Читать книгу Bubenträume - Sebastian Liebowitz - Страница 6
Bernie
Оглавление„Erinnerung malt mit goldenen Farben“, heisst es in einem japanischen Sprichwort.
Und vielleicht ist das ja so und auch ich bediene mich eines entsprechenden Farbfilters, wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke. Aber ich meine doch, mich zu erinnern, dass es auf unserem Schulhof relativ friedlich zu- und herging. Zumindest im Vergleich zu heute. Das mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass ich auf dem Land gross geworden bin. So waren „Mobbing“ und „Bullying“ Ausdrücke, die erst in Jahrzehnten ihren Einzug in unseren Sprachgebrauch finden sollten und auf dem Pausenhof ging es meist recht friedlich zu und her.
Bis Bernie, so genannt, weil er aus der Stadt Bern kam, in unser Leben -und unsere Hintern- trat. An seinen richtigen Namen kann ich mich gar nicht mehr erinnern, ich weiss nur noch, wie ich ihn genannt habe.
Blödes Arschloch.
Dies natürlich nur insgeheim, denn der Kerl musste praktisch jede Klasse wiederholen, war daher schon ein paar Jahre älter als wir und nicht nur darum von riesiger Statur.
Mit 15 Jahren schon rauchend und Bier trinkend, gefiel er sich in der Rolle des Quasi-Erwachsenen, wobei seine intellektuellen Fähigkeiten weniger ausgeprägt waren. Das musste natürlich kompensiert werden. So drangsalierte er leidenschaftlich gern seine Mitschüler und übergoss jeden mit Spott und Häme, der keine Markenjeans trug. Also praktisch jeden.
Man muss bedenken, dass es sich um das Dorfleben in den späten 70ern handelte. Mit sowas wie „Markenjeans“ hatten wir uns bis zu Bernies Intervention nicht herumgeschlagen. Da waren halt Jeans oder eben nicht Jeans, so wie Thuris Cordhosen, das genügte völlig. Dass es da nun scheinbar Unterkategorien gab, die zudem einen erheblichen Einfluss auf den Status oder das Wohlbefinden der Träger auszuüben schienen, war uns neu.
Also musste Bernie erst mal Aufklärungsarbeit leisten. Sowas tat er gern, der Bernie. So waren seine Argumente zwar stets „schlaghaltig“, aber selten schlüssig. Gerne lasse ich Sie von meinem reichen Erfahrungsschatz profitieren und fasse das damals Erlernte noch einmal kurz für Sie zusammen:
-Markenjeans sind Jeans einer bekannten und daher teuren Marke, die, und das ist wichtig, zudem auch teuer erworben werden mussten. Markenjeans günstig oder gar heruntergesetzt zu kaufen galt nicht und war allgemein (wobei allgemein gleich Bernie) verpönt. In der Tat sollten „Markenschnäppchen“ erst Jahrzehnte später gesellschaftsfähig werden. Beim Protzen galt also grundsätzlich die Kombination Marke (je exklusiver, desto besser), Modell (dito), Preis (je teurer desto besser) und wo gekauft. Je exklusiver der Laden, desto besser.
Am meisten Punkte schinden konnte man für schweineteure Jeans, die man zudem völlig überteuert in einem exklusiven Geschäft, vorzugsweise in der Bahnhofstrasse in Zürich oder an einer noch nobleren Adresse, gekauft hatte. Offensichtlich ging es also darum, etwas zu haben, was nicht jeder haben konnte. Oder zumindest nur die Kinder gutbetuchter Eltern.
Ein Konzept, welches ich nicht ganz verstand. Bei meinen Jeans hatte ich die Risse an den Knien mit einer Schnur zusammengenäht. Das hatte auch nicht jeder. Trotzdem brachte mir diese Aktion wenig Anerkennung bei Berni und Konsorten ein.
Bei meiner Mutter noch weniger, aber das nur nebenbei.
Mir dämmerte jedoch langsam, dass ich noch viel lernen musste, um hier mitreden zu können. Bis dahin hielt ich wohl besser meinen Mund. Wobei das bei Bernie ohnehin immer die beste Strategie war.
Nachhilfestunden zum Thema gab es kostenfrei, wenn auch selten schmerzfrei, bei Bernie. Seine Lektionen zu diesem Thema waren zwar kurz, aber einprägsam. Das haben Botschaften, die zwischen zusammengebissenen Zähnen herausgezischt werden, während man vor Angst zitternd mit dem Rücken zum Garderobenschrank steht und einem die Kehle zugedrückt wird, nun mal so an sich.
Unter diesen Umständen dauerte es natürlich nicht lange und uns war klar, dass man dem Kerl wohl besser aus dem Weg ging. Zumindest, wenn man seine Eltern nicht mit Zahnarztrechnungen in den Ruin treiben wollte. Wobei das mit dem aus dem Weg gehen gar nicht so einfach war, denn der Kerl war quasi omnipräsent und konnte auch schon mal in den Büschen auf sein Opfer lauern.
Zum Beispiel auf Daniel, der in meine Klasse ging und eindeutig sein Lieblingsopfer war. Der nahm seit einiger Zeit Karateunterricht, ein Affront, den Bernie nicht einfach ignorieren konnte. Das waren die Zeiten von Bruce Lee und einem ausgebildeten Karatekämpfer haftete immer auch der Ruf von Unbesiegbarkeit an. Bernie hingegen haftete höchstens der Ruf von Dämlichkeit an, und so war er fest entschlossen, Daniel eine Abreibung zu verpassen. Man kann Bernie zugutehalten, dass er wohl relativ oft fernsah und daher unter einem gewissen Realitätsverlust litt.
