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Kapitel 4: Von Mäusen und Menschen
ОглавлениеIm Institut für Hirnforschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich bin ich mit Professorin Isabelle Mansuy verabredet. Sie leitet eines der weltweit renommiertesten neurowissenschaftlichen Forschungszentren. Für ihre Arbeit wurde die 49-jährige Französin mit dem nationalen Verdienstorden Frankreichs ausgezeichnet. Im Labor für Epigenetik erforscht sie mit ihrem Team an Mäusen, wie ein Trauma von einer Generation an die andere vererbt werden kann.
Isabelle Mansuy ist eine zierliche, entschieden wirkende Frau mit dunklen Haaren und grünen Augen, die auf mich etwas traurig wirken. Sie empfängt mich in ihrem lichten Büro. Aus dem Fenster hat man einen weiten Blick über Zürich. Ich frage sie, ob sie mir ihre wissenschaftliche Arbeit in einfachen Worten beschreiben könne. Mansuys Stimme klingt sanft und ihr Englisch hat einen angenehmen französischen Akzent:
„Ich bin jemand, der gerne Dinge entdeckt, die wichtig für uns als Menschen sind“, sagt sie. „Die epigenetische Vererbung ist ein junges Feld, das sehr abenteuerlich ist, weil es Grenzen überschreitet und mit bestehenden Vorstellungen bricht. Es ist bekannt, dass Gene bestimmen, wer wir sind, was wir von unseren Eltern erben: unsere Persönlichkeit, unsere Gesundheit und der Typ Mensch, der wir sind. Es ist eine ziemlich neue Vorstellung, dass die Umgebung auch eine sehr große Rolle spielt und uns beeinflussen kann. Wer wir sind, hängt nicht nur von unseren Erfahrungen ab, es kann auch unsere Gesundheit beeinflussen.“
Die Epigenetik bricht mit dem Dogma, dass die Vererbung alles für den Menschen ist, erklärt mir die Professorin: „Epigenetik bedeutet, dass du nicht nur durch deine Gene bestimmt wirst, sondern auch durch deine Umwelt und deine Erfahrungen. Das ist eine völlig neue Art des Denkens. Ich bin daran interessiert, wie der Einfluss der Umwelt auf uns über Generationen hinweg übertragen werden kann.“ Wir gehen durch die langen Flure des neurowissenschaftlichen Instituts. Isabelle Mansuy eilt mit schnellen kleinen Schritten voraus. Ich folge ihr in ein Labor. Eine junge Frau sitzt an einem Mikroskop. Eloise Kremer hat ihre Doktorarbeit über die epigenetischen Forschungen an Mäusen geschrieben. „Ich extrahiere DNA aus dem Plasma von Mäusen. Im Moment bin ich dabei, die DNA zu waschen“, erklärt sie mir.
„Kann man die DNA sehen?“, frage ich etwas naiv und neugierig wie ein kleiner Junge.
„Wenn man genug DNA hat, geht das. Ich benutze eine spezielle Salzlösung, dann kann man einen weißlichen Faden erkennen. Wir führen spezifische Analysen durch und befassen uns mit bestimmten Genen, an denen wir interessiert sind.“
„Das klingt magisch“, sage ich.
„Ja, irgendwie ist es magisch“, stimmt mir Isabelle Mansuy zu. „Epigenetische Mechanismen gibt es in jeder Zelle: im Gehirn, in der Haut, sie sind sogar im Blut. Es sind viele kleine Spuren auf der DNA, die ihre Aktivität regulieren. Was Eloise tut, ist, sich einige dieser Spuren auf der DNA anzusehen“, erklärt mir die Wissenschaftlerin. Was folgt ist eine sehr komplexe Erläuterung der Vorgänge auf der Zellebene, die ich vereinfachend so zusammenfasse:
Bei epigenetischen Veränderungen der Erbsubstanz werden an einzelne Bausteine der DNA kleine chemische Verbindungen, Methylgruppen, angeheftet. Auch die sogenannten Histone, Proteine, welche die Erbsubstanz verpacken, sind modifiziert. Dies hat Auswirkungen auf die Genaktivität, verändert aber nicht den genetischen Code. Durch die Folgen traumatischer Ereignisse werden gewisse Abschnitte auf der DNA – wie Schalter – aktiviert oder deaktiviert. Diese Markierungen werden in die nächsten Generationen vererbt.
