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Lehrer Patens
Оглавление„Also neulich“, beginnt er, „also neulich, da war ich wieder mal sturzhagelvoll. Ich also mit Schlagseite nach Hause, schaffe es gerade noch zur Tür herein, muss mich beherrschen, dass ich nicht noch in den Hausgang kotze, da steht schon meine Alte vor mir. Keift natürlich sofort los. ‚Schon wieder besoffen‘, zetert sie, ‚und das schon Montag, meme-meme-meme. Aber so braucht sie mir nicht zu kommen, die Schlampe. ‚Also gut, dann kann ich ja gleich wieder abhauen‘, sag ich, mache rechtsumkehrt und geh in die Garage, wo mein neuer Trans-Am steht. Ich im Karacho raus aus der Garage, da steht die blöde Kuh doch tatsächlich in der Einfahrt. Ich gerade noch rechtzeitig auf die Bremse, schon schreit sie mich an. ‚So besoffen fährst du keinen Meter mehr meme-meme-meme.‘ Hab ich sie gewarnt: ‚Hau bloss ab, du, sonst fahr ich dich über den Haufen, du...‘ Sie will natürlich nicht hören und keift weiter. Zack, ich aufs Gas und die blöde Kuh kriegt natürlich ihren Fuss nicht rechtzeitig weg. Wrumm, fahre ich ihr über die Zehen. ‚Selber schuld, wenn man so blöd ist‘, schrei ich noch, während die alte Kuh ins Haus humpelt. Jetzt hat sie ein paar gebrochene Zehen, hihihihohohooo.“
Er krümmt sich vor Lachen und es dauert eine Weile, bis er sich erholen kann. Glucksend wischt er sich die Lachtränen aus den Augen und blinzelt in die Runde der verwirrten Kindergesichter.
„Sagt mal, weiss einer, wo wir bei der letzten Geschichtsstunde hängengeblieben sind?“
Mal ehrlich: Als Lehrer war Herr Patens eine Niete.
Ich konnte den Kerl ja noch nie ausstehen. Ja, mehr noch: Seit er mir mal eine geklebt hatte, hasste ich ihn mit einer Inbrunst, die an Besessenheit grenzte. Nicht, dass ich es damals nicht verdient gehabt hätte, das nicht, aber so etwas verdrängt man ja gern.
Natürlich kann ich mildernde Umstände ins Feld führen. Ich sehe mich da eher als unschuldiges Opfer einer Verkettung unglücklicher Umstände.
Begonnen hatte nämlich alles damit, dass uns von der Schulleitung mitgeteilt wurde, dass sich Herr Patens „unpässlich fühle“ und etwas später komme. Das war der Schulleitungsjargon für „der Kerl hat sich mal wieder volllaufen lassen und wir haben keine Ahnung, wann er auftaucht“. Die Zeit bis zu seinem Auftauchen wollte natürlich sinnvoll genutzt werden.
Und obwohl die Option, die Zeit mit Lernen zu vertreiben, kurz diskutiert wurde, waren es dann doch alternative Vorschläge, die den meisten Zuspruch erhielten.
Irgendjemand kam schliesslich auf die Idee, man könne sich doch die Wartezeit mit einer Art Schneeballschlacht im Klassenzimmer verkürzen. Ich will Ihnen nicht vorenthalten, dass es ein paar verlogene Denunzianten gab, die bis heute steif und fest behaupten, dass ich dieser „irgendjemand“ gewesen sei. Es ist mir zwar schleierhaft, wie man aus ein paar völlig aus dem Zusammenhang gerissenen Wörtern wie „Schlacht“, „Schulzimmer“, „Mannschaft eins“ und Mannschaft zwei“ so etwas fabrizieren kann, aber bitte. Ich bin gern bereit, einen Teil der Schuld auf mich zu nehmen. Vorausgesetzt natürlich, dass sie gerecht verteilt wird.
Mir persönlich scheint ein Verhältnis von 50-50 ein gerechter Ansatz.
