sich angezogen und weggefahren, als ihr Freund nicht zu dem Rendezvous erschienen war? In den Verhörprotokollen, die François dank Pierre, Seinem besten Freund, dem Staatsanwalt, in allen Details zu lesen und hören bekam, behauptete das Schwein, Angéline wäre zu einem Treffen mit ihm ins Haus gegangen, er sei jedoch überraschend verhindert gewesen und habe nicht erscheinen können. »Wissen Sie«, war in einem der wenigen aufgenommenen Protokolle zu hören, »wir hatten da so ein Spiel« – und François konnte sich das verlegene, geheuchelt betroffene Grinsen des Mannes lebhaft vorstellen – »sie sollte tun, was ich ihr sage – so ein aufregendes Spiel halt. Und ich habe ihr gesagt, als wir unser Treffen ausgemacht haben, sie soll einheizen, sich ausziehen, auf den kleinen Holzbock knien und sich nicht mehr rühren, bis ich komme. Sie wissen schon, so ein Bestrafungsspielchen, eine besondere Begrüßung nach meiner 14tägigen Geschäftsreise. Aber das war ja schon zwei Wochen, ehe ich auf diese Geschäftsreise ging, als ich ihr das gesagt habe – wer hätte schon gedacht, daß die dumme Gans – ’tschuldigung – nicht mehr aufstehen würde, nur auf mich warten, wie ich es gesagt habe? Sie war ja nicht einmal gefesselt, sie hätte gehen können« – und an dieser Stelle des Tonbands rutschte seine Stimme hoch vor Unverständnis und Empörung über eine Frau, die auf sein Wort, daß er zu ihr kommen würde, so lange vergeblich blind vertraute, bis sie erfror – zweifelsfrei noch mit dem letzten Atemzug auf sein Autogeräusch hoffend …

Wieso hat er sie nicht angerufen, als er schon wußte, daß er nicht kommen würde? Sie hatte ihr Handy ja stets eingeschaltet bei sich, um einen Kontakt für ihren »Herrn« jederzeit zu ermöglichen – François dachte bitter an ihre Erregung, an die Ehrfurcht, wie sie damals ihr Handy vor sich auf dem Tisch plazierte. »Ich habe es von Ihm, ich soll es immer griffbereit haben, Tag und Nacht, jede Minute; wenn ich es nicht tue, wird Er mich furchtbar bestrafen, hat Er gesagt! Siehst du, François, wie wichtig ich für Ihn bin!« Pierre und François sahen später alle Anrufe durch, die auf das Handy gekommen waren. Ein paar Anrufe von diversen Freunden, ein paar von den Eltern, recht wenig von »Ihm«, und keiner an jenem Nachmittag, als sie zu dem Wochenendhaus fuhr und er »verhindert« war. Nun, in unserer Welt stellt man keinen vor Gericht, weil er ein Rendezvous unentschuldigt versäumt hat – mit welchen Folgen auch immer –, und so ließ man Monsieur Claude Durand laufen, nach einer flüchtigen und schnell verworfenen Überlegung, ob man ihn nicht wegen fahrlässiger Tötung belangen könnte. Aber die Obduktion förderte kein Gift, kein Schlaf- oder Betäubungsmittel zutage, einzig die Striemen waren auf ihrer weißen Haut stellenweise zu erahnen – aber da die Art der Beziehung, in der sie lebte, bereits bekannt war, verschwendete man auch darauf keinen Gedanken. Und so schied eine junge, feinfühlige, besonders verletzliche Frau aus dem Leben, während ihr Mörder unbehelligt seines Weges ging.

Das heißt, ein kleines Weilchen unbehelligt, dachte François mit einem kalten Lächeln des Triumphs – denn eines Abends fand sich das Schwein hier wieder, in diesem Salon, herbegleitet von einer äußerst scheu und unterwürfig lächelnden Chantal … Selbst Goldie, die ausgebildete und häufig erprobte Schutzhündin, hatte es geschafft, unschuldig und harmlos auszusehen. So saßen sie dann zusammen, tranken im Feuerschein des Kamins Rotwein, als Hintergrundmusik ertönte Vivaldi. Chantal bediente, wie es sich gehört, mit niedergeschlagenen Augen und feinen, eleganten Bewegungen; wem wäre es schon unter diesen Umständen aufgefallen, daß ihre langen Finger den Inhalt einer kleinen Phiole ins Glas des Gastes gossen? Der Gast plauderte, weidete die Augen an Chantals verführerischer Figur in dem durchsichtigen Gewand – »Gönnen wir ihm doch noch einen letzten schönen Anblick, den er mit in den Tod nehmen kann«, witzelte François mörderisch, als Er und chantal die Szene vorbereitet hatten – und trank. François hätte fast verächtlich geschnaubt ob der fehlenden Sinneswahrnehmung des Gastes, der das Wein-Arsen-Gemisch so ohne weiteres hinunterstürzte und noch mit der Zunge schnalzte vor Genuß.

»Schmeckt’s?«

»Oh, ein ausgezeichneter Tropfen, keine Frage. Natürlich muß man bedenken, daß die deutschen Anbaugebiete …«, hatte er weitergeschwätzt, und François hatte seelenruhig zugehört. Was das für ein Prolet war, du lieber Himmel! Protzte mit seinen Weinkenntnissen, leuchtete die spannende Frage der deutschen Weinbaugebiete aus allen möglichen Winkeln erschöpfend aus, dann hielt er zufrieden inne.

François lächelte und nippte Seinerseits am Wein. »Ich meinte weniger den Wein, eher das Arsen«, sagte Er mit einem mokanten Augenaufschlag.

»Eher was? Verzeihung, ich glaube, ich habe Sie nicht verstanden.«

»Du hast mich schon richtig verstanden, du Schwein. Arsen. Du hast mit dem Glas Wein gerade eben die geschätzt dreifach tödliche Dosis Arsen zu dir genommen … Kein angenehmer Tod, aber sicherlich leichter, als zu erfrieren, weil einer, der ab und zu mal gern den Dominanten spielt, blöde Befehle erteilt und dich dann vergißt. Jetzt wirst du äußerst schmerzhaft so lange kotzen und scheißen, bis du krepierst – genauer gesagt: erstickst; Atemlähmung, du weißt schon. Schade, daß ich dich deinen eigenen Dreck nicht mehr aufputzen lassen kann. Na, macht nichts. Der unangenehme Teil kommt halt später, das mit dem Putzen und Verbuddeln, obwohl ich denke, ich schmeiße die Teppiche mit den Plastikfolien darunter einfach weg. Der Spaß soll es mir wert sein … Das mit der Folie ist gut, nicht wahr? Pierre ist sehr umsichtig; Seine Idee gewesen … Auch die Vorbereitung entbehrte nicht eines gewissen Reizes. Und jetzt schaue ich dir zu und widme den Anblick der Erinnerung an eine junge Dame, die Chantal und mir lieb war und die du zuerst monatelang körperlich und seelisch mißhandeltest und anschließend umbrachtest, weißt du noch? Angéline, die ›Engelhafte‹.«

Dem Mann im anderen Sessel traten langsam die Augen aus den Höhlen, als er allmählich begriff, daß es kein makabrer Spaß war, den man sich hier mit ihm leistete. An den immer weißer werdenden Knöcheln seiner Händen, die sich um die Sessellehnen verkrampften, konnte man die Geschwindigkeit ablesen, mit der das Entsetzen von ihm Besitz ergriff. François sprach weiter.

