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Kapitel 3: Der unsichtbare Faden
ОглавлениеMit meinen Filmen, die ich in Belarus drehe, habe ich meine ersten Erfolge als Regisseur. Mein Traum, an einer Filmhochschule zu studieren, geht nach vielen Absagen endlich in Erfüllung. Ich bewerbe mich erneut um einen der begehrten Studienplätze und bekomme eine Zusage von der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg.
Auch während meiner Studienzeit lässt mich der Osten nicht los. In meinem dritten Studienjahr drehe ich einen Film in der Ukraine über die Folgen von Tschernobyl. Bei einer gemeinsamen Veranstaltung zum Jahrestag der Katastrophe lerne ich die Autorin Merle Hilbk kennen. Wir sind beide – unabhängig voneinander – in der verstrahlten Zone unterwegs. Wie ich reist auch sie schon seit Jahren nach Osteuropa und findet dort die Stoffe für ihre Reportagen und Bücher. Sie schreibt über den Krieg in Tschetschenien, den Völkermord in Bosnien und die Auswirkungen von Tschernobyl. „Trümmerthemen“ nennt sie ihre Arbeiten und kann sich zunächst auch nicht erklären, warum sie immer wieder Richtung Osten fährt: „Warum ist es ausgerechnet diese russische Geschichte, die mich Westkind wie an einem unsichtbaren Faden durchs Leben zieht?“, fragt sie sich.
Neben unserer Arbeit in Osteuropa stellt sich noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen uns heraus. Auch Merle träumt vom Krieg. Sie erzählt mir von einem wiederkehrenden Traum: „Ein Junge quetscht sich mit seinen Eltern in einen überfüllten Zug. Er rennt über einen Acker und wird verfolgt von einem Tiefflieger. Mit letzter Kraft erreicht er eine Siedlung und trommelt gegen eine Tür. Er schreit, als niemand öffnet, und fühlt, wie sich Angst und Einsamkeit in ihm ausbreiten, als um ihn herum die Bomben einschlagen.“ Dann wird sie wach.
Als Merle ihrem Vater von ihrem Traum erzählt, bricht dieser in Tränen aus – bis dahin hat sie ihn noch nie weinen sehen. Ihr Vater gesteht ihr, dass es sich bei diesem Traum um ein reales Erlebnis aus seiner Kindheit handelt. Wie Merle es geträumt hat, hat sich ihr Vater als kleiner Junge auf der Flucht vor Tieffliegern über ein Feld in einen Hauseingang gerettet. Zum ersten Mal erfährt Merle, was ihr Vater ihr bislang verschwiegen hat, dass er als Kind Flucht und Vertreibung erlebt hat.
„Mein Vater hat mit mir nie über den Krieg geredet. Mir genügte das, was meine Mutter mir gesagt hat: dass ihnen nichts wirklich Schlimmes passiert sei im Krieg.“ Dass ihr Vater aber als kleiner Junge aus Westpreußen fliehen musste und dabei zum Teil auf sich allein gestellt war, ist Merle neu.
Merle sieht ihre Kindheit und Jugend vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen, sieht ihren Vater, ihre Mutter und spürt „die Angst, die Einsamkeit und die Wut, die nicht meine war“. Dutzende kleiner Szenen gehen ihr durch den Kopf: „die seltsamen Seufzer meiner Oma, wenn sie sich unbeobachtet wähnte; der Fernseher, den sie sofort abschaltete, wenn dort etwas über irgendeinen Krieg gesendet wurde. Mein Opa, der mir jeden Wunsch erfüllte, mich aber ‚Susannchen‘ nannte, wie die Tochter, die er im Krieg verloren hatte. Die andere Oma, die weinte, wenn ich ihre Schnitzel nicht essen wollte. Mein stiller westpreußischer Vater, der manchmal wegen Nichtigkeiten in Zorn geraten konnte, meine Mutter aus dem Ruhrgebiet, die wie ein Wasserfall redete, aber eigentlich nie etwas über sich erzählte.“ Ihre Fragen kommen bei ihren Eltern wie ein Vorwurf an. „Der Krieg war eine staubige Akte, die sie in einer Kiste im Keller deponierten und vergessen wollten“, sagt Merle.
