Читать книгу Stille Tage in Roissy - Saskia Weißer - Страница 8

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II

Emilie macht die Tür des Polizeigebäudes auf, und ihr Herz schlägt merklich höher – und das, nachdem sie ihre Arbeit als Polizeibeamtin bereits vor mehr als zehn Jahren angetreten hat. Diese alltägliche Bewegung, mit der sie die abgegriffene Tür des häßlichen, in furchtbarster Corbusier-Manier erbauten Gebäudes aufstößt, ist wie das Auspacken der Weihnachtsgeschenke in ihren Kindertagen, weiland. Man macht sich an den Schnüren, an den Bändern, schließlich am Papier zu schaffen, stets in der Hoffnung, etwas ganz Besonderes, unbeschreiblich Tolles, Aufregendes drin zu finden – auch wenn man aus Erfahrung weiß, daß die aufwendige Geschenkpackung meistens lediglich Socken oder Unterhosen enthält, im besten Fall jene Puppenkleider, mit denen man bei der Tante schon bis zum Verdruß gespielt hat. Trotzdem reißt man das Papier ungeduldig weg, denn es ist schon mal vorgekommen, daß das Geschenk doch unerwarteter wurde, ihre erste Armbanduhr bekam sie ja zu Weihnachten … Also betritt sie das verrauchte, lärmende, immer unaufgeräumte Büro, das sie mit sechs Kollegen teilt, schwungvollen Schrittes, setzt sich an ihren Tisch, um die über Nacht aufgenommenen Fälle zu studieren. Es kann ja sein … es ist nicht ausgeschlossen, daß ausgerechnet heute wieder ein FALL mit dabei ist, einer, den sie wie ein besonders kniffliges Rätsel lösen würde, unter Aufbietung all ihrer Intelligenz, Tatkraft, Kombinationsfähigkeit. Eben um solche Fälle zu lösen ist sie Polizistin geworden; der Kleinkram, mit dem sie sich jeden Tag beschäftigen muß – abgehauene Teenager, arme, verwirrte Greise, die aus einem Altenheim spazierengingen und nicht zurückfanden – ist etwas, was erledigt werden muß, nichts, was sie tiefer interessieren würde. Und trotzdem ist Gründlichkeit angeraten bei diesem ersten, routinemäßigen Überblick: Nur wenn sie die Fälle als möglicherweise zusammenhängende Ereignisse betrachtet, hat sie die Chance, etwas zu erkennen, was sie in Richtung wirklich aufregender Ermittlungsarbeit führen kann. So hat zum Beispiel die Ermittlung begonnen, an deren Ende ein ganzer internationaler Ring von Drogen- und Waffenhändlern aufgedeckt und festgenommen werden konnte … Emilie dachte immer noch voller Behagen an diese sechs turbulenten Monate ihres Lebens. Übermüdet war sie die ganze Zeit, aufgeregt, oft genug auch entsetzt und angeekelt, aber am Ende saß der Boß der ganzen Ungeheuerlichkeit hier vor ihr, auf dem Sessel, und sie durfte jene Fragen stellen, die das zynische Lächeln von der geschniegelten Visage des Verbrechers endgültig verschwinden ließen. Ja, das war eine schöne Zeit, ein toller Fall, seufzt sie – ob je etwas von der Größenordnung nachkommt, weiß nur der liebe Gott. Dabei wäre es an der Zeit; sie hat das Gefühl, ihre Gehirnzellen seien jetzt schon angerostet, sie reagiere träge, erkenne die Zusammenhänge nur noch langsam … Zeit für ein bißchen Training. Gleichzeitig schämt sie sich ihrer Gedanken. Als rechtschaffene Bürgerin sollte sie sich eigentlich nichts sehnlicher wünschen, als daß die Tage so friedlich wie jetzt dahinstreichen, daß ihr schwerster Fall ein eingeschnappter Teeny sei, ein Mädchen, das sich eine Woche lang vor lauter Groll auf die Eltern nicht zu Hause blicken läßt. Wie ein Arzt – auch der müßte laut Berufsethik dann am zufriedensten sein, wenn sein Wartezimmer leer bleibt, weil alle seine Patienten gesund sind. Aber eben diese Haltung war für Emilie unmöglich. Als Kind und später im Teenageralter kannte sie alle Romane Agatha Christies in- und auswendig, und – was sie am meisten freute – sie hatte die richtige Lösung stets schon lange vor dem Schluß, wenn Miß Marple oder Hercule Poirot den Tat- und Ermittlungshergang gaaanz langsam erklärten, damit es auch der idiotischste Leser begreifen möge. Nein, Emilie war auf diese „milde Gabe“ der Autorin nur dann angewiesen, wenn diese – unfair genug, ärgerte sich Emilie jedes Mal – noch im letzten Moment eine Zwillingsschwester des Mordopfers, der bis dahin unerwähnt in Burma oder sonstwo gelebt hatte, aus dem Rockärmel hervorzauberte … Gegen diese Praktik war sie natürlich hilflos, und hilflos war auch die Wut, die sie bei solchen Fällen überkam, am liebsten hätte sie die alte Dame am Kragen gepackt und ordentlich durchgeschüttelt.