»Ich bin kein Freund der Todesstrafe. Dies hier ist auch gar nicht als Strafe zu verstehen; ich will bloß die Frauen, unter ihnen ganz besonders jene, die uns Männer mit ihrem Diensteifer beehren, vor dir schützen, und ich habe ganz einfach kein anderes Mittel zur Verfügung. Ich hätte dich hier auch einsperren können, aber was passiert, wenn mir was passiert, wer bewacht dich weiter? Also ist es so am praktischsten. Deine Ruhestätte ist schon ausgewählt – weißt du noch? Die Ruine, die du heute so bestaunt hast. Ich mag das kitschige Ding nicht besonders, aber sie war schon da, als ich das Anwesen kaufte. Ein Abriß hätte Geld gekostet, das ich woanders besser gebrauchen konnte. Im Park stört sie mich nicht so arg, also ließ ich sie stehen. Sie scheint niemandem besonders zu gefallen – außer dir, wie charmant –, keiner geht dort spazieren, einfach perfekt. Und mach dir keine Hoffnungen. Niemand weiß, wo du hier bist, alle Angaben, mit denen wir dich gefüttert haben, waren falsch. Wie du siehst, hast du Pech gehabt … Was soll’s, Angéline auch, als sie an dich geraten war. Und jetzt lebe … ähhh … stirb wohl, Wichser.«

Das böse Glühen in Seinen Augen erlosch wenige Sekunden nachdem der Gast inmitten seiner Exkremente tot zusammengebrochen war; übrig blieb Ekel und Zufriedenheit. Fünf Männer und Frauen betraten auf Sein Klingelzeichen das Zimmer. Sie hatten ihre feinen, farbenfrohen Gewänder gegen Lackiereranzüge eingetauscht. Die Teppiche mit den Folien waren im Kessel schnell entsorgt, der Salon gründlich gelüftet, der Fußboden mit heißem Wasser und Desinfektionsmittel geschrubbt, die Leiche eingewickelt. Anschließend trugen die Männer sie in den Park und schaufelten eine Grube, während die Frauen sie mit Kaffee und Bier versorgten. Wäre die Erinnerung an Angéline nicht gewesen, hätte sich aus der Aktion eine bizarre, gutgelaunte Party entwickeln können, so sehr zufrieden waren sie alle mit dem reibungslosen Ablauf ihres Planes. So aber schmissen sie das große Paket einfach in die Grube und buddelten sie wieder zu. Keiner der Anwesenden ließ sich zu dem Frevel hinreißen, für die soeben dahingegangene Menschenimitation ein Gebet in den Himmel zu schicken. Als sie fertig waren, nahm Chantal eine Handvoll Erde von dem Grab und tat sie in eine kleine Schachtel. Sie würde sie nächsten Tag auf Angélines Grab legen. Ein paar Minuten lang standen die Männer noch da, auf ihre Schaufeln gestützt, ihre sklavinnen umarmend. Neben der düsteren Zufriedenheit, die sich in ihnen breitgemacht hatte, kam ihnen auch eine bedrückende Gewißheit – mochte ihre jetzige Arbeit noch so erfolgreich gewesen sein, sie würden kaum alle Männer aus dem Verkehr ziehen können, die die schutzlosesten (und in den Augen dieser Männer zugleich schutzwürdigsten) aller Frauen gefährdeten – Frauen wie Angéline, die freudig und freiwillig ihren Männern dienen, auf daß sie beide glücklicher werden.

François wurde auf eine denkbar angenehme Weise aus Seinen düsteren Erinnerungen herausgerissen und in die Realität zurückgeholt: Die Tür wurde aufgetan, und chantal und Goldie betraten das Zimmer. Die Hündin tanzte erwartungsvoll um chantal herum. Sie wußte genau, daß Fütterungszeit war, und sie wußte auch, daß – wie immer – etwas Leckeres im Hundenapf sein würde. chantal verwöhnte Goldie gern, ergänzte ihr Futter mit Leckerlis; mal einem Markknochen, mal einem Klecks übriggebliebener Leberpastete, manchmal Quark oder trockenem Käse … Dem Hund geht es gut, grinste François still, als Er chantal nachblickte, wie sie durch die Tür verschwand. Chantal – ja, die warmherzige, lebhafte, kluge chantal, Sein ein und alles … Wie wenig sie sich im Grunde genommen seit ihrer Kindheit verändert hatte! Und wie sie ihrer Mutter ähnlich war!

François mußte immer noch wehmütig seufzen, wenn Er an Marie, chantals Mutter, dachte – an Seines Vaters Buchhalterin, die das elterliche Gut fünf kurze Monate lang gemanagt hatte und erheblich mehr tat, als nur die Rechnungen in Ordnung zu halten und Steuerformulare auszufüllen. Für ihre zierliche Figur und die leise, kultivierte Flötenstimme trat sie überraschend entschieden auf, wies alle in ihre Schranken, überprüfte Arbeiter und Lieferungen, handelte einen fairen Preis mit der Konservenfabrik aus, die ihre Ernte von der schier endlosen Obstplantage (sie hatten über 5000 Bäume, dazu die Kornfelder!) jedes Jahr en gros übernahm – und all das, obwohl sie erst kaum 20 geworden war, frisch aus der Wirtschaftsschule. François’ Vater zögerte tagelang, ehe er sie einstellte, da aber keiner kam, der den Vorstellungen des alten Herrn entsprach – nämlich landwirtschaftlich erfahren, gestandenen Alters und männlichen Geschlechts –, und die Saison unerbittlich näherrückte, gab er mit einem Seufzer nach und gab ihr den Job, wofür sie sich mit einem ihrer so unvergeßlichen Lächeln bedankte und sich sogleich an die Arbeit machte. »Eine richtige kleine Dame«, sagte wenige Wochen später einer der Nachbarn, »immer etwas zu tun, trotzdem immer für alles Zeit«. Und das stimmte. Marie versah ihre Aufgaben scheinbar mühelos, immer freundlich und mit einem milden, unschuldigen Lächeln auf den jungen Lippen – die wenigsten Männer merkten, wieviel Energie hinter diesem Lächeln steckte – und fand auch noch Zeit, Ihm, dem damaligen Zehntkläßler, bei Seinen Matheaufgaben zu helfen.

