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Kapitel 2: Was hat das mit mir zu tun?

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Mit dem Tod meines Großvaters verschwindet zunächst auch der Krieg aus meinem Leben. Auf dem Fußballfeld vermisse ich Opa Fritz. Ich erinnere mich daran, wie er seinen Stock schwenkte und mir zurief: „Basti vor, noch ein Tor!“ Manchmal komme ich mitten im Spiel ins Träumen und vergesse alles um mich herum. Dann stehe ich völlig gedankenverloren auf dem Rasen, bis mich ein Mitspieler oder der Trainer in die Wirklichkeit zurückruft.

Mein Vater ist zwar längst nicht so fußballbegeistert, wie mein Opa es war, doch gemeinsam liefern wir uns spannende Spiele, unten auf dem Rasen im Garten und oben in meinem Zimmer am Tischkicker. Als Geschäftsmann ist er viel unterwegs. Deshalb genieße ich es, Zeit mit meinem Vater zu verbringen. Mit ihm kann ich gut lachen.


Hans Heinzel als Soldat der Luftwaffe, undatiert

Am Wochenende fahren wir manchmal gemeinsam nach Dörnhagen zu den Eltern meines Vaters, in der Nähe von Kassel. Opa Hans und Oma Gretl wohnen mit der Familie meiner Tante Gudrun in der Friedenstraße. Das Haus hat mein Großvater selbst gebaut. Ich besuche ihn gerne in seiner Werkstatt. Bevor er in Rente ging, war Opa Hans Schreinermeister. Mich beeindruckt besonders, dass er an einer Hand nur noch vier Finger hat.

Opa Hans war auch im Krieg. Doch von ihm erfahre ich gar nichts über seine Zeit als Soldat. In der Familie meines Vaters wird über diese Zeit geschwiegen. Das wird mir allerdings erst später klar.

Als Jugendlicher will ich vom Dritten Reich und dieser Zeit nichts mehr hören, weil wir im Geschichtsunterricht und im Fernsehen mit der Schuld der Deutschen, mit unserer Schuld regelrecht bombardiert werden. Was hat das mit mir zu tun? – frage ich mich. Warum soll ich mich schuldig fühlen für etwas, das ich gar nicht selbst getan habe?

Ich beginne, mich für andere Dinge zu interessieren. Das Fußballspielen hänge ich bald an den Nagel. Ich entdecke die Mädchen und die Musik. Ab jetzt höre ich amerikanischen Hip-Hop und laufe in schlabbrigen Baggy Jeans durch unser Dorf. Nichts ist cooler, als mit meinen älteren Freunden im Auto durch „unseren Hood“ zu cruisen und einen Joint nach dem anderen zu rauchen. Wir rappen auf Englisch und gründen eine Band mit den langhaarigen Musikern aus dem Ort. Wir proben in einem Kellerraum, der genau unter dem Kindergarten in der Mitte des Dorfes neben einer öffentlichen Toilette untergebracht ist. Es ist absurd. Dort, wo ich meine ersten Jahre als Kind verbracht habe, sitze ich nun mit den anderen in einem dunklen, völlig versifften „Ü-Raum“ im Kreis. Wir sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen und für eine Weile scheint es sogar, als ob wir erfolgreich werden. Bei einem Nachwuchswettbewerb gewinnen wir den ersten Platz und treten auf einem Festival vor über tausend Zuschauern auf. Doch schon wenige Zeit später zerfällt die Band. Der Schlagzeuger entwickelt schizophrene Züge, der Trompeter kommt unter ungeklärten Umständen in seinem Badezimmer ums Leben und unser Bassist landet im Gefängnis, weil er beim Handeln mit Hasch erwischt wird. Ohne es zu merken, habe ich mich in eine andere Welt geflüchtet. Doch irgendwie gelingt es mir, die Kurve zu kriegen. Als ich siebzehn bin, entscheide ich mich selbst für einen anderen Weg.

