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Marktplatz, Rathaus:

Rolf Magener

Im rückwärtigen Teil des Erdgeschosses des Rathauses befindet sich die Statue „Der Heimkehrer“. Sie wurde von Georg Kretz, einem Heidelberger Bildhauer und Musiker, der 1948 aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Heidelberg heimgekehrt war, erschaffen.10 Das Kunstwerk stammt aus dem Jahr 1952.11 Es erinnert an die über 11 Millionen deutschen Kriegsgefangenen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in mehreren Ländern der Welt in Lagern interniert waren. An diese Menschen erinnert auch die oft übersehene, nachfolgend ebenfalls abgebildete12 Gedenktafel an der Ostwand der Providenzkirche in der Hauptstraße. Von diesen Gefangenen starben über 1,2 Millionen während der Gefangenschaft.13 Ihre Behandlung war sehr unterschiedlich. In vielen Lagern in Russland dominierten Hunger, schwerste körperliche Arbeit, mangelnde medizinische Versorgung und Gewalt, während es in den Lagern in England und USA eine bessere Versorgung mit Nahrungsmitteln herrschte und Ärzte, weniger Gewalt sowie leichtere Arbeit gab. Viele Gefangene versuchten, aus den Lagern zu fliehen. Einer von ihnen war Rolf Magener. Seine Geschichte ist kaum bekannt.



Rolf Magener

Rolf Magener wurde 1910 in Odessa geboren. In dieser damals russischen Stadt gab es eine große deutsche Bevölkerungsgruppe. Sein Vater Adolf Magener war ein deutscher Kaufmann, dem u. a. das berühmte Hotel Metropol gehörte. Seine Mutter war eine Russin. Um die Gesundheit der Mutter zu schonen, lebte die Familie oft an der Cote d‘Azur.14 Rolf Magener besuchte die Hermann-Lietz-Schule Spiekeroog. Zu seinen Klassenkameraden gehörten dort der spätere Raketeningenieur Wernher von Braun und der deutsche Diplomat Harald Graf von Posadowsky-Wehner.15 Danach studierte er Betriebswirtschaftslehre, u. a. auch in Exeter, weshalb er fließend Englisch sprach. Im Jahr 1937 wurde er an der Universität Frankfurt promoviert. Das folgende Foto zeigt ihn in jungen Jahren, das Entstehungsdatum ist leider nicht bekannt.16

Schon zwei Jahre zuvor war er in die Dienste der Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG, abgekürzt IG Farben, eingetreten, dem damals größten Chemie- und Pharmakonzern der Welt. Dieser entsandte ihn erst nach China und dann nach Indien. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs galten in Indien, das damals eine englische Kolonie war, alle Bürger Deutschlands und seiner Verbündeten (Italien, Japan, Bulgarien, Ungarn, Rumänien) als „Enemy Aliens“. Dieser Begriff lässt sich mit „Ausländer aus Feindländern“ übersetzen. Er bezeichnet nach angloamerikanischem Recht den Angehörigen eines Staates, mit dem sich das Land, in dem er sich aufhält, in einem Konflikt befindet. Diese „Enemy Aliens“ wurden von den Engländern gefangengenommen. So geschah es auch mit Rolf Magener: Er wurde am 3. September 193917 verhaftet und in das Lager Dehra Dun in Nordindien gebracht.