„Wir konnten im Mausmodell zeigen, dass Verhaltensänderungen bis zu den Enkeln manifestiert sind, obwohl diese kein Trauma erfahren haben. Dazu haben wir Mäuse während der ersten zwei Wochen nach der Geburt täglich für mehrere Stunden zu unterschiedlichen Tageszeiten von ihren Müttern getrennt – das ist für sie ein enormer Stress. Als erwachsene Tiere verhielten sie sich deshalb auffällig. Interessant war, dass ihre Nachkommen, die ganz normal aufwuchsen, dieselben Verhaltensstörungen aufwiesen. Auch ihr Stoffwechsel war beeinträchtigt“, erklärt mir die Professorin.
Folgen dieser Veränderungen sind ein verändertes Sozialverhalten, depressionsähnliche Symptome, kognitive Defizite, ein gestörter Glukosestoffwechsel und nicht zuletzt auch funktionelle Veränderungen in Haut und Knochen.
„Wir haben vier Generationen untersucht und testen gerade die fünfte“, sagt Isabelle Mansuy. „Die Ergebnisse sind stets gleich. Viele epigenetische Veränderungen der ersten Generation und deren Auswirkungen sind in den folgenden Generationen noch nachweisbar.“
Forschungen ihrer Kollegen ergaben, dass sich bestimmte epigenetische Faktoren sowohl bei traumatisierten Mäusen als auch in Spermazellen traumatisierter Männer nachweisen lassen. Das Team am Züricher Institut untersucht Gruppen von Kindern und Erwachsenen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, auf epigenetische Veränderungen und vergleicht die Ergebnisse mit jenen von Kontrollgruppen, die normal aufgewachsen sind. Die Wissenschaftlerin erzählt mir von den Ergebnissen einer Studie, die sie mit einem Kollegen in Maastricht durchführt. Die Forscher begleiten seit über 20 Jahren niederländische Soldaten, die bei Einsätzen in Afghanistan und während des Golfkriegs im Irak in den 1990er-Jahren traumatisiert wurden:
„Wir haben Blutproben bekommen und konnten bereits nachweisen, dass es ähnliche epigenetische Veränderungen im Blut unserer traumatisierten Mäuse und der Soldaten gibt, die im Krieg waren, wenn man ein junges Männchen in eine traumatische, vielleicht kriegsähnliche Situation versetzt.“
„Was für eine Situation zum Beispiel?“, frage ich nach.
„In unserem Fall ist es unvorhersehbarer Stress. Es ist nicht das Gleiche wie im Krieg, aber es bedeutet sehr großen Stress für die Mäusejungen, wenn wir sie in frühester Kindheit völlig unerwartet von ihrer Mutter trennen. Die Mutter wird während der Trennung auch traumatisiert. Das ist eine Mischung aus emotionalem und körperlichem Trauma. Wir beobachten diese jungen Männchen. Als Erwachsene werden sie depressiv, asozial und haben Probleme mit ihrem Erinnerungsvermögen. Sie gehen höhere Risiken ein, weil sie traumatisiert wurden, und dieses Verhalten wird an ihre Kinder und Enkel weitergegeben.“
Beim sogenannten Schwimmtest zeigt sich, dass Mäuse mit einem vererbten Trauma apathisch reagieren und weniger Anstrengung aufbringen als ihre gesunden Artgenossen, um ihr eigenes Leben zu retten. „Wenn sie die Wahl haben zwischen einer potenziell gefährlichen und einer sicheren Umgebung, entscheiden sie sich für die potenziell gefährliche Umgebung. Sich selbst in Gefahr zu bringen, ist eine typische Eigenschaft von Mäusen, die traumatisiert wurden, und ich vermute, dass dies auch auf uns Menschen zutrifft. Ich hoffe, dass wir in einigen Jahren dazu in der Lage sein werden, Nachweise im Sperma von Trauma-Patienten zu finden.“ Mit ihren Studien betritt die Epigenetikerin unerforschtes Gebiet.