Oder, wenn ich es mir genauer überlege, 60-40.
60 Schuldprozente gehen dabei fürs nicht Auftauchen an Herrn Patens, während die restlichen 40 Schuldprozente, fürs auf dumme Ideen kommen, an mich gehen.
Wie gesagt, erinnern kann ich mich daran zwar nicht, aber um diese leidige Angelegenheit endlich zum Abschluss zu bringen, bin ich gern bereit, mich zum Wohle der Allgemeinheit zu opfern. Da bin ich fair.
Andererseits, wenn ich es mir so recht überlege, scheint mir ein 20-80 Verhältnis fast noch besser.
-60 Schuldprozente gehen an Herrn Patens fürs sein Nichterscheinen, welches die ganze Sache überhaupt erst ins Rollen gebracht hat.
-20 Schuldprozente gehen, fürs auf dumme Ideen kommen, an mich.
Und noch einmal 20 Schuldprozente gehen an die Schulleitung.
Und zwar für ihren verhängnisvollen Entschluss, Tomatenstauden auf der Südseite des Gebäudes anzupflanzen.
Schliesslich lag noch kein Schnee und so griffen wir halt notgedrungen zu den überreifen Tomaten, die uns frech durchs Fenster anlachten. Als die Schlacht um Mittelerde zu Ende war, sah unser Schulzimmer aus wie dieses Dorf in Spanien, in welches man jedes Jahr Tonnen von Tomaten karrt, um sich eine Tomatenschlacht zu liefern. Nicht ganz so schlimm, freilich. Wenn man genau hinsah, konnte man nämlich hie und da durchaus noch einen unversehrten Flecken finden. Gut, man musste dafür vielleicht eine Schublade öffnen, aber immerhin. Auch hinter der Wandtafel soll es gar nicht so schlecht ausgesehen haben, wie der Leiter des 5-köpfigen Putztrupps am dritten Tag erleichtert berichtete.
So lange wollte Herr Patens dann doch nicht warten. Er schmierte mir am selben Tag noch eine, als er gegen 10 Uhr mit einer Fahne auftauchte. Es war Victorio, der mich als Agitator verpfiff. Da ihm zum Zeitpunkt seines Verrats aber gerade die Ohrläppchen von Herrn Patens langgezogen wurden, konnte ich ihm das natürlich nicht übelnehmen. Herr Patens war nämlich ein wahrer Meister des Ohrläppchenlangziehens und Victorios Ohrläppchen schienen es ihm sogar ganz besonders angetan zu haben. Nachdem mein Name gefallen war, folgte die bereits erwähnte Ohrfeige, die, um es mal so zu sagen, voll ins Auge ging. Und während ich an meinem Platz sass und ich mir die Wange rieb, während mir die Tränen aus dem geröteten Auge rannen, kam zum irreparablen Schaden an meinem Stolz noch der Spott dazu.
„Na, jetzt ist dir dein Lachen wohl vergangen, was“, höhnte Herr Patens. „Jaja, aus einem Lächlein wird ein Bächlein, wie es doch so schön heisst.“ Er grinste gemein. „Fängst du jetzt an zu heulen, oder was? Oh, seht nur, wie böse er funkelt, ich bekomm es gleich mit der Angst zu tun.“ Er ballte seine Faust. „Pass bloss auf, du, sonst kleb ich dir gleich noch eine und dann kannst du deine Zähne auf dem Boden einsammeln.“
Angesichts dieser Sonderbehandlung war es kein Wunder, dass ich bittere Vergeltung schwor. Ohne jetzt ins Detail gehen zu wollen, darf ich Ihnen verraten, dass in meinen Plänen ein Eimer mit Bienenhonig und eine Kolonie Feuerameisen eine tragende Rolle spielten. So was hatte ich mal in einem Roman gelesen und schien mir angemessen. Zumindest, bis ich dem blöden Patens zwei Wochen später schon wieder ins Netz ging.
Danach drehten sich meine Gedanken eher um glühende Eisen und Streckbänke.