Das „Central Internment Camp Dehra Dun“ lag auf einer Höhe von 600 bis 700 m am Fuß des Himalayas und nahe der Grenze zu Nepal. Es beherbergte etwa 3000 Gefangene. Je 50 davon lebten in einer strohgedeckten Ziegelbaracke von 30 m Länge, 12 m Breite und 15m Höhe. Im Sommer stiegen die Temperaturen bis 43, im Winter nie über 5 Grad. Im Frühjahr brachte der Monsun manchmal so starke Niederschläge, dass es durch die Strohdächer regnete. Die Gefangenen brannten auf dem Lagergelände Schnaps, züchteten Geflügel und bauten Gemüse an.18 Sie nannten das Lager „The City of Despair“ – die Stadt der Verzweiflung. Rolf Magener berichtet, dass in den wenigen Bäumen Aasvögel saßen und die Gefangenen unter Langeweile und dem Eingesperrtsein litten. Ein Insasse des Lagers hat 1943 eine Zeichnung19 mit Bilderklärungen in lateinischer Sprache angefertigt, die nachfolgend zu sehen ist. Auf ihr sind auf der linken Seite die Gemüsebeete, im Vordergrund zwei Sportplätze, auf der Rückseite die Lagertore und davor das Büro des Lagerkommandanten (kleines Haus auf der rechten Seite des Mittelgangs)20 zu sehen. Außerdem sind von diesem Lager mehrere Fotos erhalten. Eine Gruppenaufnahme der Lagerinsassen aus dem Jahr 1941 zeigt u. a. auch Rolf Magener, auch wenn dieser kaum zu erkennen ist.21 Im Lager bekam Magener die Häftlingsnummer 1775.

Im Lager Dhera Dun befand sich eine ungewöhnlich große Zahl von Abenteurern. Darunter war Heinrich Harrer, ein Bergsteiger, der 1938 zusammen mit drei anderen Alpinisten als Erstes die Eiger-Nordwand bestiegen hatte, und Peter Aufschnaiter, der 1929 und 1931 an einer Expedition zum dritthöchsten Berg der Erde, dem Kangchendzönga in Sikkim, teilgenommen hatte. Die beiden hatten 1939 zusammen mit anderen deutschen Bergsteigern eine Aufstiegsroute auf den 8175 m hohen Nanga Parbat im Westhimalaya erforscht, und waren wie Magener auf dem Rückweg von dieser Expedition von den Engländern festgenommen worden. Auch Heins von Have, ein gebürtiger Hamburger, der als Kaufmann in der damaligen Kolonie Niederländisch-Indien (heute Indonesien) tätig gewesen, von den Niederländern festgenommen und an die Engländer übergeben worden war, war ein Draufgänger. Er sprach sehr gut Englisch und hatte bereits zwei Mal vergeblich versucht, aus der Gefangenschaft auszubrechen. Ein Abenteurer war auch Hans Kopp, der in der ehemaligen deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika geboren worden, als junger Mann mehrere Jahre mit einem Motorrad durch Europa unterwegs gewesen und bei Kriegsbeginn auf einer Baustelle bei Bagdad tätig gewesen war, wo er von den Engländern in Gewahrsam genommen wurde.22 Nachdem Magener fünf Jahre lang die meist erfolglosen und manchmal tödlich endenden Fluchtversuche aus dem Lager miterlebt hatte, entschloss er sich selbst zur Flucht. Er plante diese zusammen mit Heins von Have, den er als Ersten ansprach, Peter Aufschnaiter, Heinrich Harrer, Hans Kopp, Bruno Treipl (ein Salzburger, der nach Niederländisch-Indien gekommen war, um im Hotel seiner Tante zu arbeiten, und dort von den Niederländern gefangen worden war) und Friedel Sattler (einem Rheinländer, über den nicht viel bekannt ist). In seinem Buch „Die Chance war Null“ beschrieb Magener, wie schwierig ein Ausbruch aus Dhera Dun war, selbst wenn er gelang:

„Eine Internierung in Indien bedeutet für den, der sich mit Fluchtgedanken trägt, doppelte Gefangenschaft: einmal innerhalb des Stacheldrahts und dann nochmals im Lande als solchem, dessen natürliche Grenzhindernisse seinen Befreiungsplänen wie ein zweites großes Bollwerk entgegenstehen. Indien erscheint dann als großes, undurchdringliches Dreieck, dessen Basis der Himalaya bildet, während die Schenkel vom Ozean begrenzt werden. Im Nordwesten verriegeln Wüsten, im Nordosten Dschungel die Ausgänge. Der Weg nach Afghanistan ist durch die Sperrforts des Khybergpasses verlegt, das dortige Grenzgebiet für Weiße wegen der ewig aufrührerischen Afridistämme nicht begehbar.“23