Isabelle Mansuy führt mich in den Keller des Instituts. „Ich zeige Ihnen jetzt einen der wichtigsten Räume meines Lebens“, erklärt sie mir auf dem Weg nach unten. Wir ziehen Schutzkleidung an und betreten ein dunkles Labor. Es raschelt leise und riecht streng nach Tier. Die Professorin senkt ihre Stimme und spricht im Flüsterton.
„Die Mäuse schlafen tagsüber. Für unsere Arbeit ist es wichtig, dass sie ihren biologischen Rhythmus beibehalten.“
Unzählige durchsichtige Plastikkästen stehen ordentlich in Regalen aufgereiht und schimmern im Rotlicht. Beim Anblick der vielen kleinen Nagetiere hinter dem Plexiglas wird mir ganz komisch zumute.
Die Wissenschaftlerin holt eine Box aus dem Regal. Drei kleine Mäuse liegen eng aneinandergekuschelt unter einem kleinen Pappdeckel. Mansuy nimmt eine von ihnen auf die Hand. Die kleine Maus nutzt einen Moment der Unachtsamkeit und springt von der Hand ihrer Erforscherin. Im Nu ist sie hinter dem Regal verschwunden.
„Merde!“, flucht die Französin. Wir gehen in die Knie und schauen unter das Regal. Die Maus ist nicht zu sehen. Plötzlich krabbelt sie auf der anderen Seite des Raumes hervor. Blitzschnell – wie eine Katze – schnappt sich Mansuy die Maus. In Sekundenschnelle verwandelt sie sich von einer seriösen Wissenschaftlerin in eine erfahrene Fängerin. Ich bin beeindruckt.
„Eine Professorin muss auch eine gute Mäusefängerin sein“, lacht Isabelle Mansuy, sichtlich erleichtert, als sie die Maus wieder zu ihren Artgenossen setzt. Es war ein kurzer Ausflug in die Freiheit für das kleine Tier.
Anscheinend sind traumatisierte Mäuse wirklich bereit, ein höheres Risiko einzugehen. Ich frage mich, ob dieses Verhaltensmuster auch auf mich zutrifft. Ich denke an meine abenteuerlichen Reisen nach Weißrussland. Ohne Drehgenehmigung habe ich mit Widerstandskämpfern und Oppositionellen gefilmt – in einem Land, in dem Systemkritiker spurlos verschwinden. Tausend Meter über Minsk bin ich mit einem Fallschirm allein, ohne Tandempartner, aus einem alten sowjetischen Militärflugzeug gesprungen, ohne jemals vorher einen Fallschirmsprung gemacht zu haben. In der Ukraine war ich mehrmals in den Geisterstädten der verlassenen Tschernobyl-Zone und habe mich freiwillig der Gefahr ausgesetzt, verstrahlt zu werden. Bin ich aufgrund der Kriegserlebnisse meiner Großväter bereit, ein höheres Risiko einzugehen, oder ist das völlig aus der Luft gegriffen?
Erhöhtes Risiko: Als Filmstudent mit Kameramann Stefan Kochert vor dem Reaktor in Tschernobyl, 2007
Ich erzähle der Professorin, wie mein Großvater mir in meiner Kindheit vom Krieg erzählt hat und dass ich herausfinden will, ob und wie seine Erfahrungen mein Leben geprägt haben.