Nach all dem war ihre Berufswahl eigentlich naheliegend; gottlob machten auch ihre Eltern keine Faxen, nur ihre Biologielehrerin jammerte irgendwas von einer Forscherkarriere. Emilie dachte auch darüber kurz nach, sah ein, daß sie auch in einem Labor Rätsel zu lösen bekommen hätte, ihre Zweifel jedoch, ob sie ein ganzes Leben lang die Geheimnisse irgendwelcher Mikroben oder Gene ergründen mochte, ließen sie schließlich doch das Aufnahmeformular der Polizeiakademie statt das der Uni ausfüllen. Jetzt, zehn Jahre später, weiß sie es ohne jede Zweifel: Hier ist sie richtig, hier, mitten in den bestgehüteten Geheimnissen ihrer Mitmenschen. Die meisten sind harmlos, manche sogar edel – wie das der Gräfin B., die regelmäßig hohe Summen den Anonymen Alkoholikern zukommen läßt, wohl wissend, was eine solche Sucht anzurichten vermag, und die aus verständlichen Gründen nicht genannt zu werden wünscht –, es gibt aber auch welche, die kalten Brunnen gleichen, und zwar keinen wohlig kühlen an einem schwülen Sommertag, sondern eklig klammen, feuchten, modrigen, auf deren Boden Ratten hin und her huschen, seltsam eklig in ihrer Geschäftigkeit, schnell, schleimig, stinkend.

Gestern nacht gab es vier Fälle, drei davon vom Anfang an uninteressant: Eine Mutter hat ihren Sohn vermißt gemeldet um 23 Uhr. Emilie blätterte gleichmütig um, denn der junge Mann war längst einschlägig bekannt, er pflegte durchzubrennen und ein paar Nächte vom Hasch zugedröhnt zu verbringen, wenn seine Eltern sich wieder mal in die Haare kriegten, was gar nicht selten der Fall war. Eine Ehefrau vermißte ihren Ehemann, auch eine alte Kundin; wenn Emilie ein bißchen nachdächte, könnte sie die genaue Kneipe nennen, in der sie gerade in diesem Moment nach ihrem besoffenen Mann sucht. Sobald sie ihn findet, zieht sie ihre Vermißtenanzeige zurück – altes Spiel. Sie nahmen ihre Daten auch nur der Bequemlichkeit halber auf – die paar Zeilen zu tippen war entscheidend einfacher, als das auch nicht gerade nüchterne Weibsbild bei der Tür hinauszukomplementieren. Ihre und seine persönlichen Daten kennen sie sowieso schon alle beinahe auswendig. Drittens war eine arme, alte Frau in der Nacht dagewesen, die ihren einzigen Sohn schon vor zig Jahren verloren hatte. Das wußte sie aber nur in ihren hellen Augenblicken, dann ging sie rastlos die Straße auf und ab, mit tränenden Augen, und erzählte jedem, wie ein Lastwagen ihn hier, auf dieser Straße überfahren hatte. Sie sparte nicht mit entsetzlichen Einzelheiten, welche auch noch plastisch klangen – kein Wunder, sie waren ja einhundert Prozent authentisch, mußte doch die Mutter die ganze Horrorszene aus ihrem Fenster mit ansehen, wo sie jeden Abend stand, um dem Heimkehrenden zuzuwinken. All das schien ihr den Verstand geraubt zu haben, denn seitdem erscheint sie auf dem Revier in manchen Nächten und beklagt sich darüber, daß ihr Sohn sich nun schon stundenlang von der Arbeit verspätete; sie wisse nicht, wo er bleibe. Dieses herzzerreißende Bild, die verwaiste Mutter mit den tausend Falten um die vor Alter wäßrigen Augen, die sie hilfesuchend auf die Polizisten richtet, ist für Emilie wie für alle Kollegen zu gut bekannt; sie nehmen jedesmal ein Protokoll auf, denn keiner ist grausam genug, die alte Dame aus ihren schönen Träumen aufzuwecken, daß ihr Sohn jeden Moment bei der Tür hereinkommen könnte.