Magener und seine fünf Gefährten setzten ganz auf Bluff. Dabei halfen ihnen mehrere Mitgefangene, die selbst nicht ausbrechen wollten. Ein deutscher Arzt im Lager besorgte Arzneien und ein Handwerker stellte einen langen Dolch aus einer alten Autofeder her. Ein Jesuitenpater, der bei den Tibetern missioniert hatte, klärte sie über die Kultur der Tibeter auf und zeichnete Karten.24 Rolf Magener und Heins von Have gelang es, sich Geld, Soldbücher, Uniformen und britische Offiziersstöckchen zu beschaffen. So konnten sie sich als englische Offiziere verkleiden. Die anderen vier verkleideten sich als indische Arbeiter. Harrer und Kopp schnitten Stacheldraht aus dem Zaun, der das Lager umgab, und wickelten diesen auf eine Rolle. Außerdem stellten sie sich eine Bambusleiter her. Der Plan bestand darin, bei den Wachen den Eindruck zu erwecken, zwei englische Offiziere hätten mit einer kleinen Gruppe indischer Arbeiter den Stacheldrahtzaun des Lagers repariert und würden dieses nach Beendigung der Arbeiten wieder verlassen. Am 29. April 1944 um 2 Uhr nachmittags, als es sehr heiß war und im Lager die Mittagsruhe galt, war es so weit. Bruno Treipl beschrieb den Ausbruch sechs Jahre später so:25

„Die Posten auf den Wachtürmen mögen sich zwar gewundert haben, woher dieser Trupp plötzlich gekommen sein mochte, allein, da eine Leiter und Stacheldraht-Rollen in den Händen der ‚Inder‘ über den Zweck des Aufenthalts der Truppe hinreichend Aufklärung zu geben schienen, schwiegen die Maschinengewehre. Unsere beiden Hamburger (gemeint sind Have und Magener, der Verf.), die das Englische wie ihre Muttersprache beherrschten, schwangen kokett ihre Offiziers-stöckchen, gingen uns voran auf den ersten Torposten zu und verlangten dort barsch die Öffnung des Tores. Dem Befehl wurde ohne weiteres Folge geleistet und klopfenden Herzens passierten wir mit unseren durch übermangansaures Kali echt indisch gebräunten Gesichtern, unter mächtigen Turbanen möglichst gleichgültig in die Welt schauend, das erste Hindernis. Dann ging‘s durch die LagerHauptstraße dem Haupttor entgegen. Unsere Hamburger wurden allenthalben mit dem nötigen Respekt gegrüßt, trotzdem begann Aufschnaiter, der als Vordermann mit mir die Leiter trug, so auffällig unorientalisch zu hasten, dass ich ihn mit einem: ;Asti, asti, pab!‘, was so viel wie ,Langsam, langsam, Väterchen!‘ heißt, zur Mäßigung seines Schrittes mahnen musste. Ein englischer Offizier, der Kommandant eines Nebenblocks, radelte auf uns zu, wir hielten unser Inderdasein bereits für beendet, aber die beiden Hamburger grüßten und nahmen wie selbstverständlich den Dank des Engländers entgegen, den das Radl rasch an uns vorübertrug. Das Haupttor brachten wir ebenfalls glücklich hinter uns und auch die dritte, letzte und uns am gefährlichsten erscheinende Klippe, den ausschließlich von indischer Polizei bewachten Schlagbaum am Lagereingang, überwanden wir. Kaum waren wir außer Sicht, fingen wir zu laufen an. Aber es dauerte nicht lange, da merkten wir, dass hinter uns her ein Inder gerannt kam, der wild gestikulierte und unverständliche Rufe ausstieß. Wir verdoppelten unser Tempo, denn wir dachten nichts anderes, als dass wir bereits verfolgt würden. Der Mann hinter uns aber lief noch um etliches schneller und kam uns endlich so nahe, dass wir beschlossen, stehen zu bleiben und ihn zu erwarten. Erst als der keuchende, mit einem Hängebart versehene Inder schon fast vor uns stand, erkannten wir ihn. Es war Sattler, der mit seinem vom Lagerfriseur Reich kunstvoll zum Inderantlitz umgebildeten Schädel und mit einem Teertopf und einem Pinsel in der Hand als zu uns gehöriger Nachzügler glatt alle drei Tore durchschritten hatte.“