„Eine schwierige Frage“, sagt sie, „denn es gibt zwei Aspekte. Zum einen die kulturelle Übertragung. Ihr Großvater hat Ihnen vieles erzählt. Sie haben also von ihm als Junge schlimme Geschichten gehört und sich Ihre eigenen Szenen dazu vorgestellt. Ihre Fantasie war wahrscheinlich sehr gefragt, und das hat ihr Wissen über den Krieg beeinflusst. Es ist möglich, dass ihr Großvater und ihre Familie gelitten haben, was negative Gefühle über den Krieg bei Ihnen hinterlassen hat, die Sie heute vielleicht wütend, ängstlich oder deprimiert machen. Bei einigen Menschen kann dies zu schwerwiegenden geistigen Zuständen führen. Es gibt auch die Möglichkeit der biologischen Übertragung“, fährt die Wissenschaftlerin fort. „Ich vermute, ihr Großvater war jung, als er diesen traumatischen Erfahrungen ausgesetzt war?“, fragt sie mich.
„Er war erst siebzehn, als er nach Russland kam“, antworte ich ihr.
„Dort war er dem Trauma des Krieges ausgesetzt. Sehr wahrscheinlich hat ihn das sehr geängstigt und gestresst, eben traumatisiert. Das hat sich auf seine Keimzellen ausgewirkt und könnte seine Spermien biologisch verändert haben, die noch in der Entwicklung waren. Diese Veränderungen blieben bestehen und wurden an Sie weitergegeben.“
Als die Forscherin mir das sagt, werde ich auf einmal traurig. Ich sehe mich selbst in diesem Labor stehen, sehe die eingesperrten Mäuse in ihren Käfigen, die klinische Atmosphäre. Traumata, die vererbt werden. Was mache ich hier eigentlich? Und was machen wir als Menschen? Wir führen Kriege, traumatisieren uns selbst. Dann erforschen wir an Mäusen, wie ein Trauma übertragen wird, um nachzuweisen, dass wir das tun. Dürfen wir das? Haben wir als Menschen das Recht dazu? Ist es in Ordnung, Mäusen Leid zuzufügen, um mehr über das Trauma von uns Menschen herausfinden?
„Ich verstehe, dass man sich diese Fragen stellen kann“, antwortet mir Isabelle Mansuy. „Dies geschieht jedoch alles nicht ohne Vorschriften und es gibt strenge Regeln und Einschränkungen, die wir befolgen müssen, um Mäuse für die Traumaforschung verwenden zu können. Es ist eine ethische Frage, die sich Forscher oft stellen. Ist es akzeptabel, wenn der Nutzen in Bezug auf neue Erkenntnisse eindeutig positiv ist und zum Verständnis und zur Heilung von Krankheiten beiträgt?“
Ich frage die Forscherin, aus welcher Motivation heraus sie ihre Arbeit macht. Was sie als Wissenschaftlerin, als Mensch antreibt, sich jeden Tag mit der Erforschung von Mäusen auseinanderzusetzen, um herauszufinden, wie Traumaübertragung funktioniert. Welche Verbindung gibt es zu ihrem eigenen Leben?
Isabelle Mansuy erzählt mir von der Geschichte ihrer Familie: Beide Großväter waren Bauern in den Vogesen. Nach der Besatzung durch die deutsche Wehrmacht 1940 wurden sie als Zwangsarbeiter für fünf Jahre nach Deutschland geschickt. Ihre Frauen blieben allein mit den Kindern zurück und mussten ohne ihre Männer überleben. Die deutschen Soldaten quartierten sich auf den Höfen ein und nutzten die Landwirtschaft für ihre eigene Versorgung. „Das muss eine schwierige Zeit gewesen sein“, sagt die Französin und zieht ihre Stirn in Falten. „Ich denke viel über die Konsequenzen nach, die solch ein Trauma hat. Es gibt viele Familien wie meine in Frankreich, die sowohl vom Ersten als auch vom Zweiten Weltkrieg betroffen sind, und wir hatten später ja noch weitere Kriege in Frankreich. Mein Vater ging nach Algerien, als er 19 Jahre alt war. Als Soldat in Algerien muss es ziemlich schrecklich gewesen sein. Das war 1962. Die Folgen davon sind heute noch stark spürbar.“