Bisher also nichts, stellt Emilie fest und hofft im stillen, auf der letzten Seite der nächtlichen Protokolle etwas zu finden, was ihr Können herausfordern würde. Und tatsächlich … siehe da … ein zumindest auf den ersten, flüchtigen Blick nicht aktenkundiger Mann ist von seinem Sohn vermißt gemeldet worden. Dreiundvierzig Jahre alt, Inhaber eines Architektenbüros, Junggeselle, Innenstadtadresse. Laut seinem Sohn, der die Vermißtenanzeige aufgab, hatte sein Vater vor zehn Tagen gemeint, er werde sich für eine Woche beurlauben, ist aber bis gestern abend nicht im Büro erschienen. Daraufhin ist der junge Mann gestern in der Nacht hergekommen und hat seinen Vater vermißt gemeldet. Emilie weiß, daß die Frage, warum es den Sohn ausgerechnet mitten in der Nacht aufs Revier trieb, wahrscheinlich gar nicht erst gestellt werden muß: Der Erfahrung nach fällt es jedem leichter, Streßsituationen bei Tageslicht zu verwinden. Die Nacht ist wie eine dunkle Lupe; blickt man durch sie, kommen riesenhafte Schreckensgestalten auf einen zu, begrapschen einen mit ihren ekligen, pelzigen und zugleich schleimigen Pfoten, stopfen Steine ins Kopfkissen, schütten kaltes Wasser in die Deckenhülle, daß man sich im Bett stöhnend hin und her wirft, mal vor Kälte zitternd, mal in Schweiß ausbrechend … Ja, Emilie kann es sich gut vorstellen, wie der junge Mann, der die Möglichkeit, seinem Vater könnte etwas zugestoßen sein, am Tage nüchtern überlegend von sich weisen konnte, dann in der Nacht, von seinen quälenden Gedanken aufgeschreckt, kopflos losrannte, um bei der Polizei Rat und Hilfe zu suchen.

Ein verschwundener Mann in den besten Jahren, gutsituiert … Hatten sie nicht schon mal so etwas? Genauer gesagt, mehrere Male? Sie erinnert sich so auf die Schnelle an drei Männer, einen Apotheker, an einen Computerexperten – was er jedoch genau gemacht hat, würde Emilie wahrscheinlich nie im Leben verstehen, also bleibt sie bei dieser eher vagen Formulierung „Experte“ – und an einen Physiker.

Sie weiß schon deswegen gut Bescheid, weil sie damals ganz schön eingeschnappt war, als der Fall nicht ihr, sondern dem alten Mann, Cabot, zugeteilt wurde. Murrend sah sie ein, daß sie nicht die nötige Routine besaß, um solche komplizierten Fälle zu behandeln – das war noch vor dem Waffenhändlerring, der ihr übrigens auch nur zufiel, weil Cabot ausgerechnet dann an seinen Herzklappen operiert wurde und die anderen zwei Dienstälteren von einer Grippewelle erwischt worden waren –, und verabschiedete sich wehen Herzens von den verschwundenen Alt-Yuppies. Cabot dürfte aber auch nicht besonders glänzend vorangekommen sein, denkt sie sich, denn dann wüßte ich was davon, der alte Mann hätte es mir bestimmt erzählt.

Nachdenklich starrt sie hinüber, in die kleine Kabine nebenan, wo am penibel aufgeräumten Arbeitstisch ihr liebster Kollege Cabot sitzt. Wie immer trägt er einen tadellos sauberen und gebügelten, wenn auch schon etwas fadenscheinigen Anzug, weißes Hemd, das, wie Emilie weiß, zur Bewunderung aller noch am späten Abend genauso knusprig frisch wirken wird wie in diesen frühen Stunden. Dezente Krawatte, unauffällige Socken und fein polierte Schuhe ergänzen das Bild, und Emilie kann nicht umhin, sich wieder zu fragen, wieso dieser bis zur Peinlichkeit korrekte Mann, der mit seinen kühlen, blauen, etwas kurzsichtigen Augen hinter der randlosen Brille und mit dem Mittelscheitel im welligen, wenn auch schon etwas gelichteten Haar aussieht, als wäre er ein Gymnasiallehrer, ausgerechnet sie unter seine Fittiche genommen hat, als sie bei der Polizei anfing.