Doch auf dem Dachboden ihres Elternhauses wird sie schließlich fündig: Vor ihr liegt ein großer staubiger Koffer voller Erinnerungen des Großvaters. Aus den Feldbriefen, Fotos und Dokumenten erschließt sich, dass ihr Großvater Kriegsschreiber war. Für Merle ist dies eine wichtige Entdeckung: „Nichts anderes mache ich doch auch.“ Sie findet in der Aufgabe des Großvaters eine Verwandtschaft zu ihrem eigenen Leben, ihrem Drang, Geschehnisse und Erlebtes zu dokumentieren. Zum ersten Mal ist sie stolz auf das, was ihr das Leben sonst so mühsam erscheinen lässt, auf den „Versuch, Worte zu finden für das, was hinter den Nebeln verborgen liegt“.
Merle Hilbk empfiehlt mir die Bücher von Sabine Bode. Die Kölner Autorin beschreibt in ihrem 2004 erschienenen Buch „Die vergessene Generation“ erstmals das Leid der zwischen 1930 und 1945 geborenen Deutschen, die als Kinder den Zweiten Weltkrieg miterlebt und darüber in den meisten Fällen geschwiegen haben. Das Buch wird ein Bestseller. Nach der Veröffentlichung erhält Sabine Bode über 500 Dankesbriefe – aber nicht von den Kriegskindern, die Bombenkrieg und Flucht erlebt hatten, sondern von deren im Frieden aufgewachsenen Kindern. Viele von ihnen können ihre verschlossenen Eltern nun besser verstehen und äußern die Bitte: „Warum schreiben sie nicht auch mal ein Buch über uns?“ Zunächst weiß Bode nicht, wie sie das, was die Kinder der Kriegskinder belastet, beschreiben soll: „Das Aufwachsen in einem Vakuum.“
Im Jahr 2007 hilft Bode einigen Kriegsenkeln, ein Seminar mit dem Titel „Was die Eltern weitergaben“ zu organisieren. Nach dem Treffen beschließen die Teilnehmer, sich als Gruppe weiter zu treffen. Es entstehen zahlreiche Gruppen, deren Mitglieder sich untereinander vernetzen, per Facebook und über ein „Forum Kriegsenkel“. Sie gründen den Verein „Kriegsenkel e. V.“ mit bundesweit über ein Dutzend Gesprächsgruppen. 2009 erscheint Sabine Bodes Buch „Kriegsenkel – Die Erben der vergessenen Generation“. Ebenfalls mit großer Resonanz.
Ich lese das Buch und habe viele Fragen. Schon bald taucht eine Gelegenheit auf, um mit Sabine Bode in Kontakt zu kommen. In einer Buchhandlung in der Nähe von Freiburg gibt sie ein Seminar für Kriegsenkel. Im Anschluss nimmt sie sich Zeit für mich. Spätabends setzen wir uns in die leere Buchhandlung. Die Autorin berichtet mir von den vielen Gesprächen, die sie mit den Kindern der Kriegskinder geführt hat. Seit beinahe zwanzig Jahren beschäftigt sie sich mit den Spätfolgen des Krieges und gehört zu den Pionierinnen, die ein bislang tabuisiertes Thema in die Mitte der Gesellschaft gebracht haben. Lange konnte sie sich nicht vorstellen, darüber zu schreiben, weil sie Schwierigkeiten hatte, die Probleme dieser Generation zu verstehen: „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das so belastend für die Kinder sein sollte“, sagt Sabine Bode zu mir. „Also, mal ehrlich, mein erster Gedanke war: Stellt euch nicht so an. Was habt ihr schon Schlimmes erlebt?“
Als Autorin war es für sie leichter, Worte zu finden für das Drama der Kriegskinder: Das Elend des Krieges, der Horror der Bombenangriffe, die Erlebnisse der Flucht. Doch die Spuren, die der Krieg bei den Kriegsenkeln hinterlassen hat, sind filigraner und schwerer zu fassen als das, was deren Eltern als Kinder im Krieg durchgemacht haben.