Ihr Vater war Fallschirmjäger. „Wissen Sie“, sagt Isabelle Mansuy und plötzlich wird ihre Stimme brüchig, „er wurde direkt an die Front geschickt, um Menschen gezielt zu töten.“
Über seine Erlebnisse in Algerien hat ihr Vater nie gesprochen. „Aber wir wissen, dass ihn das sehr mitgenommen hat. Es gibt bestimmte Verhaltensweisen, die auf sein Trauma aus dieser Zeit zurückzuführen sind. Und jetzt mit den Ergebnissen meiner Arbeit frage ich mich selbst – so wie Sie – was das für Auswirkungen auf uns hatte. Wir sind fünf Kinder und wurden alle geboren, nachdem mein Vater aus dem Krieg zurückkam. Hat er uns seine traumatischen Erfahrungen vererbt und wenn ja, was können wir tun?“
Die Frage hallt in mir nach, als wir die Treppen aus dem Keller zurück ins Tageslicht steigen. Was können wir tun, um den Kreislauf der Traumaübertragung zu unterbrechen? Welche Erkenntnisse hat die Wissenschaft zur Heilung vererbter Traumata? Als wir nach unserem Rundgang wieder im Büro sind, spreche ich sie darauf an:
„Gibt es denn auch gute Nachrichten?“
„Ich denke ja“, erklärt mir die Professorin am Beispiel der Mäuse. Mit ihrem Team schafft sie im Laufe der Zeit verbesserte Lebensbedingungen für Mäuse, die bereits in frühester Kindheit traumatisiert wurden. Sie bekommen eine ausgewogene Ernährung, viel sozialen Kontakt zu ihren Artgenossen und Laufräder zum Spielen. Unter diesen Umständen erholen sie sich. Die Mäuse verlieren ihre ängstlichen Verhaltensmuster, und ihr Erinnerungsvermögen kehrt zurück. Sie zeigen keine Spuren ihres früheren depressiven und gestörten Verhaltens. Auch ihr Nachwuchs weist keine Zeichen solcher Traumatisierungen auf. „Es ist so, als ob das Trauma verschwindet.“
Für die Forscherin passt dies zur Vorstellung, dass die epigenetischen Markierungen auf der DNA sich dynamisch verhalten. „Es geht in beide Richtungen“, sagt sie mit Begeisterung in ihrer Stimme: „Die Umgebung beeinflusst den Körper auf positive wie auf negative Weise. Das ist die gute Nachricht. Wir können kontrollieren, wer wir sind und wie gesund wir sein wollen. Es ist nicht einfach gottgegeben, dass wir akzeptieren müssen, was wir sind. Wir können uns selbst erheblich verändern.“
Isabelle Mansuy zieht große Hoffnungen aus ihren Forschungsergebnissen: „In einer schwierigen Situation zu sein und sie zu meistern, kann Menschen widerstandsfähiger machen. Wir nennen das Lebenserfahrung: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker. Natürlich kann es die Gesundheit beeinträchtigen, aber gleichzeitig ist es von Nutzen, wenn man erneut einer schwierigen Situation ausgesetzt ist. Bei einem Trauma ist das schwer zu akzeptieren, weil Trauma immer etwas Negatives ist. Aber wir haben das bei unseren Mäusen getestet und festgestellt: Wenn sie in einer schwierigen Lage sind – sie und ihre Kinder –, verfügen sie über eine viel effizientere Strategie, um diese Situation zu meistern. Die Widerstandsfähigkeit ist also nützlich für sie.“
Aus der Perspektive der Forscherin können wir uns durch eine gesunde Lebensweise in einem intakten sozialen Umfeld, mit ausgewogener Ernährung, unterstützt durch Meditation, Yoga oder Psychotherapie von vererbten seelischen Störungen erholen und zugleich der Bildung von Traumata in der nächsten Generation entgegenwirken. Die wichtige Erkenntnis lautet: Jeder Augenblick in unserem Leben kann unseren Körper und unseren Geist sowohl positiv als auch negativ beeinflussen. Im Grunde ist das keine Neuigkeit. Es macht jedoch deutlich, wie entscheidend bereits unsere heutige Lebensführung für die uns nachfolgenden Generationen ist.