Meine Eltern bekommen von alldem nur wenig mit. Meine Mutter macht eine Ausbildung zur Gesundheitsberaterin und eröffnet den ersten Bioladen in unserem Dorf. Mein Vater macht Karriere in der Elektrowerkzeugindustrie und steigt zum Verkaufsleiter auf. Er verbringt viel Zeit in der Firma und auf der Autobahn. Der innige Kontakt, den ich als Kind zu ihm hatte, wird – wie das oft ist – brüchiger. Die Tore, die wir gemeinsam im Garten gebaut haben, verwittern zwischen den Brennnesseln.


Unsere Band, 1993: Ich bin der Jüngste in der Mitte.

Nach dem Abitur muss ich zur Musterung. Soldat zu sein, ist für mich unvorstellbar. Ich verweigere den Wehrdienst und gebe an, dass ich aufgrund der Geschichte meines Großvaters nicht in der Lage bin, jemals eine Waffe in die Hand zu nehmen.

Über einen Freund erfahre ich von der Möglichkeit, meinen Zivildienst im Ausland zu leisten. Die Idee begeistert mich und ich bewerbe mich auf unterschiedliche Stellen in Neuseeland und in den Vereinigten Staaten. Bald bekomme ich die Zusage einer anthroposophischen Gemeinschaft in Pennsylvania. Auch wenn es mir schwerfällt mein vertrautes Umfeld zu verlassen, zieht es mich in die Ferne. Als mich meine Eltern und meine Schwester zum Flughafen bringen, ist mir nicht klar, dass auch ich nicht mehr in mein Elternhaus zurückkehren werde.

Mitten in den Wäldern von Pennsylvania lebe ich für über ein Jahr mit geistig behinderten Kindern und Jugendlichen in Hausgemeinschaften zusammen. Es ist eine extreme Herausforderung für mich, rund um die Uhr Verantwortung für andere, äußerst hilfsbedürftige Menschen zu tragen. Was mir hilft, ist die Freundschaft mit den anderen Freiwilligen, die aus der ganzen Welt hierher kommen und die Begegnung mit den „special children“, wie die jungen Menschen mit Behinderung hier genannt werden. Ihre Eigenartigkeit berührt mich. In ihren Gesichtern finde ich die ersten Motive für meine neu entdeckte Leidenschaft – das Fotografieren. Ich übernehme die Aufgabe, einmal im Monat das Community-Magazin herauszubringen. Hier kann ich meine ersten Bilder und Geschichten veröffentlichen.

Am Telefon erfahre ich von meinen Eltern, dass sie umziehen wollen. Mein Vater hat ein Stellenangebot in der Nähe von Stuttgart bekommen. Für meine Mutter ist es die Gelegenheit, ihr Elternhaus nach über 40 Jahren zu verlassen. Als ich nach fünfzehn Monaten nach Deutschland zurückkehre, wohnen meine Eltern bereits im Schwabenland. Sie haben mir ein Zimmer in ihrer neuen Mietwohnung eingerichtet, doch hier hält es mich nicht lange. Ich ziehe nach Köln. Über Chris, einen Freund aus unserer ehemaligen Band, bekomme ich die Chance, ein Praktikum beim Musikfernsehen zu machen. Weil ich durch meine Zeit in den USA mittlerweile gut Englisch spreche, darf ich Interviews mit den deutschen und amerikanischen Hip-Hop-Stars führen, die ich schon als Jugendlicher verehrt habe. Es ist eine aufregende Zeit. Ich drehe mit den Black Eyed Peas, Dr. Dre und den Absoluten Beginnern. Nach meiner Zeit bei VIVA studiere ich Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften. Doch das Theoretische ist mir zu trocken. Mit Freunden fange ich an, eigene Filme zu drehen. Auf Video und auf Super-8. In meinem ersten Kurzfilm gibt es eine Szene mit einem Banküberfall. Völlig naiv drehen wir an einem Sonntag ohne Genehmigung im Außenbereich einer Bank in der Kölner Südstadt. Chris stürmt mit Strumpfmaske und Spielwaffe aus dem EC-Bereich, ich filme ihn dabei. Kurze Zeit später tippt mir ein Zivilbeamter auf die Schulter und teilt mir eindringlich mit, dass der gesamte Chlodwigplatz von Polizisten umstellt ist. Es gab besorgte Anrufe von Anwohnern. Ich habe Riesenglück, dass ich den Einsatz nicht bezahlen muss.