Messerschmidt, E. (1943), Karte von Dhera Dun

Bildkopie von Walter Buelle (2013)

Gruppenbild der Gefangenen in Dhera Dun

mit Rolf Magener (ganz links)


Kurz nachdem sie das Lager hinter sich gelassen hatten, stießen sie auf indische Bauern. Alle sechs Flüchtlinge liefen erschrocken auseinander. Magener, Harrer und Have liefen nach links, die anderen nach rechts. Von da an flohen sie getrennt. Die Zeitschrift „Der Spiegel“ berichtete 1955, Magener und Have hätten sich eine Höhle in den Vorbergen des Himalayas gesucht. „Dort hielten sie sich mehrere Tage im Angesicht des ‚Throns der Götter‘ versteckt, bis sie annehmen durften, dass die Such-Aktion des Lagerkommandanten eingestellt war.“26 Danach kehrten sie, so „Der Spiegel“, in die Ebene zurück. Das Gelingen ihrer weiteren Flucht machten sie, anders als Harrer und Aufschnaiter, nicht von ihrer körperlichen Stärke abhängig, sondern von ihrer Fähigkeit, als Engländer aufzutreten. Aufgrund ihrer jahrelangen Tätigkeit im englischen Kolonialreich sprachen beide perfekt Englisch. Um kein Aufsehen zu erregen, unterhielten sie sich auch untereinander nur auf Englisch. Aus englischen Zeitungen hatten sie sich Details über ihr angebliches früheres Leben zurechtgelegt. Außerdem lernten sie Details über die englische Armee auswendig. Auf ihren khakifarbenen Uniformen hatten sie keine Rangabzeichen; sie benutzen ihre gestohlenen Soldbücher auch nur gegenüber Zivilisten, nie aber bei Kontrollen durch das englisch Militär, da sie im Fall einer Verhaftung für das Benutzen von militärischen Symbolen und Papieren eine zusätzliche Strafe bekommen hätten.27 Ihr Ziel war es, die Grenze nach Burma zu überqueren und sich dort in die Hände des japanischen Militärs zu begeben, das damals an der Seite Deutschlands kämpfte.

Ihre Fähigkeit, als Inder aufzutreten, testeten Magener und Have laut „Der Spiegel“ erneut, als sie in der Nähe des Lagers einen Bus anhielten, der sie zur nächsten Bahnstation in Saharanpur bringen sollte. Keiner der anderen Fahrgäste schöpfte Verdacht, aber es befand sich auch kein Engländer darunter. Dies wurde in Saharanpur anders. Hier setzen sich ausgerechnet zwei Militärpolizisten neben die beiden Ausbrecher. Doch diese hatten Glück: Sie gingen wieder, ohne sie anzusprechen. Aber als Magener und Have ein sicheres, nur von Indern besetztes Zugabteil gefunden zu haben glaubten, entdeckten sie einen britischen Oberleutnant und einen Piloten auf den Eckplätzen. Vierzig Stunden, die ganze 1.450 Kilometer lange Strecke bis Kalkutta, teilten sie mit den beiden das Abteil, ohne angesprochen zu werden.28 Rolf Magener beschreibt in seinem Buch „Die Chance war Null“ mehrfach, wie er und Have den Kontrollen der Wachposten entkamen, weil diese genau dann abgelenkt waren, als die beiden den Posten passierten. Die Engländer konnten sich in einem so dicht besiedelten und hoch entwickelten Land wie Indien nur deshalb halten, weil sie ständig Personenkontrollen durchführten. Hinzu kamen die schon damals starken Spannungen zwischen der hinduistischen und der muslimischen Bevölkerungsgruppe. Trotzdem passierten Magener und Have die Kontrollen am Bahnsteig in Kalkutta und konnten sich für mehrere Tage in einem Hospiz des CVJM einquartieren. Das war die einzige Unterkunft, die keine Ausweise verlangte. In der Millionenmetropole Kalkutta lernten die beiden, ihre Rolle perfekt zu spielen. Sie besuchten sogar regelmäßig das „Firpo´s“, eines der besten und vor allem von Engländern frequentierte Restaurants der Stadt. Das nachstehende Bild29 zeigt das „Firpo´s“ wenige Monate nach dem Aufenthalt der beiden.


