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Kapitel 2 – Schatten der Erinnerung

– 1 –

Nachdem sie alle daheim angekommen waren, fiel erst allmählich die eigenartige Trance von ihnen ab. Erst in dem Moment realisierten sie langsam, dass da irgendetwas mit ihnen geschehen war.

Sie schafften es kaum, an sich zu halten, und mussten sich mit den anderen austauschen. Einmal daheim angekommen, wollten sie da jedoch bleiben. Daher eskalierte es in ihrem Gruppenchat und alle tippten exzessiv auf ihre Handys ein.

@Simon> Fühlt ihr auch diese kribbelnde Energie in euch? Ich schaffe es kaum, in Ruhe zu sitzen.

@Marie> Ja, ich weiß nicht, wie ich nachher schlafen soll.

@Lukas> Da sagst du was … Schlafen … ich werde schlimme Alpträume bekommen von dem Ganzen. Da bin ich mir sicher.

Ben schien entgegen seiner sonstigen Art weiterhin keine Angst zu haben. Im Gegenteil. Er schwärmte wieder von den Wesen.

@Ben> Ich habe euch vorhin bereits gesagt, die anderen sind kein Grund für Alpträume. Ich würde mich freuen, sie im Traum wiederzusehen.

Tamara blieb bei ihrer ablehnenden Haltung.

@Tamara> Dann hau du dir mit was Schwerem auf den Kopf, damit du wieder in dieses Traumland kommst.

@Tamara> Die Energie kommt rein vom Adrenalin. Das ist klar. War wahnsinnig erschreckend vorhin.

@Marie> Diese Energie nicht, das hatte ich noch nie. Adrenalin kenne ich zu gut, wenn diese groben Idioten in der Schule wieder hinter mir her sind und Streberschelte spielen.

@Lukas> Ich glaube, wir wissen alle nichts damit anzufangen, was da mit uns passiert ist. Unwirklich genug war es auf jeden Fall, dass es schwer als Realität zu akzeptieren ist. Es ist jetzt vorbei und irgendwem davon erzählen ist unmöglich. Das glaubt uns niemand.

@Simon> Es ist das Beste, wenn wir alle schlafen. Morgen sieht das eventuell anders aus.

Alle wünschten sich lapidar eine gute Nacht und damit war die Diskussion vorerst erledigt.

Simon lag ausgestreckt in seinem zu kurzen Bett und schaute sich in dem winzigen Zimmer um. Die Wohnung seiner Tante war leider deutlich enger als die, in der er früher mit seinen Eltern gewohnt hatte. Er war ihr dennoch übermäßig dankbar, dass sie sich um ihn kümmerte, nachdem seine Eltern verschwunden waren. Er würde sich da kaum beschweren.

Er schaute an die gegenüberliegende Wand, wo ein schmales Regal hing. Das hatte er einst zusammen mit Dad in dessen Werkstatt gebaut. Heute standen darauf seine diversen Pokale von gewonnenen Handballturnieren, mittig der goldene Ball aus der letzten Landesmeisterschaft.

„Bester Spieler des Matchs, Simon Gideon“ stand auf der dahinterstehenden Urkunde und er lächelte, als er das las.

Sein Blick schweifte weiter zu dem Foto an der Wand. Es zeigte ihn zusammen mit seinen Eltern zu der Zeit ihres letzten gemeinsamen Urlaubs in London. Alle drei hatten sie, breit grinsend, vor der Tower Bridge gestanden.

Sein Blick verweilte kurz darauf, bis er sich seufzend davon losriss und zum Lichtschalter griff. Er machte die Augen zu und entgegen seiner früheren Annahme schlief er zügig ein.

– 2 –

Simon fand sich in seinem alten Zimmer wieder, in dem er aufgewachsen war. Sein Dad war bei ihm. „Wann können wir denn endlich los?“, quengelte Simon.

„Das Volksfest läuft uns nicht weg Junge“, antwortete sein Vater ungeduldig.