Kurz nach der Jahrtausendwende breche ich mein Studium ab und gehe nach Berlin. Im „creative village“, einer Praktikumsinitiative mehrerer Unternehmen, mache ich Bekanntschaft mit Maxim, einem jungen Weißrussen. Wir sind eine Gruppe junger Kreativer und keiner von uns weiß irgendetwas über dieses Land. Maxim überzeugt uns, für eine Woche mit ihm nach Weißrussland zu reisen, in die Republik Belarus, wie das Land in der amtlichen Landesprache heißt. Ich bin 23 Jahre alt, und es ist meine erste Reise in den Osten. Für mich geht ein Fenster auf, das bislang verschlossen war. Meine Eltern sind oft mit uns verreist. Wir haben Urlaube in der Provence oder in der Toskana verbracht. Nun in diese Richtung zu reisen, ist für mich ein Abenteuer: Polen, Belarus, die Ukraine und das unendlich weite Russland sind für mich unentdeckte Gebiete: Neuland für einen anstrebenden Regisseur auf der Suche nach Geschichten für seine Filme. So kommt es, dass es nicht bei einer Reise nach Belarus bleibt. Die Filmaufnahmen, die ich von dort mitbringe, wecken das Interesse eines Berliner Produzenten, und er fragt mich, ob ich einen längeren Dokumentarfilm über die junge weißrussische Generation drehen will. Meine Arbeit ist unbezahlt, aber ich ergreife die Chance und werde zum Dauergast in der Weißrussischen Botschaft in Berlin, um Visa für meine zahlreichen Aufenthalte im Ausland zu beantragen. Ich verbringe Wochen und Monate damit, junge Leute meines Alters in ihrem Alltag dort zu begleiten und sie zu fragen, wie frei sie sich wirklich fühlen in einem Land, das bei uns im Westen oft die „letzte Diktatur Europas“ genannt wird.

Bei einem dieser Drehs lerne ich Igor kennen, einen jungen Mann, der gar nichts davon hält, dass man sein Land als Diktatur bezeichnet. Auch von den Widerstandskämpfern, mit denen ich drehe und die die Mauern in Minsk mit Graffiti bemalen und beschreiben, ist er nicht begeistert. Er nimmt mich mit aufs Land, um mir zu zeigen, wie das wirkliche weißrussische Leben aussieht. Er geht mit mir Enten jagen und Wodka trinken. Bei einem dieser Ausflüge stellt er mir seine Großmutter vor. Babuschka Vera lebt in einem kleinen Dorf, in dem es fast keine Männer mehr gibt, sondern nur noch alte Frauen. Die Ironie daran ist, dass die Frauen indirekt für das Verschwinden ihrer Ehemänner mitverantwortlich sind. Sie brauen einen Selbstgebrannten, dem die Männer hoffnungslos verfallen sind.

Schon als Kind wusste Vera, wie man Schnaps brennt, und sie erzählt mir eine Anekdote aus Kriegszeiten: Als kleines Mädchen rettete sie ihr Dorf vor den deutschen Soldaten. Alle Bewohner waren in den Wald geflüchtet, aus Angst davor, erschossen zu werden. Nur die kleine Vera war noch zu Hause und brannte den berüchtigten „Samagon“ (Selbstgebrannter). Sie bot den Eindringlingen von ihrem Schnaps an, und im Gegenzug verschonten die Deutschen ihr Dorf. Ihre Geschichte berührt mich so, dass ich einen kurzen Film über Babuschka Vera mache, der rund um die Welt geht und einige Preise gewinnt. So wie ich selbst, sind auch viele Zuschauer berührt von der Einfachheit des Lebens in der weißrussischen Provinz und von der charismatischen Ausstrahlung der Menschen dort.