Während dieser Nachhilfe zeigte sie sich von ihrer originellen, verständnisvollen und lustigen Seite, so daß es Ihm nicht schwerfiel, sie schon nach kurzer Zeit als eine gute Freundin zu betrachten und Sein eigenes Selbst vor ihr immer mehr aufzudecken. Marie behandelte Ihn zunächst etwas herablassend, sie fühlte sich aus der Höhe ihrer reifen 20 Jahre einem Sechzehnjährigen wohl sehr überlegen; das änderte sich aber relativ schnell. Während ihrer immer ausgedehnteren Gespräche nach den Matheaufgaben kamen sie sich näher, und – wie konnte es auch anders sein – François verliebte sich flugs in Marie. Die Tatsache verwunderte keinen in der Familie – denn daß Er verliebt war, blieb Seinen Eltern selbstverständlich nicht lange verborgen –, der Grund hätte sie aber gewiß in maßloses Staunen versetzt, hätten sie auch davon erfahren. François verehrte in Marie keinesfalls die energische, tatkräftige, zielbewußte, erwachsene Frau, wie es andere Männer getan hätten oder auch taten, nein, Er sah etwas völlig anderes in ihr, etwas, was Ihn atemlos machte: Er konnte sich mühelos vorstellen, daß Marie in die Rolle jener sklavin passen würde, deren Bild Er seit Seiner frühesten Pubertät ständig in sich herumtrug – einer Frau, die ganz Ihm gehörte, Ihm – Seinen Launen – hilflos ausgeliefert war; die sich ganz und gar in Seine Hände begab; eine, für die Er Verantwortung übernehmen, sorgen, Entscheidungen treffen konnte; die Ihm auf jede erdenkliche Weise diente …

Diese Phantasie verfolgte Ihn, so lange Er sich erinnern konnte und ließ Ihn gegenüber Emanzen völlig immun werden, so daß Er, obwohl immer schon außerordentlich gutaussehend gewesen, stets ein Einzelgänger geblieben war. Die wenigen Liebschaften, die Er bereits hinter sich gebracht hatte, waren eher mechanischer Natur gewesen, Er ständig bestrebt, die führende Kraft der Beziehung zu sein; natürlich war es nie lange gutgegangen. So war Er da, für einen Sechzehnjährigen merkwürdig frühreif, und beobachtete entzückt Maries Augenleuchten, wann immer Er versuchsweise energischer auftrat. Verletzlich, unendlich tief wurden die sonst so resoluten Augen in diesen Augenblicken, und François begriff, daß Marie, der starken Frau, genau das fehlte: ein Mann, der stärker war als sie, neben dem sie sich klein und weiblich vorkommen konnte, einer, der nicht ehrfurchtsvoll verstummte, sobald sie den Mund auftat. Wie heiß die verglaste Veranda, ihr Studierplatz an diesen Nachmittagen wurde, wie verlockend ihre leicht zitternden, vollen Lippen … Nach der nächsten Stunde würde Er sie küssen … Aber dazu kam es nicht mehr. In aller Stille reichte sie ihre Kündigung noch am selben Tag ein, berief sich auf einen Todesfall in der Familie, der ihre Anwesenheit auf dem elterlichen Gut zwingend notwendig machte, und reiste nur zwei Tage später ab, ohne auch nur ein einziges Mal unter vier Augen mit Ihm gesprochen zu haben. Ja, kein Wort fiel zwischen ihnen in diesen für François so unerträglichen 48 Stunden; erst als sie schon im Wagen saß, der sie zum Bahnhof bringen sollte, streckte sie die Hand durch das Fenster und winkte François heran. Sie zog Seinen Kopf am Kragen zu ihrem Gesicht zu sich herunter, küßte Ihn hart auf die Lippen, sagte heiser, mit einem wehmütigen Lächeln, »Leb wohl, Bübchen!« und verschwand aus Seinem Leben. War es, fragte sich François unendliche Male während der durchwachten Nächte jenes Sommers, war es allein Sein Alter – die läppischen vier Jahre umgekehrten Altersunterschiedes –, der sie dazu veranlaßte, diese Beziehung auf diese drastische Weise zu beenden, noch ehe sie angefangen hatte? Ja, gewiß, ein Sechzehnjähriger an der Seite einer Zwanzigjährigen – Seine Familie wäre sicherlich empört gewesen, aber wen kümmert schon die Familie? Er wäre mit ihr notfalls durchgebrannt, hätte für sie gearbeitet, hätte sie besessen … hätte sie in unendlichen Tagen und Nächten zu Seiner sklavin gemacht, zu Seinem gefügigen, dankbaren Objekt. Ihm wurde schwindlig und Sein Kissen Nacht für Nacht von Tränen durchnäßt, wenn Er daran dachte, wie dieses prachtvolle, kluge Geschöpf Ihm zu Füßen gelegen hätte – wie die sklavin Seiner Träume …

Fünf lange Jahre sollten vergehen, ehe François Marie wiedersah. Es geschah eines Winternachmittags, als Er in Seiner Studentenbude eifrig für Sein erstes Staatsexamen büffelte, für das allseits gefürchtete Fach »Römisches Recht«. Die Schwierigkeit der Materie sollte Ihm nur recht sein, Er hatte sowieso nichts anderes mit Seiner Zeit in Paris anzufangen. Die Sehenswürdigkeiten kannte Er bestens noch von den Ferien, als Er sich als Reiseleiter ein paar Francs dazuverdient hatte, das Nachtleben reizte Ihn nicht besonders, zumal Er sich die Art Liebe, nach der Ihm war, höchstens erkaufen konnte, also blieb Er meistens zu Hause, was Seinen Noten guttat. Auch Seine Eltern waren mit Seinen Fortschritten hochzufrieden, obwohl sie anfangs nicht so ganz einsehen wollten, wieso ein zukünftiger Großgrundbesitzer ausgerechnet auf ein Jurastudium angewiesen sein sollte. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätte Er Landwirtschaft studieren sollen oder noch besser überhaupt kein Studium in der fernen Großstadt anfangen, sondern gleich nach dem Abitur zu Hause bleiben und von Seinen alternden Eltern die Wirtschaft übernehmen, damit diese endlich mal die Welt umsegeln könnten, wie sie es sich immer erträumt hatten. Schließlich akzeptierten sie dann doch Seine Entscheidung und arbeiteten weiter, während Er sich in der Hauptstadt mit Paragraphen abquälte. Dabei war Römisches Recht nicht einmal das Übelste: Wann immer von Sachwerten die Rede war, mußte Er daran denken, daß im alten Rom auch Sklaven als solche galten, als bloße Sachwerte, und Er malte sich mit Vergnügen aus, was Er mit so einer »Sache« alles angefangen hätte, wäre Er zweitausend Jahre früher auf die Welt gekommen. Er starrte gerade lächelnd vor sich hin, überließ sich einem angenehmen Tagtraum, als die Glocke schellte. Immer noch in Gedanken woanders, stand Er auf und öffnete, so daß es nicht Wunder nahm, daß Er Marie, die vor Seiner Tür stand, ebenfalls für irreal hielt und einige Sekunden lang gar nicht daran dachte, sie zu begrüßen. So standen sie schweigend einander gegenüber, und nur langsam dämmerte es François, daß die Frau vor Seinen Augen, die ein junges Mädchen an der Hand hielt, doch noch real war und vielleicht begrüßt werden und hereintreten wollte. Unbeholfen brachte Er ein »Hallo, Marie!« zustande, öffnete die Tür weit und winkte sie von der Straße herein. Die beiden betraten Seine Wohnung, Marie etwas starr, das Mädchen erheblich quirliger – es sah sich mit unverhohlener Neugierde um.