Von Kalkutta fuhren die beiden per Bahn in die Hafenstadt Goalanda an der Padma im heutigen Bangladesch und von dort per Schiff die Padma hinunter bis in die heute ebenfalls zu Bangladesch gehörenden Hafenstadt Chandpur, ohne kontrolliert zu werden. In Chandpur war die Anlegestelle von Militärpolizisten abgeriegelt. Während die Zivilisten von Bord gehen durften, mussten die Militärangehörigen auf dem Schiff bleiben, um kontrolliert zu werden. Kaltblütig verließen die beiden dennoch das Schiff. Sie durchquerten die Anlegestelle, obwohl von allen Seiten Rufe ertönten, dass sie dazubleiben hätten. Als sie versuchten, an einem Militärpolizisten vorbeizugehen, der neben einer Sperre stand, sagte dieser: „Haben Sie nicht gehört, dass Sie das Schiff nicht verlassen dürfen? Bitte zurück!“ Have fragte, ob Zivilisten auch warten müssten, und zeigte dem Polizisten ihre Fahrkarten, die auf Zivilisten ausgestellt waren. Der Militärpolizist ließ sie daraufhin vorbei. Rolf Magener schreibt über diese Episode:

„Das war wieder so ein Streich nach Haves Geschmack. Er konnte dem Reiz der Lage nicht widerstehen … Furchtlos, und ohne Nerven, mit einem unfehlbaren Instinkt für das gerade noch Mögliche, stand er immer über der Situation. Niemals habe ich ihn aufgeregt gesehen … Hinterher sahen seine Abenteuer immer so aus, als habe er sie vorher genau durchkalkuliert.“30

Auf dem Weg in das heute ebenfalls zu Bangladesch gehörende Chittagong, das rund 250 Kilometer von der Grenze des britisch besetzten Indiens mit Burma lag, benutzen Have und Magener noch einmal die Eisenbahn. In der Nähe dieser Stadt befand sich eine Siedlung, wo sie sich dem Dorfältesten als englische Beamten vorstellten und ihn baten, ihnen ein Boot mit Ruderer zur Verfügung zu stellen. Dieses Boot brachte sie während einer drei Tage dauernden Fahrt entlang der Küste weiter südlich zum Ort Cox´s Bazar. In der Mitte dieses Bootes schützten sie Matten aus Palmblättern vor der sengenden Sonne und den Blicken Neugieriger. Trotzdem war es darunter unerträglich heiß. Tagsüber fuhren sie entlang der Küste, nachts schliefen sie an Land.31

Von Cox´s Bazar aus mussten Magener und Have zu Fuß weiter in Richtung der Grenze. Damals versuchten alliierte Truppen gerade, die Japaner aus Nordburma zurückzudrängen. Deshalb war auf den Straßen in Richtung Grenze viel Militär unterwegs. Trotzdem mussten Magener und Have genau diese Straßen benutzen, da der Dschungel zu gefährlich gewesen wäre. Deshalb marschierten sie nachts und schliefen tagsüber. Einmal versuchten sie, einen englischen Wachposten zu umgehen, indem sie eine Anhöhe bestiegen. Dabei lösten sich Felsbrocken von der Anhöhe, die den Posten auf sie aufmerksam machte. Als er sie erblickte, schwangen die beiden freundlich ihre Helme, und der Posten schöpfte keinen Verdacht. Mehrfach durchquerten sie während der Nacht englische Militärlager, ohne aufzufallen. Bei anderen Gelegenheiten wurden sie mit „Stopp!“ zum Stehenbleiben aufgefordert und hörten, wie die Wachposten schon ihre Gewehre entsicherten, marschierten aber trotzdem weiter. Auf diese Weise schafften sie es, die Grenze zu erreichen und sogar den Grenzfluss Naf zu überqueren.32 Nach dem Grenzübertritt verloren sie im Dschungel die Orientierung. Rolf Magener dazu:

