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Erster Teil:

Unbekannte Verfolgungsschicksale

Seminarstraße 3:

Alfred Stiendel und Günther Pollacks

In diesem Gebäude befindet sich heute das Romanische Seminar der Universität Heidelberg. Bis 1968 diente das Gebäude als Amtsgericht. Während des Krieges war es zudem Sitz des Militärgerichts des Kommandeurs der Panzertruppen XII.

Am 24.03.1945 hatte sich die deutsche Front auf dem linken Rheinufer aufgelöst. Die Truppenteile zogen sich zwischen Mainz und Speyer auf die andere Rheinseite zurück. Das bedeutete: Die Gegner Deutschlands marschierten jetzt in das Kerngebiet des Reichs. Die Nationalsozialisten reagierten darauf mit Durchhalteparolen und Drohungen, auch gegenüber den eigenen Soldaten. Sie glaubten, dass die Angst vor Bestrafung ihre Kampfkraft stärken und dies doch noch dazu führen würde, dass Deutschland den Krieg gewinne. Ein Befehl Adolf Hitlers vom 18.01.1945 bestimmte, dass Soldaten, die getrennt von ihrer Einheit angetroffen wurden, sofort erschossen werden konnten. Gegen Kriegsende gab es viele solcher Soldaten. Einige davon waren desertiert, andere hatten ihre Einheit verloren oder waren auf ihrem Posten „vergessen“ worden, wieder andere waren auf dem Weg an die Front oder aus der gegnerischen Kriegsgefangenschaft geflohen. In einer Publikation, bei der es um Menschen geht, die aus oder nach Heidelberg geflohen sind, muss auch auf ihr Schicksal hingewiesen werden. Die von Hitler angeordnete Erschießung solcher Soldaten konnte durch die ordentlichen Militärgerichte, aber auch durch „fliegende Standgerichte“ geschehen. Dies waren kleine Einheiten von Soldaten, die meist auf dem Motorrad unterwegs und von einem Offizier angeführt wurden. Sie konnten Menschen zum Tod verurteilen – ohne ordentliche Beweisführung, Verteidigung oder ein Recht auf Berufung. Die Verurteilten wurden meist an Ort und Stelle erschossen und danach aufgehängt. Diese Gerichte konnten natürlich nicht überall sein, und deshalb wurden viele Verfahren auch vor ordentlichen Militärgerichten durchgeführt. Diese fällten jedoch oft mildere Urteile. Ein solches Militärgericht befand sich in dem Gebäude, das auf dem folgenden Bild1 zu sehen ist – im selben Gebäude befand sich damals auch das Amtsgericht Heidelberg.


Das Militärgericht bekam am Abend des 24.03.1945 Besuch von Generalrichter Dr. Hans Boetticher. Das war der oberste Militärrichter der Heeresgruppe „G“, in deren Bereich Heidelberg damals lag. Das folgende Bild stammt aus dem Bundesarchiv.


Einer der Richter, die hier arbeiteten, berichtete später:

„Der Generalrichter eröffnete uns, dass er von der Heeresgruppe mit der Überwachung der Gerichte beauftragt ist. Er rügte die Milde unserer Rechtsprechung und erklärte, die Auflösung der deutschen Wehrmacht könne nur durch drastische Maßnahmen verhindert werden. Die Gerichte müssten rücksichtslos Todesstrafen gegen Fahnenflüchtige verhängen. Im Osten habe man Fahnenflüchtige an den Oderbrücken zur Warnung für die zurückflutenden Soldaten aufgehängt und habe damit gute Erfahrungen gemacht. Das müsse nun auch im Westen und auch hier in Heidelberg geschehen. Wir wiesen demgegenüber auf die Empfindungen der Zivilbevölkerung in der vom Krieg verschonten Stadt hin. Unser Einwand wurde aber zurückgewiesen. Der Generalrichter ließ sich unsere Akten vorlegen, beanstandete im Einzelnen unser Verfahren und nahm eine Anzahl von Akten mit. Wir hörten dabei, dass er ein fliegendes Standgericht mitgebracht habe, dem er die Fälle aushändigen wolle.“2

Am Abend des 24.03., also von Samstag auf Sonntag, berief Boetticher eine Sitzung aller Militärrichter der Region in die Gaststätte Auerhahn in der Römerstraße 76 ein. Ein Bild dieser Gaststätte, so wie sie heute aussieht, befindet sich auf einer der folgenden Seiten. Dabei drohte er den Richtern erneut. Am Morgen des 25.03. verurteilte sein Standgericht mehrere Soldaten (wahrscheinlich nicht die, denen die Akten gewidmet waren, sondern andere zufällig aufgegriffene) zum Tod. Einer davon war der 25-jährige Obergefreite Alfred Stiendel aus Peggau bei Graz. Ihn hängte man am Eingang des Bergfriedhof in der Rohrbacher Straße auf. Ein anderer war der wahrscheinlich erheblich jüngere Soldat Günther Pollacks aus Plauen im Vogtland. Ihn hängte man an der Dossenheimer Landstraße am Ortsausgang von Handschuhsheim auf. Beide wurden vorher mit Schüssen an die Schläfe getötet. Wie der Verwalter des Bergfriedhofes aussagte, wurde Stiendel nach zwei Tagen von Unbekannten in der Nacht „an Ort und Stelle auf dem Gehweg“ vor dem Bergfriedhof beerdigt; er selbst habe dann Mitte April die Leiche in einen Sarg gebettet und im „Massengrab Nr. 1“ auf dem Bergfriedhof beigesetzt. Günther Pollacks wurde zuerst auf dem Handschuhsheimer Friedhof beerdigt. Seit dem Jahre 1953 haben beide auf dem Ehrenfriedhof in Heidelberg ihre letzte Ruhestätte gefunden.3 Auf den folgenden Seiten ist auch ein Bild des Ehrenfriedhofs4 und der Grabplatte Pollacks5 abgebildet. Trotzdem entzog ein Militärrichter, der an der Besprechung beteiligt war, schon am 27.03. den Fall eines aufgegriffenen Soldaten der Zuständigkeit des fliegenden Standgerichts, wies die Anklage auf Feigheit vor dem Feind zurück und setzte die Verhandlung bis Kriegsende aus. Dr. Boetticher gab nach dem Krieg an, er sei vom Stabschef des Befehlshabers der Heeresgruppe „G“, Generaloberst der Waffen-SS Paul Hausser und Sturmbannführer Stedtke (beide hatten ihr Quartier in Eberbach) mit folgenden Worten bedroht worden: „Es wird nicht eher anders, als bis nicht ein Jurist oder ein Gerichtsherr baumelt, und wenn Sie es sind.“ Boetticher arbeitete nach dem Krieg als Rechtsanwalt in München, wo er 1988 starb.6


Ehem. Gaststätte Auerhahn

Grab G. Pollacks (auf dem Ehrenfriedhof)


1 Bild: Sebastian Klusak, EEB Heidelberg

2 Moraw, F. (1996, 02.04.). Diese Morde sind noch nicht bestraft. Rhein-Neckar-Zeitung, S. 5

3 Moraw, F. (1996, 02.04.). Diese Morde sind noch nicht bestraft. Rhein-Neckar-Zeitung, S. 5

4 Bild: Sebastian Klusak, EEB Heidelberg

5 Bild: Sebastian Klusak, EEB Heidelberg

6 Moraw, F. (1995, 24.03.). Warum der Terror bis zum letzten Tag funktionierte. Rhein-Neckar-Zeitung, S. 21

Heidelberger auf der Flucht

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