Emilie betrachtet sich im Glas der Nachbarkabine, hinter dem ein dunkler Aktenschrank steht und ihr ihr verschwommenes Spiegelbild zeigt, sooft sie in die Richtung schaut. Nicht daß sie es öfter als unbedingt nötig täte. Irritiert stellt sie fest, daß ihre Haare kaum eine Stunde nach dem Kämmen schon wieder in alle Himmelsrichtungen aus der Spange streben und sich um ihr Gesicht ringeln wie verrückte Seeschlangen. Was würde sie bloß um glatte Haare geben! Ihre Bluse zeigt nette Formen, aber sie ist schon wieder zerdrückt und halb aus der Hose gerutscht, und ihre Schuhe tragen immer noch die Spuren der Pfütze an der Straßenbahnhaltestelle von gestern abend. Und sie kennt keine andere Frau, bei der die wasserfeste Wimperntusche, teures Markenprodukt obendrein, bereits eine Stunde nach dem Auftragen über das halbe Gesicht verlaufen würde … Stets wie frisch verprügelt, denkt sie genervt. Vielleicht sollte sie die Wimperntusche ganz weglassen … Anscheinend mißt Cabot Äußerlichkeiten bei anderen wenig bei, denn auch am ersten Tag, als sie hier anfing, sah sie nicht anders aus als heute, und doch war der alte Mann sichtlich angetan von ihr, als sie ihre Ansichten über Polizeiarbeit bei der ersten Tasse Kaffee austauschten. Dem ersten Kaffee sollten noch viele folgen, und Emilie wurde anerkannter Liebling des alten Detektivs, des „Sonderlings“, wie ihn die jüngeren Kollegen hinter vorgehaltener Hand nannten.

Denn Cabot, den promovierten Juristen, der schon längst in eine bedeutungsvolle Position hätte aufsteigen können, statt in diesem muffigen Büro vor sich hinzuwerkeln, kannte keiner von ihnen anders als in einem seiner immer älter, aber um keinen Deut weniger tadellos werdenden Anzüge hinter seinem Schreibtisch sitzend, Ermittlungen anstellend, Berichte anfertigend. Er schien keine Familie zu haben, kein Hobby, nichts außer der Arbeit, von der er besessen zu sein schien. Aber selbst diese Besessenheit äußerte sich bei ihm auf eine sonderbare Weise. Er blieb stets leidenschaftslos, gleich ob er einer Vermutung nachging, etwas überprüfte oder jemanden verhörte. Seine nie erhobene Stimme fiel nicht aus dem immer gleichen Rhythmus und wirkte so kühl und monoton, als käme sie aus einer Maschine, nicht aus einem Menschen. Seine Berichte waren ein Beispiel der Exaktheit, seine Ermittlungsergebnisse kristallklar – seine weniger gesammelten Kollegen hätten ihn wohl gehaßt, wenn ihm Ehrgeiz nicht so offensichtlich abgegangen wäre, daß er als Eifersuchtskandidat gar nicht erst in Frage kam. Nein, Cabot stellte sich lediglich Verbrechern in die Quere, und so zogen fast alle Kollegen, mit denen er jemals gearbeitet hatte, an ihm vorbei, wurden befördert, in Reviere in besseren Gegenden versetzt, während Cabot, wie es schien, an seinem Tisch festwuchs und sich außer der Ermittlungsarbeit und einigen wenigen Besessenen unter seinen Kollegen um nichts kümmerte.

