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Kapitel 1: Im Garten meiner Kindheit
ОглавлениеIch bin ein Kind der Siebzigerjahre. Im Februar 1979 wäre ich fast im Krankenwagen auf die Welt gekommen. Es war bereits zwei Wochen über dem errechneten Geburtstermin, und die Ärzte hatten meiner Mutter an einem Freitag gesagt, dass sie die Geburt einleiten, wenn bis Montag nichts passiert. Doch das wollte ich mir nicht bieten lassen. Pünktlich am Montagmorgen bekam meine Mutter heftige Wehen. Die Straßen waren so sehr verschneit, dass mein Vater sich nicht traute, meine Mutter mit dem Auto ins Krankenhaus zu fahren. Also rief er einen Krankenwagen und fuhr ihm hinterher.
Geboren wurde ich im Kreissaal in einem Krankenhaus in Kassel. Ich bin das zweite Kind meiner Mutter und das einzige Kind meines Vaters. Dorothea, meine Mutter, war früh schwanger. Meine Schwester Tamara kam 1971 auf die Welt. Doch die Ehe meiner Mutter mit ihrem ersten Mann hielt nur zwei Jahre. Ein paar Jahre später lernte sie meinen Vater Klaus kennen, in einer Disko. Die beiden tanzten zu Stevie Wonder und Hot Chocolate und verliebten sich ineinander. Meine Mutter hat mir erzählt, dass es die ruhige und gelassene Stimme meines Vaters war, die ihr das Vertrauen gab, dass er der Richtige für sie ist. Mein Vater zog zu meiner Mutter in das Haus ihrer Eltern nach Bad Emstal, ein kleiner Ort, zwanzig Kilometer vor Kassel. Sie heirateten 1977, zwei Jahre vor meiner Geburt. Meine Mutter hatte eine Lehre als Erzieherin gemacht und arbeitete im Kindergarten in der Mitte des Dorfes. Mein Vater machte seine ersten beruflichen Schritte im Vertrieb eines Autohauses. Deshalb hatte er ständig andere Autos.
Meine Eltern bauten das Haus meiner Großeltern großzügig aus. Um die Kredite bei der Bank abzubezahlen, gingen sie beide arbeiten. Es gab eine Absprache zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter Lisa. Wenn meine Mutter noch ein Kind bekommen würde, wollte sich Oma Lisa um das Kind kümmern, so dass meine Mutter weiterarbeiten konnte. Als ich auf die Welt kam, hatte meine Großmutter allerdings selbst eine Stelle in einem Altenheim in Kassel angenommen, so dass sie nicht in der Lage war, mich vormittags zu betreuen. Deshalb erklärte sich mein Großvater dazu bereit, sich um mich zu kümmern. Acht Wochen nach meiner Geburt stillte mich meine Mutter ab und ging wieder halbtags arbeiten. Während sie im Kindergarten andere Kinder betreute, passte Opa Fritz auf mich auf.
Ich habe keine konkreten Erinnerungen an diese ganz frühe Zeit. Es gibt kleine quadratische, warmstichige Farbfotos von mir und meinem Großvater: Wir sitzen in der Küche, neben uns ein Kofferradio, in dem immer HR 4 lief. Meine Großeltern liebten Schlager, und auch Opa Fritz war ein leidenschaftlicher Sänger. Ich erinnere mich an den Duft von Pflaumenmus. Im August ernteten wir die Zwetschgen im Garten, schälten die Früchte gemeinsam in der Küche und kochten sie in einem großen Topf ein.
In meiner Erinnerung ist der Garten meiner Kindheit ein wunderbarer Ort. Wie rau sich die Äste anfühlten, wenn ich als kleiner Junge auf den Pflaumenbaum und die große Kirsche geklettert bin. Die langgezogene Johannisbeerenhecke war ein kleines Paradies. Es gab Himbeeren, Erdbeeren und auch große gelbe Pflaumen, die viel süßer schmeckten als die dunkelblauen Zwetschgen.
Ich erinnere mich an meinen Opa, wie er mit nacktem Oberkörper, den rheumageplagten Rücken schwer gekrümmt, mit einer Hacke Unkraut aus den Beeten jätet. Sein Hemd hat er sich oft um den Kopf gebunden. Und ich erinnere mich an sein Lachen, das manchmal etwas gequält aussah, so als ob sich dahinter ein Schmerz verbarg, den er selbst kaum spüren konnte.
Im Winter, wenn es schneite, saß mein Großvater in seinem Lehnsessel im Wohnzimmer und blickte starr nach draußen. Er mochte den Schnee nicht. Später erfuhr ich, dass ihn der Schnee an seine Zeit als Soldat in Russland erinnerte. Als ich etwas größer war, erzählte er mir davon. Ich hörte gebannt zu, wenn mein Großvater vom Krieg sprach. Das war spannend für mich und klang nach einem großen Abenteuer. Opa Fritz war Maschinengewehr-Schütze an vorderster Front. Allein die Vorstellung, dass er so ein großes Maschinengewehr hatte, faszinierte mich als kleiner Junge. Deshalb wollte ich die Geschichten wieder und wieder hören, ich bat ihn: „Opa, erzähl mir vom Krieg!“
Opa Fritz mit seinen Eltern in Pommern im Jahr 1942, kurz vor seinem Aufbruch an die Ostfront. Er wird seinen Vater nie wiedersehen.