„Da muss man viel von der Biografie, von der Familienkonstellation, vom Familienklima und natürlich vom historischen Hintergrund wissen“, sagt Bode und setzt hinzu:
„Das Neue ist, dass hier eine große Gruppe von Menschen in ihrer Kindheit Verheerendes durchgemacht hat, aber in der absoluten Mehrheit überhaupt nicht das Gefühl hatte, etwas besonders Schlimmes erlebt zu haben. Das war für sie normal und sie haben es nicht revidiert im Erwachsenenalter.“
Es ist Sabine Bode wichtig zu betonen, dass diese Kriegsfolgen nicht die gesamte Generation betreffen. Die Forschung geht davon aus, dass sich etwa ein Drittel der Kriegskinderjahrgänge nicht von ihren frühen Schrecken und Verlusten erholt hat und noch heute unter ihren Beeinträchtigungen leidet. „Die meisten wissen allerdings nicht, dass es Spätfolgen sind, was sich bei ihnen psychosomatisch zeigt“, sagt Bode. „Wenn die Eltern der Meinung waren, sie hätten nichts besonders Schlimmes erlebt, wie um Gottes willen sollten dann deren Kinder auf die Idee kommen, dass ihre Eltern etwas aus dem Krieg mit sich herumschleppen. Das ist ausgeschlossen, das geht nicht“, sagt Sabine Bode nachdrücklich. So funktioniert Familie.
Aus Sicht der Autorin sind es zwei Generationen, die auf völlig unterschiedlichen Planeten leben: Die Kriegskinder und deren Kinder, die Kriegsenkel. Ich frage sie nach den Merkmalen der Kriegsenkel. Was sind die filigranen Spuren, die der Krieg bei ihnen hinterlassen hat? „Viele Kriegsenkel zeigen unerklärliche Ängste, die man nicht auflösen kann. Sie berichten häufig, dass sie als Kinder und Jugendliche wiederkehrende Alpträume vom Krieg hatten. Sie berichten von Elternhäusern, die eher unterkühlt waren und leistungsbetont. Sie sind nicht wirklich abgenabelt von ihren Eltern. Sie sind von frühester Kindheit an, schon im Säuglingsalter, geprägt worden auf den Glaubenssatz: ‚Ich bin dafür da, dass es meinen Eltern gutgeht‘. Und sie haben oft das Gefühl, ihre Potenziale nicht auszuschöpfen.“
Mit dieser Aussage erwischt mich Sabine Bode. Spätestens jetzt fühle ich mich mit meinen Kriegsträumen, meinen diffusen Ängsten und meinem Gefühl von Heimatlosigkeit nicht mehr ganz so allein. Ich habe den Eindruck, dass ich manchmal noch auf der Handbremse stehe. Dass ich das, was an Kreativität und Talent in mir schlummert, nicht voll zum Ausdruck bringen kann. Gibt es etwas in mir, das mich aus Angst vor Ablehnung zurückhält, ganz ich zu sein?
Ich erzähle Sabine Bode von meiner Kindheit, vom Aufwachsen mit meinem kriegsversehrten Großvater. Sie findet es naheliegend, dass mich diese frühkindliche Beziehung maßgeblich geprägt hat. Dadurch, dass ich bereits als Säugling so viel Zeit mit ihm verbracht habe, hat er ja die Rolle eines Elternteils übernommen. Sie sagt:
„Kleine Kinder sind äußerst feinfühlig, und sie spüren ganz genau, ob es ihren Eltern gutgeht oder nicht. Auch wenn Eltern sagen, es ginge ihnen gut, merken die kleinen Kinder am Tonfall und an der Körpersprache, ob es stimmt. Um zu überleben, brauchen Kinder starke Eltern. Sie spüren, wenn Eltern das nicht sind, und übernehmen unbewusst diese Aufgabe: Ich bin dafür da, dass meine Eltern glücklich sind, dass es denen gutgeht. Denn nur dann, wenn es ihnen gutgeht, können sie mich ernähren. Das ist reine Biologie.“
Bode spricht von einer „unguten Fürsorge“, die Kinder für ihre Eltern übernehmen. Psychologen bezeichnen dieses Phänomen als ‚Parentifizierung‘: Wenn Kinder in die Rolle der Eltern schlüpfen. Habe ich etwa bei meinem Großvater diese Rolle übernommen? Es gibt ein markantes Bild von uns beiden. Opa Fritz sitzt zusammengesunken auf dem Sofa. Ich stehe als Dreijähriger vor ihm und habe ein Stethoskop in der Hand, um ihn zu untersuchen. Es ist nur ein Spiel. Doch was drückt dieses Foto über unsere Beziehung aus?