„Auf unserer blinden Hetzjagd gerieten wir in eine schmale Schlucht, in deren wannenförmiger Enge das Wasser sich aufgestaut hatte. Bauchtief in den Tümpeln watend, andere durchschwimmend, waren wir gerade einem Wasserbecken entstiegen und um einen Felsvorsprung gebogen, als ich vor mir, auf Duell-Abstand, eine Gruppe von drei Gestalten gewahrte, Have ein verzweifeltes ,Wir sind verloren!‘ zurief und sah, wie sich langsam die Gewehre gegen uns erhoben.“33

Die drei Gestalten waren japanische Soldaten. Am 31. Tag ihrer Flucht war das Unwahrscheinliche geschehen: Magener und Have waren den Engländern entkommen. Allerdings bemerkten Magener und Have relativ schnell, dass sie sich zu früh gefreut hatten. Ihre Flucht erschien den Japanern so unwahrscheinlich, dass sie ihnen keinen Glauben schenkten und sie stattdessen für englische Spione hielten. Zwei Monate34 verbrachten die beiden von da an in japanischen Gefängnissen und Lagern, während die Japaner ihre Angaben überprüften und sie immer wieder verhörten. Danach wurden sie ins Hauptquartier der japanischen Geheimpolizei in Rangun gebracht.35 Dort folgten weitere Verhöre und Untersuchungen. Die Verpflegung war dort so schlecht, dass den beiden die Haare ausfielen und sie schwerhörig wurden.36 Have und Magener erfuhren nie den Grund, aber nach einem weiteren Monat schienen die Japaner zu dem Schluss gekommen zu sein, dass ihre Angaben auf Tatsachen beruhten. Man brachte sie im September 1944 von Rangun mit dem Flugzeug nach Tokio. Dort schenkte man ihnen die Freiheit. Magener und Have fanden Zuflucht in der deutschen Botschaft in Tokio, wo sie als Attaché arbeiten konnten.37 In der Botschaft lernte Magener Doris von Behling kennen. Sie war als Tochter einer Schottin und eines deutschen Offiziers im Ruhestand in London geboren, fühlte sich der englischen Lebensweise ebenso verbunden wie Rolf Magener und arbeitete in der Botschaft als Assistentin des Luftwaffenattachés.38 Rolf Magener nannte sie Dora Thea, was auf Griechisch „das Geschenk der Götter“ bedeutet.39 Die beiden heirateten noch während des Krieges. Die folgende Karte40 zeigt die Fluchtroute von Magener und Have quer durch Asien.


Am 26. Mai 1945 griffen amerikanische Flugzeuge Tokio an. Dabei machten Magener und Have erneut durch ihre Kaltblütigkeit von sich reden. Als sich die Bevölkerung des Enokizaka-Hügels vor dem durch den Bombenhagel entstandenen Feuer in Sicherheit bringen wollte, riefen die beiden die fliehenden Menschen auf, zu bleiben. Sie bildeten eine Menschenkette, durch die Wassereimer weitergereicht werden konnten, und kommandierten so umsichtig, dass sie eine Gruppe von Einheimischen dazu gewinnen konnten, mit ihnen gegen die Flammen zu kämpfen. Es gelang, den Hügel vor dem Feuer zu retten.41

Im Jahr 1947 konnten Doris und Rolf Magener nach Deutschland zurückkehren. Nach einem Aufenthalt in einem Auffanglager war Rolf Magener erst bei der Deutschen Commerz GmbH in Frankfurt tätig, ging dann 1955 zur BASF und arbeitete für diese ab 1957 in London. Fünf Jahre später wurde er Finanzvorstand bei der BASF. Als solcher trug er wesentlich zur internationalen Expansion und zum Aufbau neuer Märkte bei.42 Bei der BASF scharte er eine Gruppe junger, dynamischer Manager um sich, deren Karriere er förderte. Die Gruppe ging gelegentlich abends ins klassische Konzert, am Wochenende zum Wandern, traf sich beim Tee in seinem Büro und wurde die „Magener Boys“ genannt.43 Rolf und Doris konnten keine Kinder bekommen. Sie übernahmen aber die Patenschaft von Sylvius Graf von Posadowsky-Wehner, des Sohnes des gleichnamigen Klassenkameraden Rolf Mageners. Im Jahr 1974 wurde Magener pensioniert.