Man kann, muss aber nicht. Viel wahrscheinlicher ist, dass er einfach von Natur aus blöd war.
Daniel hingegen betrieb Karate aus rein bewusstseinserweiternden Gründen und hielt sich stets bedeckt, was seine Leidenschaft für diesen Sport anging. Kräftemessendes Gerangel war ihm zuwider und protzerisches Gehabe sowieso. Und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, schnappte Bernie sich jeden Morgen auf dem Pausenhof Daniel und nahm ihn in den Schwitzkasten, bis die Pause vorüber und dieser fast ohnmächtig war. Dabei scharte er stets eine Handvoll von Mitläufern um sich, deren Aufgabe es war, den grossen Bernie bei diesem Kraftakt zu bewundern, wofür es dann zum Dank Streicheleinheiten in Form von Fusstritten vom grossen Meister gab.
Es war offensichtlich, dass Bernie insgeheim eifersüchtig auf Daniels Popularität war. Dieser war überaus intelligent, wollte man den Mädchen glauben, auch noch recht gutaussehend, trotzdem bescheiden und daher selbst bei den Jungs allgemein beliebt. Zudem war er äusserst unterhaltsam und hatte es, im Gegensatz zu Bernie, nicht nötig, seinem Gegenüber erst die Faust ins Gesicht zu schlagen, um sich dessen Aufmerksamkeit zu sichern. Daher ist es kein Wunder, dass wir Jungs Daniel, wie auch immer, helfen wollten. Nicht, dass wir es alleine hätten mit Bernie aufnehmen können, aber wir hatten den Kerl mittlerweile so satt, dass es an Mitbewerbern, die ihm endlich die verdiente Abreibung verpassen wollten, nicht mangelte. Dabei sollen Gerüchten zufolge auch aus den Nachbarländern ein paar Bewerbungen eingetroffen sein und sogar der russische KGB soll seine Dienste angeboten haben. Man habe da einen Regenschirm mit Giftspitze, den man mal sicherheitshalber ausprobieren wolle, soll es geheimnisvoll geheissen haben, bevor der Kontakt im Ätherrauschen abbrach.
Das aber wollte Daniel partout nicht zulassen, wohl, weil er geahnt hatte, wie leicht so etwas eskalieren kann.
„Ich sag euch, Gewalt ist keine Lösung“, pflegte er zu sagen, mit 14 Jahren schon weiser als mancher Hundertjährige. „Und ich bitte euch jetzt noch einmal, euch nicht einzumischen. Das ist mein Problem und ich allein habe damit fertig zu werden.
Das mussten wir natürlich widerwillig akzeptieren, wobei sich vor allem Bürgi mit Daniels Entscheidung nicht zufriedengeben wollte und diesen am nächsten Tag in der Pause um Aufklärung bat. Scheinbar muss es dabei ein paar offene Punkte gegeben haben, denn am übernächsten Tag sah man die beiden wieder aufgeregt miteinander diskutieren. Die beiden müssen überhaupt viel zu diskutieren gehabt haben, wenn man zum Massstab nimmt, dass sie in den kommenden Wochen jede Pause zusammenstanden. Und da Bernie die beiden nur ungern bei ihren Diskussionen störte –speziell Bürgi schien er nur ungern ins Wort fallen zu wollen- musste er sich wohl oder übel nach einfacheren Opfern umsehen.
Trotzdem hat mir Daniels Einstellung damals, und auch heute noch, mächtig imponiert. Denn dreinschlagen kann in der Tat jeder Dummkopf und wie oft er auch zuschlägt, Recht hat er deswegen noch lange nicht.
Das ist tröstlich.
Denn die Bernies dieser Welt wissen sehr wohl, dass ihre 15 Minuten des Ruhms schnell vorüber sind. Ihr Glanz verblasst meist schlagartig, sobald die Schulzeit zu Ende ist. Wahrscheinlich wollen sie es darum noch einmal so richtig krachen lassen und die süsse Frucht ihrer vermeintlichen Popularität bis zum letzten Tropfen ausquetschen.
Im späteren Leben relativiert sich das oft, wie ihnen Daniel, mittlerweile erfolgreicher Architekt mit eigener Firma, in Berufs- und Privatleben gleichermassen erfolgreich, sicher bestätigen kann. Ihm geht es gut und man gönnt es ihm.
Bernie hingegen geht es weniger gut.
Und man gönnt es ihm.
Trotzdem kann er ab und zu durchaus Erfolge verzeichnen, zumindest, wenn man einen Stammplatz an einer schummrigen Bar einen solchen nennen kann. Dort sinniert er täglich, manchmal mit „Freunden“, meist aber allein, über die verpassten Chancen im Leben nach. Man tut sich in der Tat schwer, in der zusammengekauerten Gestalt, die sich gedankenverloren über ihr Bierglas beugt, den einstmals so stolzen Bernie zu erkennen. Irgendwie scheint ihm auch sein Flair für Markenkleidung etwas abhandengekommen zu sein, was sicher der Grund dafür ist, dass ihn mittlerweile bereits die dritte Ehefrau verlassen hat. Denn wir alle wissen ja, wie wichtig Markenjeans sind.
Und dieses Wissen verdanken wir einzig und allein Bernie.
An dieser Stelle also herzlichen Dank dafür.