Читать книгу Heidelberger auf der Flucht - Sebastian Klusak - Страница 10
ОглавлениеObere Neckarstraße 9:
Barbara Sevin
Wie war die Stimmung im sogenannten Dritten Reich aus? Bei der Beantwortung dieser Frage muss man klar zwischen der Zeit 1933 bis 1940 und 1940 bis 1945 unterscheiden. Nach der sogenannten Machtübernahme waren viele Menschen zunächst froh, dass die ständigen Demonstrationen und Straßenschlachten, die die Weimarer Republik geprägt hatten, aufhörten. Deutschland schien eine stabile Regierung zu haben, und das freute viele Bürger. Sie akzeptierten, dass nach und nach alle politischen Parteien verboten, Rundfunk und Presse gleichgeschaltet, Kommunisten und Sozialdemokraten in Arbeitslager gesteckt wurden etc., da es wirtschaftlich aufwärts zu gehen schien.
Die Arbeitslosigkeit sank, und zwar aus mehreren Gründen: Es gab ein staatlich finanziertes Beschäftigungsprogramm in der Landwirtschaft, im Straßenbau und Wohnungsbau. Einige Branchen (Landarbeiter, Fischereiarbeiter, Forstarbeiter, Dienstboten) wurden aus der Arbeitslosenversicherung herausgenommen; ein zusätzlicher Effekt wurde erzielt, indem Frauenarbeit verpönt wurde. Außerdem wurden 1935 die Wehrpflicht und der zwangsverpflichtende Reichsarbeitsdienst für junge Menschen eingeführt. Allerdings merkten die Leute, dass man nicht mehr offen seine Meinung sagen konnte. Immer mehr Menschen wurden zeitweise verhaftet oder verschwanden in den Lagern. Gewerkschaften, Arbeitnehmerorganisationen, Künstlervereinigungen, Sportvereine wurden durch NS-Organisationen ersetzt. Etwa ein Drittel der Hochschulangehörigen, städtischen und staatlichen Bediensteten wurden aus dem Dienst entfernt, weil sie Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten, Zeugen Jehovas, regierungstreue Kirchenbedienstete o. Ä. waren. Das merkten die Leute schon. Trotzdem herrscht noch großer Jubel, als 1939 Polen und die Tschechoslowakei erobert und 1940 der „Erzfeind“ Frankreich besiegt wurde. Hinzu kam, dass die meisten Deutschen dazu erzogen waren, Befehlen zu gehorchen, auch wenn sie sie selbst nicht einsahen. Als Hitler 1940 aber die Sowjetunion angriff, 1941 die USA Deutschland den Krieg erklärte, deutsche Städte fast täglich bombardiert wurden, die Zeitungen voll von Todesanzeigen der Bombenopfer und gefallener Soldaten waren und es immer weniger Essen zu kaufen gab, drehte sich die Stimmung. Dann war es aber zu spät.
In dem auf diesem Foto abgebildeten Haus in der Oberen Neckarstraße 9 wohnte 1933 die Studentin Barbara Sevin. Ihr Vater war 1921 an den Folgen einer Kriegsverletzung gestorben, und sie lebte mit ihren beiden Geschwistern bei ihrer Mutter in Berlin, bevor sie zum Studium nach Heidelberg kam. Dort wohnte sie zunächst bei ihrer Tante und ihrem Onkel. Ihre Mutter konnte ihr kein Geld für den Lebensunterhalt zahlen, aber Barbara Sevin gab schon früh Nachhilfe und bekam ein Stipendium. Sie pflegte in Heidelberg engen Kontakt mit Professoren, die ihre Ablehnung gegen das NS-Regime äußerten und spottete öffentlich über den Nationalsozialismus. Nachdem sie den Hitlergruß verweigerte, zwang sie ihre Tante, auszuziehen, weil sie in ihr eine Gefahr für sich sah. Deshalb zog sie in dieses Haus, wo sie bei einer pensionierten Lehrerin wohnte. Während ihres Studiums nahm Barbara Sevin an einem Lager des Reichsarbeitsdienstes teil. Das waren offiziell freiwillige, meist 10-wöchige Arbeitseinsätze junger Menschen zwischen 18 und 25 Jahren. Lager waren nach Ansicht der Nationalsozialisten besonders gut dafür geeignet, den Charakter junger Menschen in ihrem Sinn zu „formen“. Dadurch, dass die meisten Lager in ländlichen Gebieten waren, wurde außerdem die vom Nationalsozialismus propagierte Einheit zwischen „Blut und Boden“, also der sogenannten „germanischen Rasse“ und ihrem Siedlungsgebiet, gestärkt. In ihren Lebenserinnerungen schreibt Barbara Sevin über ihre Zeit in einem Lager des Reichsarbeitsdiensts in Neckarbischofsheim:
„Man kann sich als Außenstehende wohl kaum vorstellen, welch eine byzantinische Unterwürfigkeit herrschte. Das Wort der Führerin (des Lagers, ergänzt vom Verf.) war alles, der Mensch war ein Staub, ein Nichts (…) Jeder versuchte, der Führerin alle ihre Wünsche und Gedanken abzulesen, um ja einen guten Eindruck zu machen. Nur Arbeitsdienst, nur Körper, nur Volksgemeinschaft galt. Während dieser ganzen Zeit wurde das Wort Geist nicht erwähnt.“
Und:
„Lange Tafeln standen parallel zu den Wänden, also im Viereck. Ich hatte gleich im Anfang das Essen wegzutragen und kam deshalb etwas später hinzu. Gleich bei der Tür saßen Ruth Pagel (die Leiterin des Lagers, ergänzt vom Verf.) und ihre Clique. Sie führte die Unterhaltung, anscheinend leicht und liebenswürdig, auf persönliche Verhältnisse und Gedanken eingehend. Eine von ihrem Stabe, fiel mir auf, hatte den Kopf gesenkt. Es fiel mir auf, weil die ,Führerinnen‘ ihn im Allgemeinen stolz erhaben tragen. Oder fürchtete sie sich vor Ruth? Ich schaute genauer hin, wie es mich interessierte und bemerkte zuerst, dass sie unter dem Tisch etwas auf dem Schosse hielt und dann sah ich zu meinem restlosen Entsetzen, dass sie mitschrieb. Da lotste also Ruth die Mädchen bewusst aufs Glatteis, unter hinterher setzte sie sich mit den anderen Nazis hin und hechelte diese harmlosen Aussagen ,vom gemütlichen Beisammensein‘ aus. Natürlich tat ich alles zur Verbreitung dieser Tatsache.“48
In ihrem letzten Studienjahr wechselte Barbara Levin nach München. Dort fertigte sie oppositionelle Flugblätter an. Dies brachte sie in Gefahr. Deshalb floh sie 1935 nach England und von dort in die USA. Das folgende Bild zeigt Angehörige des Reichsarbeitsdienstes 1936 beim Straßenbau.49
48 Schutz-Sevin, B. (1940). Nacht über Heidelberg. Unveröffentlichter Text aus dem Privatarchiv von Norbert Giovannini. In Heidelberger Lupe (Hrsg.) (2018), Spurensuche – Heidelberg im Nationalsozialismus (S. 61–64) Abgerufen am 15.07.2020 von https://heidelbergerlupe.wordpress.com/materialheft
49 Bild: Bundesarchiv (Nr. B 145 Bild-P022073 Frankl, A.) Gemeinfrei, CC-BY-SA 3.0 (Wikipedia)