Zunächst wohnten Doris und Rolf Magener in der Werderstraße in Mannheim, ab 1965 zogen sie in die Wolfsbrunnensteige 20 in Heidelberg. Hier hatten sie sich eine schöne, repräsentative Villa gebaut, die auf dem folgenden Foto aus dem Jahr 1998 zu sehen ist.



Im Jahr 1980 trafen sich Magener, Have und Harrer in Heidelberg. Davon zeugt dieses Foto.44

Menschen, die sie noch erlebt haben, erzählten dem Verfasser, dass sie sehr zurückgezogen lebten, oft nach England fuhren und auch oft englisch miteinander sprachen. Das Haus und der große Garten in der Wolfsbrunnensteige sei Doris und Rolf Mageners Paradies gewesen. Weil beide eine Liebe zu Japan entwickelt hätten, habe es dort eine Abteilung mit japanischen Pflanzen gegeben, die beide gepflegt hätten. Gelegentlich sei Rolf nach Ladenburg gefahren, um in der dortigen Baumschule Nachwuchs für seinen Garten zu kaufen; aber auch Doris hätte aufgrund ihrer englischen Herkunft Gärten gemocht. Manchmal habe er am Hauptbahnhof auch eine russische Zeitung gekauft. Rolf Magener habe eine große Büchersammlung besessen. Zu seinen vielen Interessen hätten u. a. die Belletristik und (in späteren Jahren) die Philosophie gezählt. Einmal habe er sich mit dem in Heidelberg lebenden Philosophen Hans Gadamer getroffen und ihm vorbereitete Fragen zu philosophischen Themen gestellt, die ihn beschäftigt hätten. Gadamer habe ihn aber wie einen Unwissenden behandelt, was Magener sehr enttäuscht habe.45 Des Öfteren habe man Magener auch in der Universitätsbibliothek gesehen. Doris und Rolf Magener hätten 2- bis 3-mal pro Jahr das Restaurant im Europäischen Hof in Heidelberg besucht.46 Rolf Magener starb kurz vor seinem 90. Geburtstag im Jahr 2000, seine Frau Doris zehn Jahre später. Da sie keine Kinder hatten, erbte der Sohn eines Freundes große Teile ihres Vermögens. Ihr Haus wurde inzwischen abgerissen. Das folgende Bild zeigt Doris und Rolf Magener im Jahr 1999.47


10 Bild: Sebastian Klusak, EEB Heidelberg

11 Salomon, I. (1997, 03.11.). Heimkehrer kam zurück. Rhein-Neckar-Zeitung, S. o. A.

12 Bild: Sebastian Klusak, EEB Heidelberg

13 Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges/Verluste unter den deutschen Kriegsgefangenen (2020). In Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Abgerufen am 15.07.2020 von https://de.wikipedia.org/wiki/Kriegsgefangene_des_Zweiten_Weltkrieges#Verluste_unter_den_deutschen_Kriegsgefangenen

14 Hofmann, U. (2000, 05.08.). Vom Gefangenen Nummer 1775 zum Finanzchef. Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. o. A.

15 Telefonische Mitteilung von Sylvius Graf von Posadowsky-Wehner an den Verfasser, Mai 2020

16 Rolf Magener in jungen Jahren. Bild: Sylvius Graf von Posadowsky-Wehner

17 Magener, R. (1963). Die Chance war Null. Frankfurt/Berlin: Ullstein, S. 6

18 Schäfer, H. (Datum o. A.). Das Internierungslager Dhera Dun im II. Weltkrieg. Abgerufen am 15.07.2020 von http://www.gaebler.info/2016/08/schaefer/#anlage

19 Messerschmidt, E. (1943). Karte von Dhera Dun. Bildkopie von Walter Buelle (2013). Abgerufen am 15.07.2020 von www.gaebler.info

20 Speck-Rosenbaum (2013). Lager-Karte vom Internierungslager Dehra Dun. Abgerufen am 15.07.2020 von www.gaebler.info/2013/09/speck

21 Bild: Autor o. A. In: Buelle, W. (2013). Gerhard Buelle in the internment camps Ahmednagar and Dehra Dun. Abgerufen am 15.07.2020 von https://www.gaebler.info/2013/03/buelle