Der Auslöser war ein schwedisches Pornomagazin, welches ich unter meiner Matratze entdeckt hatte. Zusammen mit diversen, verkrusteten Flecken auf derselben, an denen ich weniger Gefallen fand. Diese Hinterlassenschaften stammten wohl von meinem Bruder, der sich am Vortag wieder auf hohe See verabschiedet hatte. Und so machte ich mich wieder einmal mit Papas Pitralon über die Flecken und, kurz darauf, mit Interesse über das Pornomagazin her.
In meinen kühnsten Träumen hätte ich mir nicht vorzustellen gewagt, was da Männlein und Weiblein miteinander trieben. Da wurde nicht nur von vorne und hinten, nein, auch von oben und unten und manchmal sogar quer…mir drehte sich der Kopf. Ich war dermassen fasziniert vom Geschehen, dass ich alles um mich herum vergass. Ein Fehler, der sich bitter rächen sollte.
Plötzlich riss mir jemand die Bettdecke vom Kopf und Mama stand über mir. Mit geübtem Blick erfasste sie die Situation, schnappte sich das Heft und klatschte mir das Ding gleich ein paarmal um die Ohren.
Zum Glück hinterliessen die aufgequollenen Seiten des von Körpersäften durchnässten Pornomagazins einen eher dumpfen Schmerz. Kein Vergleich zu den Schulfheftattacken meiner ehemaligen Lehrerin, die einen eher stechenden Schmerz zur Folge hatten, zu dem sich oft sogar noch ein dumpfer Kopfschmerz hinzugesellte. Vielleicht war die erhöhte Schmerzresistenz aber auch darauf zurückzuführen, dass sich mein Blut zu diesem Zeitpunkt weniger im Kopf als den unteren Körperregionen staute. Was immer es war, mein hautfreundliches Pornoheft war ich jedenfalls los.
Natürlich brannte ich darauf, Bürgi an meiner frisch erworbenen Fachkenntnis teilhaben zu lassen. Am meisten beeindruckt hatte mich der Einfallsreichtum einer drallen Dame, die gleich drei Herren auf einmal bediente. Dabei ritt sie auf einem Herrn, der sich auf den Boden gelegt hatte, auf und ab, und befriedigte gleichzeitig zwei weitere Herren, die sich links und rechts von ihr postiert hatten, abwechselnd mit dem Mund.
Bürgi war gleich Feuer und Flamme, als ich ihm am nächsten Morgen während des Unterrichts Bericht erstattete.
„Tatsächlich?“, flüsterte er und leckte sich mit der Zunge über die Lippen, „Drei auf einmal? Zeig mal her.“
„Ich hab dir doch erzählt, dass Mama mir das Ding abgenommen hat.“
Bürgi kniff argwöhnisch die Augen zusammen.
„Du erzählst mir doch keinen Quatsch, oder? Oder hast du dir das alles bloss ausgedacht?“
„Ausgedacht? Wieso denn?“
„Was weiss ich, vielleicht willst du dich ja aufspielen.“
Aufspielen? Hielt mich Bürgi für jemanden, der sich aufspielen musste? Plötzlich war ich in Erklärungsnot.
„Nein, ich sag dir doch, Mama hat sich das Heft geschnappt. Das liegt sicher schon im Müll.“
„Naja, ein bisschen schwer zu glauben ist es schon, gleich drei auf einmal. Welche Frau macht sowas schon.“
„Aber ich hab es dir doch erklärt, wie das geht“, flüsterte ich. „Auf einem reitet sie, und dann hat sie auf jeder Seite einen stehen, dem macht sie es dann mit dem Mund.“
Bürgi kratzte sich am Kinn.
„Also, so recht kann ich mir das nicht vorstellen“, behauptete er, „komm, zeig mal her.“
„Was denn, hier?“, fragte ich und schielte dabei zu Herr Patens, der gerade mit dem Rücken zu mir stand.