Aus diesem Grund sind Psychopharmaka aus Sicht der Professorin keine Lösung. Sind die Ergebnisse ihres Forschungszweiges auch deshalb so umstritten, weil sie sich den Interessen der Pharmaindustrie widersetzt? In einem Interview für die ZEIT äußert sich die Forscherin dazu: „Ich bin nicht daran interessiert, die Ergebnisse meiner Forschung zu vermarkten“, betont Isabelle Mansuy. Natürlich ist auch sie auf ein Budget für ihre Forschung angewiesen. Aber das Businessdenken in der Wissenschaft ist ihr fremd. „Vielleicht ist das falsch oder altmodisch“, sagt sie. „Ein paar meiner Kollegen sitzen in Aufsichtsräten oder gründen Firmen, ich bin daran nicht interessiert.“ Mir ist ihre Haltung sehr sympathisch, doch wahrscheinlich steht sie damit recht allein da. „In den USA wäre ich einsam, aber nicht hier in der Schweiz. Das ist das Gute an unserem Universitätssystem. Man lässt uns Wissenschaftler noch Wissenschaftler sein. Das schätze ich sehr.“
Isabelle Mansuy findet es bedenklich, dass in diesem Bereich nicht noch mehr geforscht wird. Denn die Folgen eines frühkindlichen oder vererbten Traumas können schwerwiegend sein: Depressionen, bipolare Störungen, Borderline-Verhalten, bis hin zu Suizid. Aufgrund der schädlichen Einflussfaktoren unserer modernen Zivilisation sitzen wir zudem auf einer epigenetischen Zeitbombe, deren Auswirkungen auf unsere Gesundheit und auf unsere Gesellschaft erst unsere Nachkommen spüren werden. Es ist eine große, aber wichtige Frage: Welches Erbe hinterlassen wir unseren Enkeln?
Am Ende unseres Gesprächs nimmt mich die Wissenschaftlerin zur Seite. Es ist ihr wichtig, zu betonen, dass ihre persönliche Familiengeschichte nicht die Motivation für ihre Arbeit ist. „Ich tue nicht, was ich tue, um das Trauma meiner Familie aufzulösen.“ Ein Journalist hatte das in einem Artikel über sie so dargestellt. Daraufhin erhielt sie einen Leserbrief mit den Worten: „Oh, Ihre arme Tochter! Wie schlimm muss es für sie sein, dass sie eine solche Mutter hat, deren Väter und Urgroßväter alle traumatisiert wurden. Wie schrecklich.“
„Aber das ist nicht der Punkt“, sagt Isabelle Mansuy, und ich spüre ihren Unmut.
„Was ist denn der Punkt?“, will ich von ihr wissen.
„Ich will, dass meine Forschung eine Relevanz bekommt. Kriegstrauma ist etwas, das uns alle betrifft. Hier in Europa und auf der ganzen Welt.“
Das Gespräch mit Isabelle Mansuy bringt mich von der Kriegsvergangenheit meiner Großväter in die Gegenwart. Auch wenn uns das in Mitteleuropa oft weit entfernt erscheint: Es gibt so viele Kriege auf der Welt, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die Auswirkungen dieser Krisen und Konflikte zeigen sich bereits deutlich bei uns. Der Umgang mit den Flüchtlingsströmen, die in den letzten Jahren Europa erreicht haben, spaltet unsere Gesellschaften in zwei Lager. Wird das Trauma von Flucht und Vertreibung, das der Zweite Weltkrieg in unserem kollektiven Bewusstsein hinterlassen hat, durch die Zuwanderer wieder reaktiviert? Führt das bei einigen Menschen zu einer uneingeschränkten Befürwortung und wiederum bei anderen zu einer radikalen Ablehnung der Asylsuchenden? Hinzu kommt: Die Einwanderer bringen ihre eigenen unaufgearbeiteten Traumata mit. Wie werden diese vielschichtigen epigenetischen Nachwirkungen unsere zukünftige Gesellschaft beeinflussen? Und wie gehen wir als Einzelne und als Gemeinschaft mit diesen Herausforderungen um?
Nachdenklich verlasse ich das Institut für Neuroepigenetik.