»Deine Tochter?« fragte Er. Es war aber eher eine rhetorische Frage; das Mädchen sah Marie zum Verwechseln ähnlich, nur daß es statt brünetter Haare und tiefblauer Augen dunkle Haare und Augen hatte. Aber die Porzellanhaut war die gleiche, dieses Feinporige, Samtige, daß man sich beherrschen mußte, um nicht hinzufassen – und der lebhafte, kluge Blick, die geschwungenen, dichten Augenbrauen, die festen, bereits in diesem zarten Alter – das Kind konnte kaum mehr als zehn Jahre alt sein – so sinnlich gezackten, festen Lippen …

»Ja«, sagte Marie und schwieg weiter, die Augen starr vor sich auf den Boden gerichtet.

Sie sah nicht gut aus, sagte sich François, nein, überhaupt nicht gut. Abgemagert bis auf die Knochen, die Haut ganz gelb, die Lippen brüchig; auch schien es ihr Schwierigkeiten zu bereiten, sich in sitzender Haltung auf dem Sofa halten zu können. Er faßte sie an die Hand.

»Bist du krank, Marie?«

Schweigen.

»Marie, ich habe dich etwas gefragt. Bist du krank? Kann ich etwas für dich tun?«

Die Antwort kam überraschenderweise nicht von der immer noch versteinerten Marie, sondern in einer für François bis dato unbekannten Kinderstimme. »Ja, Monsieur, Mama ist krank, sie hat Krebs. Der Herr Doktor sagte, sie hat nur noch wenige Wochen zu leben, und sie will, daß Sie für mich sorgen, wenn sie stirbt.«

In der Stille nach dieser Mitteilung wuchs das Geräusch der Computerlüftung zu einem Sturmgeheul auf, und François spürte, wie auch Seine Gesichtsmuskel zu Stein wurden, wie Er die Lippen nur mühsam dazu bringen konnte, Worte zu formen.

»Ist das wahr, Marie?«

»Ja. Ja, das ist wahr, François« – und bei diesem letzten Wort, bei Seinem Namen hob sie den Kopf zum ersten Mal, und es spielte ein kleines, wehmütiges, verwundertes Lächeln um ihre Lippen. Sie sah sich Ihn genauestens an, als ob sie befürchtet hätte, ihre Erinnerung hätte sie betrogen und Er sähe ganz anders aus, als sie dachte. Ihr Blick verweilte auf Seiner Stirn, bohrte sich abschätzend, hart, fragend in Seine Augen, schien eine befriedigende Antwort auf seine Fragen erhalten zu haben, zuckte weg, als er Seine Lippen streifte … Und dann seufzte sie.

»Ich habe Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium. Ich habe mich mit Morphium vollpumpen lassen, damit ich Dich besuchen kann. Nein, bitte keine Mitleidsbekundungen«, wehrte sie mit einer Hand ab, »deswegen bin ich nicht hier. Es geht um sie« – und damit wandte sie sich an das Kind neben ihr. »Das ist Chantal, meine Tochter, wie Du es sehr richtig erraten hast. Sie wird nächsten Oktober elf Jahre alt sein und in ein paar Wochen Waise. Ich wollte Dich fragen, ob du die Vormundschaft übernehmen könntest. Ich würde auf jeden Fall beruhigt sterben, wenn Du Dich einverstanden erklärtest.«

»Aber …«, stammelte Er, »wenn sie elf ist, dann … dann …«

»Genau«, sagte sie, »und jetzt weißt du auch, warum ich nicht bei Euch bleiben konnte, warum ich mich auf nichts mit dir einlassen wollte. Daß ich vier Jahre älter bin als Du, das hätten Deine Eltern vielleicht noch geschluckt, liberal und verständnisvoll, wie ich sie in Erinnerung habe. Aber eine Zwanzigjährige mit einer fünfjährigen Tochter, ein Sechzehnjähriger als Vaterersatz für ein Kind, das mühelos seine kleine Schwester sein könnte – nein, das wäre zu viel gewesen, ich hätte Familienzwist, Unheil gebracht, und das wollte ich nicht. Dabei … Ich habe immer von einem Mann wie Dir geträumt, und Ihr wachst beileibe nicht in jedem Gebüsch … Egal, es ist, wie es ist, wir können die Vergangenheit nicht mehr ungeschehen machen. Außerdem bin ich bis heute überzeugt, daß ich damals das Richtige tat. Jetzt aber brauche ich Dich. Besser gesagt, Chantal braucht Dich. Willst Du ihr helfen?«.

François wandte sich immer noch wie in Trance dem Kind zu, sah ihr ins Gesicht, und der Anblick der unnatürlich kühlen, gelassenen Augen schnürte ihm die Kehle zu. Das Kind mag klar und verständlich und in sorgsam gewählten Worten über den bevorstehenden Tod seiner Mutter sprechen, vorbereitet war es darauf noch längst nicht, wie es höchstwahrscheinlich unmöglich war, ein Kind auf so etwas »vorzubereiten«, dachte François.

»Was ist mit dem Vater?« fragte Er.

»Er weiß nicht einmal, daß Chantal existiert, und das ist gut so. Er war nichts weiter als ein Urlaubsflirt mit Konsequenzen – allerdings mit selchen, die ich nicht mehr missen möchte«, lächelte sie wieder wehmütig, und sonderbar, auch François lächelte mit, während Er Marie die Hand streichelte.

»Deine Eltern?«

»Seit zwei Jahren tot … Verkehrsunfall. François, glaube mir, ich habe die ganze Sache schon so oft durchgespielt, alles in Erwägung gezogen – und was kommt dabei heraus? Jedesmal das gleiche, nämlich daß es das beste für das Kind wäre, wenn Du für sie weitersorgen würdest. Du brauchst nicht das Kindermädchen zu spielen, Chantal ist seit September auf einem Internat in Lyon, nur für die Ferien braucht sie eine Bleibe … Und sie fühlt sich sehr wohl dort, nicht wahr, Chantal?«

»Ja, Monsieur, die Schule ist wirklich klasse, ich habe meine Lehrerinnen so lieb, besonders Mademoiselle Lecomb ist nett.«

»Die Klassenlehrerin«, ergänzte Marie, »wir scheinen Glück zu haben. Chantal hat sich gleich sehr gut eingelebt, auch ihre Noten lassen sich sehen, sie wäre wirklich ein unproblematisches Mündel. Hilf uns, François, bitte!«

»Aber wieso ich? Wir kennen uns kaum, du bist ja nach nur fünf Monaten Bekanntschaft Hals über Kopf davongerannt, und seither sind auch noch fünf Jahre vergangen. Was macht dich glauben, daß ich dieser Aufgabe in deinem Sinne gerecht werden könnte?«

Ein verträumtes, bewunderndes, unendlich zärtliches Lächeln war Maries Antwort auf diese Frage, es ließ die geschundenen Gesichtszüge einen Augenblick im alten Glanz erstrahlen, und François wähnte plötzlich den Mähdrescher zu hören, die südliche Sonne auf Seinem Gesicht zu spüren … Er merkte gar nicht, wie Ihm die ersten Tränen übers Gesicht liefen. »Schhhh, Liebes, nicht weinen«, hörte Er ihre Stimme. Ihre Hand wischte Seine Tränen fort. »Siehst Du, ich hatte die ganze Zeit recht. Du bist ein richtiger Mann, einer der letzten, leider; aber ich habe Glück gehabt, habe Dich noch kennengelernt, und jetzt könnte ich wirklich beruhigt sterben, wenn Du versprächest, auf mein Kind zu achten … Tust Du es, François?«