Auch Emilie darf sich zu diesem Kreis der „erwählten Besessenen“ rechnen. Bei jenem ersten Kaffee merkte Cabot ihre Hartnäckigkeit, mit der sie ihre Intelligenz in den Dienst der in den Augen des alten Polizeibeamten einzig lohnenden Aufgabe, der Kriminalitätsbekämpfung, zu stellen bereit war. Seither kommen sie bestens miteinander aus. Nicht daß sie viel redeten – der alte Mann kann keine Störenfriede in seiner Welt der Ermittlungen leiden, leere Schwätzchen sind ihm lästig. Aber wann immer Emilie konkrete Fragen hat, oder wenn sie etwas beunruhigt, wenn ihr Beziehungen fehlen, braucht sie nur zu der Nachbarkabine hinüberzugehen, und ihr wird Hilfe zuteil.

Auch jetzt fühlt sie sich berechtigt, die arbeitsame Ruhe ihres Mentors zu stören. Das Gefühl, dieser neue Fall füge sich in die Reihe der vergangenen drei, treibt sie zu ihm, um sich nach seinen damaligen Ergebnissen zu erkundigen und ihn in dieser Angelegenheit zu Rate zu ziehen. Auch braucht sie seine Unterstützung: Sobald der Chef ankommt, will sie ihn um diesen Fall bitten – und Cabots Empfehlungen wiegen schwer. Trotz der scheinbaren Bedeutungslosigkeit seiner Person weiß der Chef verdammt genau, was er an dem Alten Mann hat, und wird einen Teufel tun, ihn zu verärgern. Wenn sie ihn auf ihrer Seite hat, wird auch der Chef nachgeben und ihr den Fall geben, davon ist sie überzeugt.

Cabot blickt auf und nimmt seine Brille ab, als sie seine Kabine betritt. Seine gepflegten Hände reiben kurz über seine Augen, die wie immer überanstrengt aussehen und leicht gerötet sind. Sein Begrüßungslächeln ist ein dünnes – immerhin das herzlichste, zu dem er Emilies Wissens fähig ist.

„Morgen, Cabot“, sagt Emilie, und ihr Kollege, jeglichem Zeitverschwenden abhold, deutet auf den Stuhl vor seinem Tisch und blickt sie erwartungsvoll an. Emilie legt das Protokoll vor ihn hin. Cabot wirft einen Blick auf die Papiere und nickt.

„Ich will diesen Fall, Cabot. Ich habe da so’n Gefühl …“

„Du meinst die anderen drei Verschwundenen?“

„Ja, die meine ich. Waren deine Fälle, nicht?“

„Ja. Wir haben die Ermittlungen eingestellt. Die drei waren gar nicht verschwunden, sondern einfach abgehauen. Sonne, Strand, Cuba Libre, Schokomädchen – na, du weißt schon.“

„Seid ihr da so sicher?“

„So sicher, wie man halt sein kann. Die Grenzpolizei hat ihre Paßnummern als ausgereist notiert, und auf irgendein Verbrechen deutet gar nichts hin – Verfahren eingestellt.“

„Trotzdem“, sagt sie stur, „trotzdem will ich, daß der Chef diesen Fall mir gibt. Mich bringt diese Langeweile noch um! Nichts als Messerstechereien in drittklassigen Puffs und Amateurmorde, begangen von Möchtegern-Auftragskillern, die über die eigene Waffe stolpern“, sagt sie und sieht dabei aus wie ein schmollendes Kind. Cabot lächelt wieder.

„Und dir ist nach großen Geheimnissen, nicht wahr? Diesen Teil kann ich verstehen, nur nicht, was du ausgerechnet von diesem Fall willst. Aber wenn du darauf bestehst – übrigens, er gehört dir schon längst.“

„Bitte?“

„Monsieur Chef war schon da. Er hat den Stoff von heute nacht durchgesehen und meinte, ich soll dir sagen, du schaust dir diesen Fall von dem Kerl an. Viel Spaß.“

Emilies erster Weg führt ins Archiv. Ihr Gefühl, die vier Fälle hingen zusammen, ist so überwältigend, daß sie gar nicht unvoreingenommen sein will – für eine gute Polizistin eine Todsünde, aber das ist ihr im Moment egal. Ehe sie sich diesen neuen Fall ansieht, muß sie die alten studiert haben. Jede bisher aufgeklärte Einzelheit soll ihr gegenwärtig sein, damit sie sie mit den neuen abgleichen kann. Ihr Bulleninstinkt gibt hellen Alarm. Es ist alles zu glatt, zu einfach. Hochqualifizierte Männer in den besten Jahren, die auf Nimmerwiedersehen verschwinden … Gierig schlägt sie den ersten Ordner auf.

Stille Tage in Roissy

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