„Jetzt mach mal nicht in die Hose“, flüsterte Bürgi, „ich pass schon auf.“
„Also gut“, willigte ich schliesslich ein. „Dass du mich aber bloss warnst, wenn der Kerl sich umdreht, hörst du?“
„Jaja“, winkte Bürgi ab, „jetzt hör auf, rumzujammern und mach hin.“
Ich warf nochmals einen Blick auf Herrn Patens und begann dann, mit meinem Hintern auf dem Stuhl auf und ab zu hopsen.
„Also gut, auf dem einem reitet sie also, und zwar so.“ Dann hielt ich mir meine Hände neben den Kopf. „Und den anderen beiden macht sie es dabei mit dem Mund..“
„Wie meinst du denn, ‚mit dem Mund machen‘?“, wollte Bürgi nun wissen.
„Na, du weisst schon, halt mit dem Mund machen.“
„Komm, zeig mal her, wie das funktioniert.“
Ich liess mich auf den Stuhl zurückplumpsen.
„Verdammt noch mal, du wirst doch wissen, wie das geht?“
„Wie denn? Seh ich aus, als würde ich sowas treiben?“ Er sah mich vorwurfsvoll an. „Und wer war denn derjenige, der zu dämlich war, seine Tür abzuschliessen? Schliesslich weiss jeder Depp, dass man erst die Tür abschliesst, bevor man…äh.“
„Bevor man was?“
„Äh, nichts weiter. Also, wie war das jetzt nochmal mit der Tante?“
„Also gut, aber zum letzten Mal jetzt.“ Ich begann erneut, mit meinem Hintern auf dem Stuhl auf und ab zu hopsen. „Also, auf einem reitet sie..“, keuchte ich. Die verdammte Hopserei ging mir langsam auf die Pumpe. „Und den anderen macht sie es mit dem Mund.“ Ich hielt mir meine Hände neben das Gesicht, streckte meine Zunge raus und tat so, als würde ich links und rechts abwechselnd ein Eis lecken. „Und dabei…“
In diesem Moment sah ich aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung und –zack-, bekam ich noch eine aufs Maul.
Im Nachhinein muss ich zugeben, dass man vielleicht in der Tat nicht den besten Eindruck hinterlässt, wenn man vor seinem Lehrer wie ein Känguru auf dem Stuhl auf- und ab hopst und dabei seine Zunge raushängen lässt. Sowas kann leicht zu Missverständnissen führen.
Auf der Beliebtheitsskala von Herrn Patens rangierte ich nach dieser Episode jedenfalls ganz unten, wo ich mir die letzten Plätze mit Victorio, Thuri und Hansi teilte. Victorio, weil der Sohn eines italienischen Gastarbeiters höllisch gut aussah, was ihn zur beliebten Zielscheibe von Herrn Patens machte, mit dem es die Natur nicht ganz so gut gemeint hatte. Thuri, weil ihn Herr Patens, um es mal so zu sagen, nicht riechen konnte. Und Hansi?
Nun ja, das ist eine andere Geschichte.
Er herrscht gespenstische Stille im Schulzimmer. Nur verhaltenes Atmen und da und dort ein nervös zappelnder Fuss zeugen davon, dass es sich bei den Jugendlichen, die sich über ihre Prüfungsblätter beugen, um Gestalten aus Fleisch und Blut handelt. Herr Patens patrouilliert mit strengem Blick durch die Schulbankreihen. Zufrieden mit sich und der Welt verpasst er dort mal einem zu hektisch wackelnden Fuss einen spielerischen Tritt, streichelt dort mal mit einer Kopfnuss den Hinterkopf eines vorwitzig in das Prüfungsblatt seines Nachbarn schielenden Siebtklässlers. Nichts entgeht ihm. Er ist Lehrer, Kapitän und Diktator zugleich.
Die heutige Prüfung ist eine Semesterprüfung. Entsprechend konzentriert sind die Schüler bei der Sache. Kaum einer traut sich, den Blick vom Blatt zu wenden. Nur das leise Kritzeln von Bleistiften ist zu hören. Ab und zu hustet jemand, verstummt unter dem vorwurfsvollen Blick von Herr Patens aber sofort wieder. Plötzlich durchdringt ein seltsamer Laut die Stille.