Ich bekomme weitere Anfragen, Projekte in Belarus zu drehen. An der Volkshochschule in Berlin belege ich einen Russischkurs und lerne, Kyrillisch zu lesen. Und doch ist es keine einfache Beziehung, die ich zu dem Leben im Osten habe. Belarus ist ein Land voller Kontraste. In den Geschäften und auf der Straße sind die Menschen oft unfreundlich und abweisend. Die Weißrussen, die ich persönlich kennenlerne, sind meist herzlich und aufgeschlossen. Sie laden mich nach Hause ein, bieten mir Tee an und nehmen mich gleich in ihre Familie auf. Das Leben in der Hauptstadt Minsk ist wild und unberechenbar. Termine, die man heute macht, sind morgen schon vergessen. Viele verdienen ihr Geld mit schlecht bezahlten Jobs oder gehen auf den Markt, um Glühbirnen zu verkaufen. Auf dem Land ist es anders, bodenständiger und beschaulicher. In manchen Orten kommt das Wasser noch aus dem Brunnen, und die Menschen versorgen sich selbst. In den kleinen Dörfern mit den sandigen Straßen fühle mich in eine andere Zeit versetzt. Mir gefällt dieses einfache Leben und die Zeiten, die ich mit den Bewohnern in ihren kleinen bunten Holzhäusern verbringe, gehören jetzt schon zu den unvergesslichen Momenten meines Lebens.

Es gibt auch eine Schattenseite. Das verbreitete Klischee, dass im Osten viel Wodka getrunken wird, ist nicht aus der Luft gegriffen. Überall, wo ich hinkomme, wird gerne und viel getrunken. Und als Gast fühle ich mich oft verpflichtet, mitzuhalten. Das ist mehr als gewöhnungsbedürftig. Der maßlose Alkoholkonsum, auf den ich hier bei vielen Menschen treffe, stößt mich ab. Auf meinen Reisen gibt es immer häufiger Situationen, in denen ich mich frage, was ich eigentlich in diesem fremden Land suche.

Im Sommer 2013 begleite ich eine Gruppe deutscher Jugendlicher mit der Kamera in die weißrussische Provinz. Im Rahmen eines Hilfsprojekts verbringen sie ihre Ferien damit, die Häuser älterer Menschen auf dem Land zu renovieren. Es sind alte Frauen und Männer, die den Zweiten und manchmal sogar noch den Ersten Weltkrieg selbst erlebt haben. Nun stehen wieder Deutsche vor ihrer Tür, diesmal mit guten Absichten. Es sind besondere Begegnungen, die viel in mir aufwühlen. Da ist ein alter, kränkelnder Mann, der uns unter Tränen erzählt, dass ihn der Dienst in der Roten Armee seine ganze Jugend gekostet hat. Und da ist die resolute Katja, eine 90-jährige Frau, die allein in einem verlassenen Dorf lebt, sich noch selbst versorgt und uns lachend erzählt, wie sie mit den deutschen Offizieren im Krieg getanzt habe. Was damals noch so alles passiert ist, lässt sie aus. Nachdem die Jugendlichen unter ihren genauen Anweisungen ihr Haus gestrichen haben, bekommen sie Rühreier mit Speck und dürfen an ihrem Wodka nippen. Nirgends in der Provinz bekommen wir Vorwürfe zu hören. Mich wundert das.

Während der Dreharbeiten taucht ein starkes inneres Bild in mir auf. Eines Morgens, als ich meine Kamera für den Dreh richte, sehe ich mich vor meinem inneren Auge selbst als Soldat, der sein Gewehr zusammensetzt und sich bereit macht, in den Kampf zu ziehen. Als ich an diesem Tag mein Objektiv auf die Menschen richte, die wir teilweise ganz spontan in ihren Häusern besuchen, komme ich mir wie ein Eindringling vor. Wie wir mit unserer großen Reisegruppe und dem Filmteam bei den Menschen eintreffen, wirkt auf mich wie eine erneute Invasion. Und das, obwohl wir mit guten Absichten hier sind.

Auf dieser Reise denke ich oft an meine Großväter, und plötzlich taucht die Frage in mir auf, ob sie wohl auch hier waren, in diesem Land. Ist das der Grund, warum es mich immer wieder hier hinzieht?

Der Krieg in mir - Das Buch zum Film

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