»Ja«, stammelte Er, »was für eine Frage! Mach dir keine Sorgen um sie. Sie bekommt von mir alles, Internat, Studium, Reisen – alles. Okay?« Er umarmte Marie mit verzweifelter Leidenschaft, als ob Seine bloße Körperkraft ausreichte, um sie aus dem Tor des Todes zurückzureißen, sie wieder gesund zu machen … Und das Kind sah zu, kühl, leidenschaftslos, ohne jegliche Mißbilligung, lediglich mit einem distanzierten Interesse …

Dieses Verhalten kann nur die Auswirkung eines lang anhaltenden Schockzustands gewesen sein, zu diesem Schluß kam François ein paar Monate später, als Er Chantal zum ersten Mal im Internat besuchte. Und das sollte auch für lange Zeit das letzte Mal gewesen sein, denn das kleine Wesen, das Ihn damals am Tor des großen Parks erwartete, hatte so gar nichts mehr mit dem versteinerten Mädchen zu tun, das sich nach dem Begräbnis seiner Mutter so artig, aber völlig puppenhaft und leblos bei Ihm untergehakt hatte, in Seine Wohnung mitgegangen war, gegessen, geschlafen, sich gewaschen hatte und ein paar Tage später auf dem Bahnhof ins Internat hatte verfrachten lassen. »Ich muß sie bald wieder besuchen«, hatte François gedacht, »sie sieht gar nicht wie ein lebendiges Wesen aus«; dann aber schob Er diesen ersten Besuch immer weiter auf. Gewiß, Er schrieb Briefe an sie, liebevolle, etwas unbeholfene Briefe – Er wußte ja so wenig über sie, was hätte Er auch hineinschreiben können außer Trostworten und Ermutigungen, fleißig zu lernen; auch erkundigte Er sich wöchentlich telefonisch über sie bei der Schulleitung, aber ein Besuch – nein, daran war vorerst nicht zu denken. Nachdem Er die schier unendliche, nervenaufreibende Lauferei wegen der Vormundschaft hinter sich gebracht hatte, berichtete Er Seinen Eltern in einem kurzen Brief über die Ereignisse und war ihnen von ganzem Herzen dankbar, als sie postwendend antworteten, in wenigen, nüchternen Worten ihr Beileid ausdrückten und Ihn schließlich in Seinem Entschluß, die kleine Chantal als Mündel zu akzeptieren, bekräftigten – sie meinten, das wäre wohl das mindeste, was Er in dieser Situation tun konnte. Er las den Brief erleichtert und vergrub sich dann in Seine Arbeit, bestand glänzend die Prüfung im Römischen Recht und nahm am darauffolgenden Tag gleich den nächsten Kurs in bürgerlichem Recht auf. Er wollte keine Zeit zum Nachdenken haben, Er mußte sich betäuben, zumindest bis der erste Schmerz abklang, dann, erst dann fühlte Er sich stark genug, um sich mit Chantal zu treffen.

An einem sonnigen Spätfrühlingsmorgen war es dann so weit; Er setzte sich in den Zug und fuhr nach Lyon. Er freute sich über das Wetter: Wenn das Internat über einen halbwegs erträglichen Garten verfügte, hatte sich die Frage nach dem Nachmittagsprogramm erübrigt. Bei einem Internatsmädchen war eigentlich ein Konditoreibesuch mit anschließendem Stadtbummel und Shopping naheliegend … Aber wenn Chantal immer noch in derselben seelischen Verfassung war, wie Er sie in Erinnerung hatte, dann eignete sich ein ruhiger, sonniger Park mit stillen Bänken und Vogelgesang viel eher … worüber Er sich wohl mit ihr unterhalten sollte?… Er hätte natürlich tausend Fragen über Marie gehabt, würde sich aber hüten, das Kind mit derlei Sachen aufzuwühlen … Oder war diese Einstellung falsch und Er sollte ihr die Möglichkeit bieten, sich in Seinen Armen auszuweinen, laut zu trauern, ihrer Verzweiflung freien Lauf zu lassen? François war sich bis zum letzten Augenblick unschlüssig, bis Er das Mädchen erblickte – Chantal stand im Parktor, lächelte freudig und lief auf Ihn zu.

Wenn François tausend Jahre alt werden würde, würde Er diesen Augenblick nicht vergessen. Das Kind lief Ihm entgegen in einem Schauer von goldgrünen Lichtpunkten, so leicht, als würde sie von der warmen Frühlingsbrise getragen, und sie lächelte … Mein Gott, wie sie lächelte – mit vor Freude blitzenden Augen, wehenden Haaren bremste sie scharf kaum einen Meter vor Ihm und sagte vor Aufregung ganz atemlos einfach: »Hallo François, ich freue mich, daß Du hier bist.« Kein »Monsieur«, nicht einmal »Onkel François«, leicht, selbstverständlich geduzt – und in diesem Moment dachte Er zum ersten Mal daran, daß ein zehnjähriges Mädchen vielleicht kein Kind mehr war … Wie sie hergekommen war, die Allee entlang, war sie viel eher eine kleine Frau, ein Fräu-lein. Ganz die Mutter, ganz wie Marie, hämmerte es in François’ Schädel, und Er war heiser, als Er die ersten Worte stammelte: »Hallo Kleines, ich freue mich auch – vor allem, weil es dir schon besser geht, nicht wahr?«

»Ja, klar«, nickte sie, »ich spreche ja jeden Tag mit Mama.«

»Mit Mama?« stutzte Er; ob etwa irgend eine dumme Sekte hier …? Aber Er war bloß wieder etwas paranoid.

»Ja, mit Mama. Mademoiselle Lecomb sagt, Mama ist im Himmel jetzt, und jedesmal, wenn ich mein Abendgebet sage, hört sie das. Ich erzähle ihr jeden Tag vorm Schlafengehen alles, was los ist und so.«

»Ach, das Abendgebet, da hat Mademoiselle Lecomb natürlich recht«, sagte Er erleichtert und faßte Chantal an der Hand. »Also wenn es dir so gutgeht, Fräulein, dann möchtest du vielleicht in die Stadt. Ich habe in den Auslagen die neue Sommermode gesehen, falls irgend etwas in deiner Garderobe fehlt …«

»Oh ja, danke, François«, strahlte sie Ihn an und drückte seine Hand so warm, daß Ihm zum ersten Mal ein unangenehmer Gedanke kam …