Zumindest hatte die Vorhersage gestimmt, dass er eine traumreiche Nacht vor sich hatte. Nur kam das Erlebnis von früher am Tag offenbar nicht vor. Er träumte wie gewohnt von seinen Eltern. Der Tag, von dem er diesmal träumte, war drei Jahre her und eine Weile nicht mehr in seinen Träumen aufgetaucht. Es handelte sich um den Volksfestbesuch, als er zwölf Jahre alt war, der sich tief in sein Gedächtnis gebrannt hatte.

Im Traum ließ er nicht locker: „Wir wollten längst unterwegs sein. Nicht dass wir nachher wieder ewig an den Achterbahnen anstehen.“

Charles Gideon, versuchte, seinen Sohn zu beschwichtigen: „Mum braucht nicht mehr lange, sie beeilt sich ja. Wenn du ein bissel geduldig bist, ist nachher ein Abstecher an den Schießstand drin und ich gewinne dir da, was immer du dir wünschst. Deal?“

Simon wusste, dass das ein guter Deal war. Sein Vater war ein wahrer Künstler an diesen Schießbuden. Er gewinnt ihm mit Sicherheit den Hauptpreis.

„Okay! Deal“, sagte Simon, grinste seinen Vater an und die beiden bewegten sich von seinem Zimmer durch die Diele zur Haustür. Sie wohnten zwar in einem von diesen langweiligen Wohnblöcken, aber ihre Wohnung im dritten Stock war mit ihren vier Zimmern schön geräumig.

Da kam endlich seine Mum zu ihnen. „Entschuldigt, dieses neue Kleid. Da waren überall die Preisschilder und Nadeln dran.“ Sie trug ihr neues Sommerkleid und lächelte Simon mit ihrem einnehmenden liebevollen Blick an, den eine Mutter ausschließlich für ihr Kind übrig hatte.

Wie immer vermochte es Simon dann nicht ihr böse zu sein.

Sie schlossen die Wohnungstür, stiegen die drei Etagen des Treppenhauses nach unten zum Auto und waren auf dem Weg.

Die ganze Fahrt war Simon übermäßig aufgedreht und saß kaum im Auto still. „Sind wir bald da?“, fragte er zum gefühlt einhundertsten Mal.

Als sie da waren, war ihnen dennoch ein Parkplatz deutlich weiter vorne, wie es Simon befürchtet hatte, vergönnt. Sie fuhren alle seine Lieblingsachterbahnen sogar zweimal, ohne lange anzustehen.

Simon war glücklich und zufrieden: „Der Tag ist nahezu perfekt. Es fehlt nur, dass du dein Versprechen einlöst Dad.“ Er grinste und zwinkerte seinem Vater zu. „Schau da, hinter dem Zuckerwattestand. Eine Schießbude. Komm schon Dad.“ Er zog ihm, ohne eine Antwort abzuwarten, am Arm und ließ nicht locker.

Nach ein wenig gespielter Gegenwehr ließ sich Charles von seinem Sohn zum Schießstand zerren und gab dem Schausteller zehn Euro für seine Schüsse.

„Ich versuche es mit den bewegten Entchen als Ziel“, kündigte Charles selbstbewusst an. Er zielte nur kurz, schoss und der Schuss streifte die erste Ente an der Ecke, sodass sie widerwillig langsam umfiel. Aber sie war unten. Das zählte. „Ah, sie zieht minimal nach links“, murmelte er für sich. Dann setzte er wieder an und die restlichen Schüsse fielen, ohne abzusetzen, in einer schwindelerregenden Schnelligkeit.

„Alle Enten sind weg“, verkündete der Schausteller überrascht den Umstehenden. „Wir haben hier einen Meisterschützen. Damit dürfen sie sich da von den kleinen Plüschtieren eines aussuchen oder aus den Kisten da vorne.“

„Hey, was ist mit den Hauptpreisen da hinten in der Ecke?“, fragte Simon. „Dad hat alle Enten erwischt, warum bekommt er dann nicht, was er will?“

Der Schausteller antwortete: „Hör zu Junge, die Hauptpreise bekommt man nicht so einfach. Die sind für die Allerbesten vorbehalten.“

„Mein Dad ist der Allerbeste“, verkündete Simon nachdrücklich mit stolzer Stimme. „Nicht wahr Mum? Dad kann niemand das Wasser reichen.“

„Na klar. Dein Vater ist ein Superheld. Der Typ in der Bude ist zu knauserig und rückt die großartigen Preise nicht raus“, bestätigte ihm seine Mutter.