„BulipBulipBulipBulip.“
Herr Patens Kopf schiesst herum.
„Was ist das?“, faucht er, „woher kommt das?“
Köpfe werden geschüttelt, ratlose Blicke ausgetauscht. Die Schüler sind verängstigt. Wer es wagt, den Unterricht von Herrn Patens zu stören, ist so gut wie tot.
„BulipBulipBulip“, tönt es erneut.
Herr Patens Stimme überschlägt sich fast.
„Treibt bloss keine Spielchen mit mir, ich warne euch…“ Sein Blick schweift hektisch von einem Schüler zum anderen und bleibt schliesslich auf dem einzigen Schüler haften, der seinen Kopf immer noch gesenkt hält. Hansis Ellbogen zucken, während er an einem geheimnisvollen Gegenstand unter seinem Pult herumhantiert. Er fletscht seine Zähne, ist wie besessen.
„BulipBulipBulip“, macht es, und die Ellbogen zucken einmal links, einmal rechts. „Billi-Billi-Billi-Billi“ tönt es kurz darauf, um ein Zittern in seinem rechten Arm auszulösen, welches sich über den ganzen Oberkörper verteilt. Dann macht es „Tröt-Tröt-Tröt“, was zu einem hektischen Ellbogentanz führt, bevor die Geräusche in einem „BiuuBiuuBiuu-Biuuu“ enden, welches Hansi förmlich in sich zusammensacken lässt. Er verwirft frustriert seine Hände und stöhnt leise. Und weil er dabei seinen Kopf zurückwirft, bemerkt er endlich, dass alle Blicke im Schulzimmer auf ihn gerichtet sind.
Für ein paar Sekunden lang ist es, als hätte Gott auf „Pause“ gedrückt. Keiner rührt sich.
Dann die erste, kleine Bewegung. Hansis Augen wandern nach rechts und kriechen langsam seinen Arm entlang. Dreiundzwanzig Augenpaare wandern mit ihm. Und richten sich schliesslich auf das neuartige Videospiel in Hansis Rechten, welches er zu seinem Geburtstag bekommen hat und seither nicht mehr aus der Hand legen kann.
Und hier, bei den Stichwörtern „Bewegung“ und „Hand“ käme nun wieder Herr Patens ins Spiel.
Die nachfolgende Minute war von Ausgewogenheit geprägt. Ausgewogen deshalb, weil Herr Patens zwar viel brüllte, Hansi aber auch viel schrie. Und ohne dem Ende jetzt vorgreifen zu wollen:
Es wäre es wohl nicht ganz verkehrt, die Szene mit „Game Over für Hansi“ zu betiteln.
Kein Wunder, dass sich, je mehr sich das Schuljahr seinem Ende zuneigte, die Gespräche auf dem Schulhof immer häufiger um den ungeliebten Lehrer drehten.
„Ich sag euch, der Kerl muss weg“, schlussfolgerte Victorio eines Tages.
„Welcher Kerl denn“, wollte ich wissen.
„Na, welcher wohl? Ich rede vom Stronzo Patens. Der Kerl ist so scheisse, dass man seine Fresse für Windelwerbung verwenden könnte, weisst du?“
„Neulich ist er an meinem Pult vorbeigelaufen und hat sich demonstrativ die Nase zugehalten, das blöde Arschloch“, schimpfte Thuri. „Der mit seinem dämlichen Vollbart. Als ob ihm einer ins Gesicht geschissen hätte.“
„Wie lange müssen wir den Kerl noch ertragen?“, fragte Bürgi, „ich denke, der geht in Frühpension.“
Thuri winkte ab.