Der Gedanke, besser gesagt: die Vermutung bestätigte sich im Laufe des zusammen verbrachten Nachmittags: Keine Frage, Chantal schwärmte für Ihn. Die Kleine himmelte Ihn förmlich an, suchte beständig Seine Augen, sah die Auslagen gar nicht, so daß schließlich François die neue Schultasche und die Jeans aussuchen mußte – Er hoffte nur, daß die Sachen in den Jungmädchenaugen der Klassenkameradinnen Gnade finden würden. Chantal indessen plapperte munter drauflos, ließ ihre Augen und ihr Lächeln blitzen, warf den Kopf in den Nacken, so daß François gar nicht umhin konnte, die anmutige Linie ihren Halses zu bewundern … Mit einem Wort: Das kleine Mädchen flirtete, was das Zeug hielt. Schlimmer noch, sie tat es allem Anschein nach völlig unbewußt, lediglich getrieben von dem frisch herangebrochenen, duftenden Frühling ihres jungen Lebens, weil der Mann, der neben ihr herschritt und ihre Hand hielt, sooo gutaussehend war … Und im Fokus ihres bewundernden, hingebungsvollen Blickes, der zu brennen schien, traf François Seinen Entschluß: Er würde Chantal nicht mehr besuchen. Während des Schuljahres kümmerten sich die Lehrerinnen wirklich umsichtig um sie – in den Telefongesprächen mit Mademoiselle Lecomb hatte Er einen sehr günstigen Eindruck von der jungen Frau gewonnen, auch schien ihr Chantal zu vertrauen –, die Ferien konnte sie auf dem Gut Seiner Eltern verbringen, die alten Herrschaften würden über einen solchen Besuch sicherlich entzückt sein. Nicht daß François nicht entzückt gewesen wäre – Er war bereits jetzt viel mehr als nur entzückt über Chantal –, aber Er sagte sich, es wäre unentschuldbar gewesen, das Mädchen an sich zu binden, dieser jungen, noch völlig plastischen Seele eine Prägung, eine Entwicklung aufzuzwingen, die ihr, ihrem wahren, ursprünglichen Naturell vielleicht völlig fremd gewesen wäre. Denn François machte sich keine Illusionen: Ob Er es wollte oder nicht, Er würde Chantal in eine ganz bestimmte Richtung beeinflussen, würde versuchen, Chantal jene Lücke füllen zu lassen, die ihre Mutter in Seinem Leben hinterlassen hatte. Abgesehen aber davon, daß Chantal eine eigenständige Persönlichkeit und sie selbst war und keine »Marie II«, standen die Chancen, daß sie – wie ihre Mutter – im tiefsten Inneren submissiv war, vielleicht eins zu tausend. Nein, das konnte Er nicht riskieren, Er durfte Sein Mündel nicht mißbrauchen, weder körperlich und noch weniger seelisch. Und so verabschiedete Er sich von ihr am Frühabend in der traurigen Gewißheit, daß Er ab sofort ihre Gesellschaft peinlichst meiden würde. Er fuhr mit dem Abendzug nach Paris zurück, und während Er in dem stickigen Abteil dahinratterte, war es Ihm, als wäre Ihm abermals etwas ganz Wichtiges genommen worden.

In den darauffolgenden Wochen sollte Ihm das alltägliche Öffnen der Post zu einer Tortur werden. Mindestens zweimal die Woche kamen Briefe von Chantal – »Wann besuchst Du mich endlich wieder, François?« – zuerst halb traurig, halb einschmeichelnd, dann immer fordernder, ungeduldiger, schließlich geradezu wütend. Und als der letzte Tag ihrer ersten Sommerferien seit dem Tod Maries auf dem Gut Seiner Eltern vergangen war, ohne daß Er sich dort hätte blicken lassen, brach sie – nach den Berichten Seiner Eltern – völlig zusammen, weinte, tobte, war kaum wieder zu beruhigen. Auch für die alten Herrschaften war Sein Verhalten natürlich in höchstem Maße unverständlich, und sie bedrängten Ihn in mehreren Briefen und Telefonaten, sich Seines Mündels doch nicht ausschließlich aus der Ferne, sondern auch persönlich anzunehmen. Da Er jedoch Seine wahren Gründe Seinen Eltern schlecht hätte offenbaren können, blieb Er bei Seinen Beteuerungen, die Prüfungen würden Ihn zu sehr in Anspruch nehmen, um auch nur ein paar Tage für einen Besuch zu Hause erübrigen zu können.

Im nächsten Schuljahr schien sich Chantal mit dieser Regelung abgefunden zu haben – d. h. damit, daß François sie nicht besuchte und ihr auch keine Briefe schrieb. Aber genau wie im Falle ihrer Mutter legte sie auch bei François auf einen einseitigen Kontakt Wert; und etwa so, wie sie in ihrem allabendlichen Gebet ihre Mutter über ihren Tag informierte, schrieb sie Ihm jede Woche einen längeren Brief. Sie erzählte im Plauderton über ihre Schulkameradinnen, beschrieb den Unfall im Sportunterricht, als sich eine Barbara einen Arm brach, schüttete ihr Herz über ihre Schwierigkeiten im Lateinischen und in Mathe aus, erging sich in liebevollen Lobeshymnen über Mademoiselle Lecomb und die neue, François noch unbekannte Englischlehrerin, beschrieb die wechselnden Jahreszeiten. François war über ihre Anhänglichkeit gerührt, dachte aber, die Sache würde spätestens nach einigen Monaten vorbei sein – aber da sollte Er sich irren. Monate kamen und gingen, Chantal gewann und verlor Freundinnen, nahm an Schulausflügen teil, und einmal erkrankte sie sogar an einer schlimmen Grippe, aber ungeachtet all dieser Ereignisse verging kein Montagmorgen, ohne daß François den prallgefüllten, weißen Umschlag mit der sorgfältigen Schrift in Seinem Postkasten vorgefunden hätte. Monat für Monat, dann Jahr für Jahr, ohne Unterlaß verschönerten Ihm diese netten Plaudereien den Wochenanfang, so daß Er schon mal darauf und daran war, sich in den Zug zu setzen und nach Lyon zu fahren … Denn, dachte Er sich, vielleicht war es ein Fehler, sich so abzuschotten, vielleicht bedeutete diese offensichtliche und andauernde Anhänglichkeit des Kindes, daß sie doch mehr von ihrer Mutter mitbekommen hatte als ihre schönen Gesichtszüge und ihre Intelligenz … Aber Er konnte sich in letzter Minute noch beherrschen. Nein, so war es gut, richtig, Chantal in Lyon, im Internat, in den Ferien bei Seinen Eltern – das ganze Gut schien nach ihr verrückt zu sein, auch darin ähnelte sie ihrer Mutter –, und Er in Paris, wo Er Seine letzten Prüfungen abgelegt hatte und als Rechtsberater in einer Firma anfing. Eigentlich gehörte Er auf das Gut, jetzt, wo Er die gewünschte Ausbildung erhalten hatte, jetzt sollte Er in den Süden zurückkehren und endlich Seine Eltern entlasten – aber das war nicht möglich, denn Chantal war immer noch erst siebzehn und verbrachte sicherlich noch ein, zwei Sommerferien auf dem Gut, ehe sie endgültig flügge wurde. Sie machte sich in letzter Zeit in ihren Briefen ernsthafte Gedanken über ihre Zukunft, sie gedachte Kunstgeschichte zu studieren und später aus ihrem nicht ganz unbeträchtlichen Erbe eine Galerie zu eröffnen, was François anfangs ein wenig überraschte. Ob Marie, die praktische Seele mit ihrem Wirtschaftsabschluß, solche »Träumereien« gutgeheißen hätte? François wußte es nicht, sah aber wohl, wie ernst es Chantal mit der Sache war. In den letzten zwei Jahren erbat sie sich öfter eine Studienreise in die verschiedensten Museen Frankreichs und berichtete nachher fachlich fundiert und gleichzeitig hinreißend impulsiv über das Gesehene. Auf ihre Erzählungen hin war François ein paarmal selber hingereist und hatte sich die Sachen angesehen. Während Er über luftige Museumskorridore wandelte, mit ihrem Brief in der Hand, wähnte Er auch ihre Stimme zu hören, wie Er sie zum letzten Mal gehört hatte, an jenem sonnigen Tag im Spätfrühling … Auch wußte Er genauestens, wie sie aussah – eine entzückende junge Dame war aus ihr geworden, genau so, wie François es erwartet hatte –, machten Seine Eltern doch ein Foto ums andere von dem jungen Mädchen, das sie liebhatten, als wäre sie eine spät gekommene eigene Tochter. Auch sie freuten sich über ihre Studienpläne und unterstützten sie, als sie Ihn bedrängte, in Paris studieren zu dürfen. Anfangs wehrte Er sich mit dem jahrelangen Automatismus – »Chantal darf nicht in meine Nähe kommen!« – aber da sie Ihm in einem ihrer Briefe versicherte, Ihn zu keinem Treffen zu drängen, gab Er nach. Schließlich ist Paris so unendlich groß, und sie mietete sich eine kleine Wohnung fast mit peinlichem Bedacht genau am anderen Ende der Stadt, so daß die Chancen gut standen, daß sie sich nicht mehr wiedersehen würden, bis sie sich in einen netten jungen Mann verlieben, ihn heiraten und so in Sicherheit vor Ihm sein würde.