22 Lüdtke, N. (1995). Flucht. Reisen in Zeiten von Not und Gefahr. Abgerufen am 15.07.2020 von https://fernreisemobiltreffen.de/willys-treffen/dokuwiki/doku.php?id=wiki: flucht

23 Magener, R. (1963). Die Chance war Null. Frankfurt/Berlin: Ullstein, S. 7

24 Lüdtke, N. (1995). Flucht. Reisen in Zeiten von Not und Gefahr. Abgerufen am 15.07.2020 von https://fernreisemobiltreffen.de/willys-treffen/dokuwiki/doku.php?id=wiki: flucht

25 Autor o. A. (1950, 09.09. und 16.09.). Ein Salzburger im geheimnisvollen Tibet. Salzburger Volksblatt, S. o. A. Abgerufen am 15.07.2020 von http://www.gaebler.info/india/flucht.htm

26 Autor o. A. (1955, 29.06.). Der große Bluff. Der Spiegel, S. 35–36

27 Autor o. A. (Jahr o. A.). Die Flucht. Solidarität und Erfolg. Abgerufen am 15.07.2020 von www.gaebler.info/india/flucht.htm

28 Autor o. A. (1955, 29.06.). Der große Bluff. Der Spiegel, S. 35–36

29 Bild: Clyde Waddell, gemeinfrei (Wikipedia )

30 Magener, R. (1963). Die Chance war Null. Frankfurt/Berlin: Ullstein, S. 59

31 Lüdtke, N. (1995). Flucht. Reisen in Zeiten von Not und Gefahr. Abgerufen am 15.07.2020 von https://fernreisemobiltreffen.de/willys-treffen/dokuwiki/doku.php?id=wiki: flucht

32 Bild: Bundesarchiv (Nr. B 145 Bild-P022073 Frankl, A.) Gemeinfrei, CC-BY-SA 3.0 (Wikipedia)

33 Magener, R. (1963). Die Chance war Null. Frankfurt/Berlin: Ullstein, S. 108

34 Rolf Magener (Juni 2019). In Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Abgerufen am 15.07.2020 von https://de.wikipedia.org/wiki/Rolf_Magener

35 Autor o. A. (1955, 29.06.). Der große Bluff. In: Der Spiegel, S. 35–36

36 Lüdtke, N. (1995). Flucht. Reisen in Zeiten von Not und Gefahr. Abgerufen am 15.07.2020 von https://fernreisemobiltreffen.de/willys-treffen/dokuwiki/doku.php?id=wiki: flucht

37 Heins von Have (2020). In Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Abgerufen am 15.07.2020 von https://de.wikipedia.org/wiki/Heins_von_Have

38 Autor o. A. (2010, 11.11.). Doris Magener. The Telegraph, Seite o. A.

39 Hofmann, U. (2000, 05.08.). Vom Gefangenen Nummer 1775 zum Finanzchef. Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. o. A.

40 Bild: Copyright unbekannt. Der oder die RechteinhaberInnen werden gebeten, sich bei uns zu melden, wenn sie mit der Veröffentlichung in diesem Werk nicht einverstanden sind.

41 Autor o. A. (1951, 01.10.). Herr Sorge saß mit zu Tisch. Der Spiegel, S. 37

42 Hofmann, U. (2000, 05.08.). Vom Gefangenen Nummer 1775 zum Finanzchef. Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. o. A

43 Niejahr, E. (1996, 12.02.). Die Magener-Boys. Der Spiegel, S. 66ff.

44 Heinrich Harrer (links), Heins von Have und Rolf Magener 1980 in Heidelberg. Der oder die RechteinhaberInnen werden gebeten, sich bei uns zu melden, wenn sie mit der Veröffentlichung in diesem Werk nicht einverstanden sind.

45 Telefonische Mitteilung von Sylvius Graf von Posadowsky-Wehner an den Verfasser, Mai 2020

46 Telefonische Mitteilungen von mehreren Bekannten von Rolf und Doris Magener an den Verfasser, Juni 2016

47 Doris und Rolf Magener. Bild: Roger Croston

Heidelberger auf der Flucht

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