„Iwo, der Penner ist ja erst Mitte 50, der sieht bloss älter aus. Den werden wir so schnell nicht los.“
„Wenn der Kerl im nächsten Jahr immer noch dabei ist, dreh ich durch“, schimpfte Victorio. „Seit ich bei dem Idiota in die Schule gehe, habe ich nur noch Dreier, weisst du? Wenn der Kerl dich nicht ausstehen kann, hast du kein Chance.“ Er sah besorgt in die Runde. „Jetzt ist schon September und meine Noten sind immer noch nicht gut. Und ich muss euch ja nicht erklären, was das für einen Ausländer heisst.“
Bürgi nickte ernst.
„Vielleicht könnte man ihm wegen seiner ständigen Sauferei was anhängen. Das ist doch nicht normal, sowas.“
„Ha, hört euch den an“, rief Thuri, „der Kerl ist doch gedeckt. Ausserdem hackt eine Krähe der anderen doch kein Auge aus. Der trifft sich doch nach jeder Lektion mit dem alten Müller im Lehrerzimmer und kippt einen Kurzen.“
„Vielleicht hast du ja Schwein und er stolpert im Suff die Treppe hinunter“, grinste ich.
Victorio sah mich nachdenklich an. Seine dunkelbraunen Augen waren auf einmal fast schwarz.
„Vielleicht müsste man nur ein wenig nachhelfen“, sagte er.
Ich traute meinen Ohren nicht.
„Hast du einen Knall“, rief ich, „und wenn er sich den Hals bricht?“
„Ach was“, winkte Victorio ab“, der Affe ist zäher, als er aussieht, weisst du? Ausserdem sind es vom Schulzimmer zum Lehrerzimmer nur drei Stufen…“
„Also, ohne mich“, fuhr ich ihm dazwischen, „ich will damit nichts zu tun haben, hörst du?“
Die Art, wie Victorio grinste, passte mir gar nicht.
„Hast du gehört, Vic?“, fragte ich eindringlich. „Vergiss einfach schnell wieder, dass ich das gesagt habe.“
Leider jedoch sollte schon wenige Tage später eine unglückliche Verkettung von Umständen in einem spektakulären Sturz über besagte drei Treppenstufen resultieren. Es gab da, wenn auch nur insgeheim, mehrere Varianten. In der offiziellen Darstellung des „bedauernswerten Unglücksfalls“ war jedoch nur von „einer dunklen Stunde in der Geschichte des traditionsreichen Schulhauses „Seidentraum“ die Rede. Zugegeben, „Bedauernswerter Unglücksfall“ tönt natürlich besser, als „euer Lehrer ist besoffen die Treppe hinuntergestürzt“. Vor allem über die Lautsprecheranlage.
Es kamen also zusammen:
1) In Fetzen von den Füssen hängende Filzpantoffeln.
2) Ein erheblicher Restalkoholspiegel, der im Verlauf des Tages stetig anstieg.
3) Drei Treppenstufen
4) Ein Lehrerzimmer, welches im Parterre lag.
5) Eine Flasche Korn
Und natürlich Herr Patens, der es kaum erwarten konnte, mit erstem und zweitem über drittes ins vierte zu gelangen, um sich fünftes zu genehmigen.
Gerüchtehalber war auch von einer Schnur die Rede, die jemand gespannt haben soll. Wie gesagt, gerüchtehalber, denn beweisen konnte das nie jemand. Und vielleicht wäre ja auch alles ganz anders gekommen, wenn es Herr Patens an diesem schicksalshaften Tag nicht besonders eilig gehabt hätte, zu seinem Fusel zu kommen. Kaum war die Lektion vorbei, sprang er schon auf und schlurfte, so schnell es auf seinen Pantoffeln ging, aus dem Schulzimmer. Dann hörte man ihn den Gang entlangeilen, plötzlich war ein erstickter Ausruf zu hören und holterdiepolter, war der Säufer prompt die paar Treppenstufen zum Lehrerzimmer hinunter gepurzelt.