Charles sagte: „Das stimmt Sophia, das ist immer eine gemeine Abzocke an diesen Buden. Aber dem zeig ich es.“ Und an Simon gewandt fügte er hinzu: „Du sollst deinen Hauptpreis bekommen. Versprochen ist versprochen.“

Er rückte dicht an den Schausteller ran und sprach flüsternd, aber unmissverständlich zu ihm. „Okay, mein Freund, ich zahle nochmal doppelt so viele Schüsse, dass ich genug für die zweite Reihe Enten habe und sie drehen die Geschwindigkeit auf Anschlag. Ich habe meinem Sohn den Hauptpreis versprochen. Wenn ich alle erwische, bekomme ich eins von denen, ohne Wenn und Aber.“

Der Schausteller willigte mürrisch in den Deal ein. Hauptsächlich, weil er sich versprach, damit mehr Interessenten an seinen Stand zu locken. Er hatte vor, die Aktion werbewirksam anzupreisen.

„Na mein Junge, schau aufmerksam hin. Such dir einen der Hauptpreise aus“, sagte Charles. Simon betrachtete die Auslage neugierig. Es gab gewaltige Plüschtiere, einen ferngesteuerten Truck sowie eine Legoburg. Ihn beeindruckte das alles nicht.

Doch da entdeckte er, was er wollte. „Da, Dad, siehst du die Rockgitarre? Wow, ist die cool. Die ist es.“ Simons Augen leuchteten. Es war zwar eine Kindergitarre, aber sie sah verdammt echt aus.

„Gut mein Sohn. Dann aufpassen und Daumen drücken“, sagte Charles, zwinkerte Simon zu und schulterte wieder das Gewehr.

„Aufgepasst, aufgepasst, kommen Sie näher Leute. Schaut euch diesen tollkühnen Schützen an“, schrie der Schausteller aus voller Kraft. „Dieser Herr wagt das Unmögliche.“ Er wedelte enthusiastisch mit den Armen und winkte die vorbeiziehenden Volksfestgäste heran. „Die schnellste Geschwindigkeitsstufe, das hat bisher keiner geschafft. Werden Sie Zeugen dieses wagemutigen Versuchs!“

Sophia küsste Charles als Glücksbringer auf die Wange: „Viel Glück Schatz.“ Er lächelte und setzte das Gewehr an.

Die Enten rasten in einer unfassbaren Geschwindigkeit hin und her. Für die meisten Zuschauer waren sie zu fix, um sie zu erkennen. Sie verschwommen vor ihren Augen.

Charles zielte minimal länger und atmete entspannt. Währenddessen wich die Sonne dem Schatten und ein zarter Windzug kam auf. Die ganze Bude schien sich zu verdunkeln. Und viele Schatten streiften langsam über die Ziele an der Wand.

„Oje, das wird knifflig“, dachte Simon und hielt den Atem an. In dem Moment ließ sein Vater seinen Atem allmählich entweichen und schoss. In herrlich gleichmäßigem Takt machte es Peng und jedes Mal hörte man direkt das beruhigende metallische Pling einer umfallenden Ente.

Die Schatten verdichteten sich mit jedem Pling der Enten; die Konturen ließen nach, aber Charles ließ sich nicht ablenken. Er machte unbeirrt weiter. Simon hielt konstant den Atem an und es schmerzte geringfügig in der Brust. Da kamen die letzten drei und peng, peng, peng sowie drei Pling, Pling, Pling.

Die letzte Ente fiel und die umstehende Menge entlud die Anspannung und brach in Jubel aus. Simon atmete in einem Stoß aus und jubelte am lautesten.

Die Sonne hatte ihren Weg wiedergefunden und alle Schatten waren weg, als wären sie niemals da gewesen. Simon war zu fokussiert, um dem Ganzen größere Aufmerksamkeit zu widmen.