Von ihrem Umzug nach Paris, von ihrem Studienanfang an veränderten sich die Briefe selbstverständlich. Den Umfang und den Plauderton behielten sie bei, berichteten aber über eine neue Lebensweise, die einer freien, jungen, offenen Studentin, die ihrem Interesse nun voll nachgehen konnte, ohne ihre Zeit mit ihrer Meinung nach lästigen und völlig überflüssigen Fächern wie Mathe und Latein vergeuden zu müssen. Sie besuchte Vorlesungen, stritt sich in Studentenkneipen über die neuesten Stilrichtungen, hatte einige flüchtige Liebschaften, aber ihr Ton war ziemlich kühl in dieser Hinsicht. Der Richtige war wohl noch nicht dabeigewesen, seufzte François im stillen an einem Montagvormittag an seinem Schreibtisch in der Arbeit, als Er ihren neuesten Brief durchlas. Es wäre aber an der Zeit, Mädchen, verdammt, ich kann nicht mein ganzes Leben damit verbringen, jedes Restaurant, das ich betrete, zuerst nach Deinem Gesicht abzusuchen, damit wir nicht zufällig zusammentreffen …

Er starrte zum Fenster hinaus, auf die Dächer der Stadt. Es ging Ihm eigentlich nicht schlecht. Gleich Seine erste Stelle erwies sich als Volltreffer, Seine Arbeit war interessant und teilweise eine echte Herausforderung, die Er mit Erfolg bewältigte, Seine Vorgesetzten waren zufrieden mit Ihm. Seine Studentenbude, eine etwas reparaturbedürftige Altbauwohnung, erstrahlte in neuem Glanz, seit Er sie auf Vordermann hatte bringen lassen, einschließlich des verfallenen Deckengemäldes, das Er endlich restaurieren lassen konnte. Es entpuppte sich als barockes Werk mit schnuckeligen, rundlichen, rosa Engelchen, die auf Wolken sitzend ihre Trompeten erschallen ließen zu Ehren eines Jägers in Triumphstellung über einem Bären.

Einzig Sein Liebesleben hatte sich seit Seinem 16. Geburtstag nicht in nennenswertem Umfang belebt. Gewiß ergab sich diese oder jene Liebschaft mit netten Mädchen, aber für mehr reichte es nie aus. Jedesmal, wenn Er die aktuelle Dame nach vollbrachter Tat nach Hause brachte, stellte Er etwas niedergeschlagen fest, daß es wohl nicht das Richtige für Ihn war, dieses Gleichberechtigungsspielchen, wo Er am besten vor jedem Handgriff um Erlaubnis bitten sollte … Nein, das war nichts für Ihn. Er lieferte das Mädel artig zu Hause ab und hütete sich, ein weiteres Mal Kontakt aufzunehmen.

Seine einsamen Phantasien waren ein schwacher Ersatz und fielen, gleichsam als Kompensation für die dürftige Realität, ziemlich heftig aus. Meistens träumte Er von handfesten Vergewaltigungen, Er drückte die Frau erbarmungslos unter sich und drang in sie ein, trotz ihrer Proteste. Er fühlte ihre Handgelenke förmlich in Seinen Händen, roch ihr Parfüm, sah ihr Gesicht – und erstarrte eines Tages an diesem Punkt, völlig ernüchtert, erschrocken. Das Gesicht, das sich in Seiner Phantasie unter Seinen Schultern wand, war eindeutig das Gesicht Chantals, wie er es von einem neuen Foto kannte, blaß und samtig, mit den dunklen, ausdrucksvollen Augen, der feinen Nase, den vollen, sinnlichen Lippen.

Er rannte entsetzt unter die kalte Dusche und hoffte nächsten Montag wieder inständig, eine Hochzeitseinladung von Chantal in Seinem Postkasten vorzufinden – aber Er sollte sogar doppelt enttäuscht werden, denn nicht nur, daß ihr neuer Brief nichts über eine überwältigende neue Begegnung erzählt hätte, nein: Es gab überhaupt keinen Brief, der Postkasten blieb zum allerersten Mal seit über neun Jahren leer! Verdattert stand Er da, schaute noch einmal hinein, fand aber nichts. Der Gedanke, ihr könnte etwas zugestoßen sein, bohrte sich in Sein Herz wie ein Dolch, und Er rannte zurück in die Wohnung, wählte die Nummer Seiner Eltern und erfuhr von ihnen, daß Chantal zumindest gestern abend noch wohlauf war, als sie miteinander telefoniert hatten. »Dann ist der Postbote krank, oder streiken diese verdammten Postler wieder einmal?« Aber die entsprechenden Nachfragen ergaben nichts, der zuständige Postbote erfreute sich bester Gesundheit, der nächste Streik war erst für den nächsten Monat geplant … Ratlos legte François schließlich auf und machte sich auf den Weg ins Büro. Er war beinahe angekommen, als Ihm der alles erklärende, erleichternde Gedanke kam. Natürlich – daß ich erst jetzt darauf komme! Alles ist ja in Butter! Die Keine hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach ausgerechnet dieses Wochenende verliebt, jetzt liegt sie in irgend einem warmen Bettchen, stöhnt fleißig und macht an der Uni blau … Grinsen wollte Er bei diesem Gedanken – Er hatte auf dieses Ereignis über ein Jahr lang gewartet –, aber es wollte Ihm nicht so recht gelingen. Wehmütig setzte Er sich an Seinen Bürotisch, sah das kleine Mädchen vor sich, wie es Ihn über die Schulter Maries angeblickt hatte, kühl und sachlich, sah ihre puppenhaften Bewegungen am Grab, sah endlich ihr goldenes Lächeln in der Internatsallee … Vielleicht war Er die ganze Zeit dumm gewesen, vielleicht hätte Er sie zu sich nehmen sollen, und dann … Unsinn, verbrecherischer Unsinn, schalt Er sich, sei doch froh, Du Narr, daß die Gefahr endlich vorbei ist! Hoffentlich kriegt sie bald einen flotten kleinen Sohn, dann können wir in ein paar Jährchen alle miteinander Fußball spielen.