Wie beim „Gespenst von Canterville“ hallten kurz darauf seine Wehklagen durch den Gang: „Ahhhh, ohh, auaa..!“
Dann waren schlurfende Schritte zu vernehmen, während er sich unter grossem Gejammer und Gestöhne ins Lehrerzimmer schleppte. Kurz darauf knackste es aus dem Lautsprecher und ein langgezogenes Stöhnen erklang.
„Aaaahhhh, aua, ohh…“
Erneut ein Knacksen, dann hörte man schweres Schnaufen.
(Schnauf, schnauf) „Auah, ohh“ (schnaufschnauf) „Andiii-oooh“ (das galt Herrn Behrens, der gleichzeitig als Sanitäter fungierte), „ooh, auaa“, jammerte er, „bitte Andi (schnaufschnauf) ooh, auaah, ahhh, sofort ins Lehrerzimmer, auahh.ohh.“
Nachdem das letzte Stöhnen verhallt war, herrschte gespannte Stille im Klassenzimmer.
„Der verdammte Vic hat also tatsächlich ernst gemacht“, flüsterte Bürgi. „Sieh an, sieh an, dass hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“
„Das glaubst du doch nicht im Ernst, oder?“, fragte ich. „Sicher tut er nur so.“
„Was tut er?“, fragte Bürgi und deutete mit dem Kinn auf Victorio, „er macht ja gar nichts. Als ob er kein Wässerchen trüben könne. Überleg doch mal, vor ein paar Tagen bringst du ihn auf diese Idee und schon stolpert der Penner die Treppe hinunter.“
„Meine Idee..?“ stotterte ich, „..aber..wieso..“
Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher. War es nicht Victorio gewesen, der mitten in der Schulstunde seine Hand aufgehalten und gefragt hatte, ob er aufs Klo gehen dürfe? Ich sah nochmals zu Victorio, der seinen Kopf tief über ein Schulheft gesenkt hielt. Sah es bloss so aus, oder lächelte er etwa?
„Oh mein Gott“, entfuhr es mir.
Mitfühlende Naturen unter ihnen wird es freuen, zu hören, dass sich Herr Patens damals bei seinem Sturz „nur“ einen verstauchten Knöchel zugezogen hat.
Trotzdem, solche Verletzungen sind nicht zu unterschätzen. Nur zu schnell kann es zu ernsthaften Komplikationen kommen, die eine mehrmonatige Rekonvaleszenz vonnöten machen. Womit wohl auch erklärt sein dürfte, wieso wir Herrn Patens für den Rest des Schuljahres nicht mehr zu sehen bekamen. Chronischer Alkoholgenuss ist, wie man weiss, einer schnellen Wundheilung eher abträglich. Und dass Herr Patens mit seinem verstauchten Knöchel jeden Tag in die Kneipe humpelte, dürfte wohl auch eine Rolle gespielt haben.
So war Herrn Patens die Genesungskarte, die wir ihm geschickt haben, sicher ein grosser Trost. Auch Victorio hat unterschrieben, wobei sein „V“ ungewohnt schwungvoll ausfiel.
Eine geheime Botschaft an Herrn Patens, tuschelte mir Thuri eines Tages auf dem Pausenhof zu. Das „V“ stehe nämlich für „Vendetta“, das sei Italienisch für Rache, erklärte er.
Er schielte zu Victorio und schüttelte sich.
„Mit diesen Italienern legt man sich besser nicht an, die kennen da nichts, sage ich dir.“
Ich sah zu Victorio, der sich mit Bürgi unterhielt. Gerade legte er den Kopf zurück und lachte über etwas, was Bürgi gesagt hatte. Ein Bild der Unschuld. Ob an Thuris Vermutung wohl was dran war und Herr Patens nun die Quittung für sein Verhalten bekommen hatte? In mir regte sich Mitleid, und auch das schlechte Gewissen meldete sich leise zu Wort.
Aber dann fiel mir wieder die Geschichte ein, die uns Herr Patens in der Schule erzählt hatte. Wie er seiner Frau über den Fuss gefahren war. Und was er ihr damals zugerufen hatte.
Selber schuld, wenn man so blöd ist.