Und dann erzählte mir Opa Fritz, wie er als junger Mann nach Russland kam:
Er wächst als ältester von drei Söhnen in einem kleinen Dorf in Pommern auf. Als kleiner Junge spielt er auf den weiten Wiesen und Feldern. Sein Vater ist Landwirt. Den Hof sollte Fritz einmal übernehmen. Doch der Krieg kommt ihm dazwischen. Mit 17 Jahren wird er einberufen. Er verlässt sein Heimatdorf und wird nie wieder dort leben. Im Frühjahr 1943 kommt er an die Ostfront, als die Wehrmacht bereits auf dem Rückzug ist. Als MG-Schütze landet er direkt an vorderster Front. Auf den russischen Winter sind die Soldaten schlecht vorbereitet.
Opa Fritz erzählte mir, wie kalt es dort war und wie sie als Soldaten, nur mit Reisig bedeckt, im Schnee schliefen. Besonders aufregend fand ich es, wenn er davon sprach, wie seine Einheit eingekesselt wurde von den russischen Truppen. Ich stellte mir dann einen großen Kreis aus Panzern und Soldaten vor und in der Mitte meinen Opa mit erhobenen Händen. Bei einer dieser Schlachten wird mein Großvater schwer verwundet, weil eine Granate in seiner Nähe explodiert. Er liegt allein auf dem Schlachtfeld, seine Kameraden sind bereits geflüchtet, und die anrückende Rote Armee rollt mit schweren Panzern auf ihn zu. In letzter Sekunde kehrt sein Offizier zu ihm zurück und trägt ihn auf dem Rücken durch die Schützengräben davon.
Seine Verwundung rettet Opa Fritz nicht nur das Leben, sie bewahrt ihn auch davor, in russische Kriegsgefangenschaft zu geraten. Er wird zurück nach Deutschland transportiert. Später hat mein Großvater nach dem Offizier gesucht, der ihn damals gerettet hat, um ihm zu danken. Er startet einen Suchauftrag beim Roten Kreuz. Doch finden kann er ihn nie.
Nach Kriegsende kommt Fritz in ein Lazarett im Nachbarort des Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin. Nach seiner Genesung lernt er dort meine Großmutter Lisa kennen. Sie hat zwar einen Freund, doch der war noch in russischer Kriegsgefangenschaft. Zum großen Unmut ihrer Eltern verliebt sich Lisa in Fritz, der mittlerweile als Knecht auf einem Bauernhof arbeitet. Die Arbeit ist ihm vertraut. Den Hof in Pommern hat seine Familie durch den Krieg und die Flucht verloren. In Nordhessen ist Fritz für die Einheimischen ein Fremder, „einer von drüben“. Dieses Stigma behält er für lange Zeit, und seine Schwiegereltern akzeptieren ihn nur notgedrungen. Mein Großvater passt sich so gut es geht an und versucht, sich Status und Anerkennung durch harte Arbeit zu erkämpfen. Erst hilft er im kleinbäuerlichen Betrieb der Familie mit und baut das Bauernhaus mit aus. Später bekommt er eine Stelle beim nahegelegenen VW-Werk in Baunatal. Er wird Fließbandarbeiter. Trotz seiner Verwundung und des Rheumas, das er sich in den kalten Wintern an der Ostfront zugezogen hat, arbeitet er unermüdlich.
War die harte, disziplinierte Arbeit für ihn auch eine Kompensation, um das Grauen, das er im Krieg erlebt und mitgebracht hatte, nicht zu spüren?
Ich wurde der Liebling meines Großvaters. Vielleicht lag es daran, dass wir schon in meinen ersten Jahren so viel Zeit miteinander verbracht haben. Später, als ich älter war, begleitete mich Opa Fritz zu jedem meiner Fußballspiele. Er stand am Spielfeldrand und feuerte mich an. Bei meinem allerersten Spiel in der F-Jugend schoss ich gleich fünf Tore. Mein Großvater schwenkte begeistert seinen Spazierstock und war riesig stolz auf mich. Ich spielte eine wichtige Rolle in seinem Leben. Er sagte oft: „Wenn ich sterbe, das ist nicht schlimm. Die Hauptsache ist, dem Basti geht es gut.“
Opa Fritz starb früh. Ich war zehn Jahre alt, als abends ein Anruf aus dem Krankenhaus kam. Nach einer routinemäßigen Darmspiegelung waren Komplikationen aufgetreten und mein Großvater lag auf der Intensivstation. Uns wurde empfohlen, zu ihm zu fahren, wenn wir ihn noch einmal lebend sehen wollten. Meine Eltern nahmen mich mit. Am Krankenhausbett erkannte ich meinen Großvater kaum wieder, er sah blass und abgemagert aus. Sein Gesicht war hinter den vielen Schläuchen schwer zu erkennen. Er war kaum bei Bewusstsein. Als ich nähertrat und seine Hand nahm, drückte er sie, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. So, als ob er mich erkannt hätte.
Am nächsten Morgen war er gestorben. Ich war noch nie so traurig. Es ist meine erste Erfahrung mit dem Tod. Wie gerne hätte ich meinem Opa noch das Fußballtor gezeigt, das ich mit meinem Vater im Garten gebaut hatte.