Zu sehr viel Arbeit kam François trotz dieser noblen und äußerst vernünftigen Gedanken nicht mehr an diesem Tag. Er sah Seine Umgebung wie durch einen Schleier, gab verwirrende Anweisungen, suchte in falschen Ordnern … Um zwei Uhr nachmittags fand Er schließlich, es wäre im Interesse der Firma, wenn Er für den Rest des Tages frei nehmen und keine Schäden mehr anrichten würde. So nahm Er den Mantel und ging spazieren, um sich den Kopf auszulüften, über Straßen, vorbei an Auslagen, in den unterschiedlichsten Parks herum … Er saß in zwei Cafés, las Nachrichtenmagazine, aß in einer Juristenkneipe zu Abend, trank ein, zwei Bier, verwickelte sich mit einem angehenden Kollegen in eine Argumentation, so daß es weit nach elf war, als Er zu Hause ankam. Er stand unter der Straßenlaterne und fummelte mit Seinen Schlüsseln, als ein Schatten sich von der Hauswand löste und Er eine fremde und doch so bekannte Frauenstimme hörte: »Hallo François«, sagte die junge Dame in dem langen, hellen Trenchcoat, und François blieb schier das Herz stehen.

»Chantal«, stammelte Er, »Chantal …«

Sie trat ins Licht und kam auf Ihn zu, entschlossenen Schrittes, sie sah zu Ihm hoch. »Ja, ich bin es. Ich bin es, und ich komme zu dir. Jetzt. Und ich bleibe bei dir. Denn ich weiß, was du begehrst, was du bist – und ich bin nichts anderes als die andere Seite derselben Medaille.«

»Chantal, du hast nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst!« Er merkte gar nicht, daß Er die Stimme erhoben hatte.

»Schhhh«, sagte sie lächelnd, »ich würde diese Sachen lieber nicht auf der Straße besprechen. Aber ich weiß, das Hereinbitten war noch nie deine Stärke …« – und sie sah traurig lächelnd die Häuserfassade hoch, jene Fassade, die sie schon einmal gesehen hatte, als noch ihre Mutter sie an der Hand hielt.

»Also komm rein!« knurrte Er unfreundlich und machte das Tor auf.

Chantal schien sich nicht zu sehr verändert haben seit jenem furchtbaren Winternachmittag, stellte Er in der Wohnung fest. Sie war immer noch neugierig und schaute sich interessiert um.

»Hübsch, hübsch«, urteilte sie leichthin, belächelte das barocke Wunder an der Decke, strich über eine kleine Porzellanfigur.

»Bitte, Chantal – wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gerne ziemlich bald ins Bett, hatte einen anstrengenden Tag. Also – was gibt es, was sollte die Dummheit vorhin, daß Du hier seist, weil du wüßtest, was ich begehre, und der Rest über irgendwelche Medaillen?«

Sie drehte sich zu Ihm um, und von ihrem Gesicht verschwand abrupt der Ausdruck des leichten Flirts, ihre Züge wurden weich und zugleich ernst.

»Wußtest du eigentlich, daß meine Mutter ein Tagebuch geführt hat?« fragte sie.

»Tagebuch? Nein, nie von gehört. Woher hast du es?«

»Etwa vor eineinhalb Jahren von dem Notar, der den Nachlaß verwaltete. Sie hatte verfügt, daß ich es bei meiner Volljährigkeit erhalten sollte, unabhängig davon, ob ich zu diesem Zeitpunkt bereits deine Geliebte oder Frau sein würde oder nicht, schrieb sie.«

»Aha.«

»Es ist eigentlich nicht sehr lang; sie führte nicht ihr Leben lang Tagebuch, nur in den Monaten, die sie bei Euch gearbeitet hatte. In erster Linie geht es über dich, François.«

»Über mich?«

»Ja, über dich und darüber, was für eine Beziehung sie von dir erhofft hätte, wenn ich nicht als Störfaktor dagewesen wäre … Aber ich bin ungerecht, ich habe es nie so empfunden, als wäre ich meiner Mutter lästig – das ist ja jetzt auch unwichtig …«, sprach sie immer leiser und unsicherer weiter, denn François’ Augen waren auf sie geheftet, und sie wußte nicht mehr, was sie noch sagen wollte. Dabei hatte sie sich so sorgfältig auf dieses Gespräch vorbereitet, wollte ihre Argumente logisch und nüchtern aufzählen, warum sie meinte, eine Verbindung zwischen ihr und François sei so naheliegend, aber sie konnte nicht. Sie mußte plötzlich an ihre bisherigen Liebhaber denken, an ihre Schwäche, an die Langeweile, daran, wie sie bereits als Zehnjährige in der Gegenwart François erzitterte, ohne im Entferntesten zu wissen, wieso, wie sie unter Seiner Abwesenheit in all den Jahren gelitten hatte, und wie sie schließlich in den letzten eineinhalb Jahren, seitdem sie das Tagebuch ihrer Mutter durchgelesen hatte, verstanden hatte, wieso François sich so stur von ihr ferngehalten hatte. Oh, sie wußte Seine edlen Motive zu würdigen, daß Er sie in keine Rolle hatte zwingen wollen, die ihr fremd gewesen wäre – aber sie war ihr doch nicht fremd! sie wollte sklavin werden, sie träumte von Schmerzen, von einem starken Mann, der sie auch mit Gewalt nahm, der sie auffing und verwöhnte, beschützte und demütigte, dem sie dienen konnte, der zum Mittelpunkt Ihres Selbst werden würde, in dessen bewundernswerter Persönlichkeit sie sich vollständig auflösen konnte, dem sie zu Füßen sitzen und den sie anhimmeln könnte … Absolutes Vertrauen haben, vollständige Gemeinsamkeit, keine Geheimnisse, kein Grenzen, sondern ein Verschmelzen. Sie wurde naß, wenn sie in einer Auslage eine Reitgerte erblickte. Er sollte sie bitte nicht wegschicken, sie war kein Kind mehr, ihr Entschluß stand fest, sie wollte Seine sklavin werden, so, wie auch Marie es gewollt hätte, wenn …

Das ganze, für einen oberflächlichen Zuhörer wohl zusammenhanglose Zeug sprudelte aus ihr unaufhaltsam heraus; sie blickte Ihn aus ihrem tränennassen Gesicht flehentlich an, daß Er sie bitte verstehen möchte, endlich verstehen … Sie stand schluchzend vor Ihm in der Mitte Seines Zimmers.

Und Er stand von seinem Sessel auf, trat zu ihr und nahm sie in die Arme. Er küßte ihr die Tränen vom Gesicht, hob sie in die Arme und trug sie in Sein Schlafzimmer.

Stille Tage in Roissy

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