Als Kind war ich der Sonnenschein in unserer Familie. Ich war das Wunschkind, das alle glücklich gemacht hat. Meine Mutter, meinen Vater, meinen Großvater und meine Großmutter. Alle liebten mich, vor allem natürlich dann, wenn ich das liebe Kind, eben der Sonnenschein, war. Auf diesem Weg bekam ich viel Aufmerksamkeit und Zuwendung. Was ja an sich etwas Schönes ist. Doch daraus hat sich bei mir ein Muster entwickelt, das sich bis heute erhalten hat: Der Wunsch nach Anerkennung ist so stark in mir ausgeprägt, dass ich mich aus Angst vor einer möglichen Ablehnung eher brav und angepasst verhalte. Das war schon in der Schule so. Rebellion und wütendes Aufbegehren sind mir fremd. Ist das ein Relikt meiner frühen Kindheit? Oder bilde ich mir das ein?
Sabine Bode verneint entschieden: „Das sind keine Einbildungen – das habe ich eben am Anfang auch gedacht – das sind wirkliche Blockaden. Wenn Menschen sich dieser Hintergründe bewusstwerden und einen anderen Blick auf die Eltern entwickeln, dann fühlen sie sich ja auch entlastet. Dann sagen sie auch, dass diese Ängste gar nicht in mein Leben gehören, sondern in das Leben meiner Eltern. Sie können sich dann eher von ihren Ängsten verabschieden und machen meistens einen Schub. Dann können sie das nutzen, was sie vorher schon an Möglichkeiten, sich zu entwickeln, angesammelt haben. Es lag rum, es lag brach. Und wenn sich die Blockaden lösen, dann beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Das habe ich eigentlich immer festgestellt.“
Das gibt Grund zur Hoffnung. Zu den 14 Menschen, deren Schicksale Bode in ihrem Kriegsenkel-Buch vorstellt, hat sie heute noch Kontakt. Nach der Auseinandersetzung mit diesem in ihrem Leben so wichtigen Thema haben sich signifikante Veränderungen in ihrer Biografie eingestellt: „Sie haben Lebenspartner gefunden, teilweise Kinder gekriegt, gute Jobs bekommen, sich mit den Eltern ausgesöhnt oder einen Umgang gefunden, der für sie gut ist. Meistens heißt das: ein bisschen mehr Abstand, um sich nicht so sehr gegenseitig auf die Nerven zu gehen.“
In der Buchhandlung mit Sabine Bode, Kirchzarten
Es ist spät geworden. Ich schalte die Kamera aus. Mit Sybille, der freundlichen Buchhändlerin, sitzen wir noch bis Mitternacht bei einem Glas Wein zwischen Tausenden von Büchern. Ich erzähle Sabine Bode von meinen Zweifeln – davon, dass ich mich manchmal frage, ob ich überhaupt etwas herausfinden werde über meinen Großvater und das, was damals passiert ist. Sie macht mir Mut: „Dass du dich schon seit Jahren damit beschäftigst, deutet daraufhin, dass da auch etwas ist.“
Ich erzähle ihr von meinen Problemen, eine Finanzierung zu bekommen für meinen geplanten Dokumentarfilm. Vielen Menschen bereitet der Stoff Schwierigkeiten. Vom Krieg zu erzählen ist leicht nachvollziehbar, aber etwas über die Spätfolgen des Krieges in der dritten Generation zu drehen – das erscheint manchen Verantwortlichen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen doch etwas weit hergeholt. Das Interesse ist zwar spürbar. Trotzdem erhalte ich eine Absage nach der anderen. Für den WDR ist das Thema „zu rückwärtsgewandt“, die Filmförderung findet meinen Ansatz „zu persönlich“, der SWR meint, es könne noch viel persönlicher sein. In der Redaktionssitzung beim ZDF heißt es, der Stoff sei „esoterisch angehaucht“. Die Übertragung von Kriegstraumata von einer in die andere Generation sei nur behauptet und längst nicht nachgewiesen. Christian Cloos, ein engagierter ZDF-Redakteur bei „Das kleine Fernsehspiel“, setzt sich stark für mein Thema ein, und ich bekomme die Chance, mein Drehbuch ein weiteres Mal einzureichen. Die Auflage der Redaktion ist eine erneute Recherche und eine wissenschaftlich fundierte Untermauerung meiner These.
Ich reise nach Zürich, wo sich spannende Kontakte ergeben.