Sophia umarmte Charles. „Glückwunsch, mein Revolverheld“, lachte sie. Und zum Schausteller sagte sie mit Nachdruck: „Keine Ausreden mehr. Mein Sohn erhält die Gitarre dahinten.“

„Aber selbstverständlich“, verkündete er an alle Zuschauer gewandt. „Schaut, schaut, der Meisterschütze hier hat den Hauptpreis redlich verdient. Wer vermag es ihm nachzumachen? Wer akzeptiert die Herausforderung und versucht als Nächster sein Glück? Hier gibt es Gewinne, Gewinne, Gewinne. Einer besser als der andere.“ Tatsächlich trauten sich Andere heran und es entstand eine beträchtliche Schlange an potenziellen Kunden vor der Schießbude.

Der Besitzer schritt zu den Hauptpreisen und holte die Gitarre herunter. „Hier mein Junge, die ist für dich. Dein Vater hat sie fair erkämpft. Viel Spaß damit.“ Simon bedankte sich artig und freute sich wie ein Schneekönig über seine neue Gitarre.

– 3 –

„Sophia, ich glaube, wir haben uns alle Zuckerwatte verdient. Findest du nicht?“, fragte Charles.

Sophia antwortete: „Klar, mein Revolverheld und mein kleiner Rockstar bekommen heute alles, was sie sich wünschen.“ Sie ging zum Stand nebenan und kaufte eine mächtige Portion Zuckerwatte. Alle drei zupften sich eine Zeit lang schweigend ihre Stückchen ab und genossen sie sowie die Sonne, die auf sie herunterschien.

Sophia sagte nach kurzer Zeit: „Hier Simon, halt den Rest, du darfst es aufessen, wenn du magst. Ich muss zur Toilette.“

Da schloss sich Charles an: „Gute Idee, ich komm fix mit. Simon, du wartest hier.“

„Klar, kein Problem, ich habe ja meine Zuckerwatte“, kichert er.

Als sich seine Eltern umgedreht hatten, krochen wieder die Schatten heran. Alles verdunkelte sich. Schemenhafte Silhouetten überlagerten die Welt und rangen mit der Realität.

Simon dachte: „Schade, die Sonne war so schön“, hatte aber nur Augen für seine Zuckerwatte. In dem Moment sah er einen der Schatten an seiner Zuckerwatte vorbeihuschen. Da schaute er auf und ein weiterer bewegte sich vor ihm. Die Form war kaum auszumachen. Mal schien es menschlich, mal wie unförmiger Nebel.

Eine Stimme neben ihm klang überraschend unnatürlich doppelt, sodass er dachte, er musste sich verhört haben. „Die beiden dahinten. Los. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Simon schaute sich um, niemand anderem schien irgendetwas aufzufallen. Außerdem sah er niemanden, der das gesagt gehabt haben könnte. „Die Stimme hat sich melodisch angehört“, dachte Simon. „Aber sie hatte einen fiesen Unterton.“

Langsam wurde ihm ungemütlich. Eine unnatürliche Kälte schlich sich ihm in die Knochen und er hoffte, dass Mum und Dad bald wieder da wären. Er schaute in Richtung der Toiletten, sah aber kein Zeichen von ihnen.

Die Luft wurde gefühlt zunehmend dicker und es atmete sich kontinuierlich schwerer. Da hörte Simon ein Klirren von Glas, das aber auch irgendwie metallisch erschien. Gleich darauf zerfielen die Schatten zu Staub und der Druck war aus der Umgebungsluft verflogen. Auch die Sonne war wieder da.

„Was war das?“, rief Simon deutlich hörbar. „Was war das Klirren und wo sind die Schatten hin?“ Eine Frau, die neben ihm stand, schaute ihn an, als wäre er verrückt geworden.

„Was willst du Junge? Fantasierst du?“, fragte sie und nahm deutlich Abstand zu ihm ein.

Da seine Eltern immer noch nicht zurück waren, packte ihn langsam die Angst. Er dachte zwar: „Mensch Simon, du bist elf Jahre alt, das ist lächerlich Angst zu haben, weil Mummy und Daddy ein paar Minuten weg sind.“ Er drehte sich dennoch zu den Toiletten und nach kurzem Zögern flitzte er rüber und suchte seine Eltern.

Leider war nichts von ihnen zu entdecken. „Muuum, Daaad“, rief er. Keine Antwort. Dabei war das ein billiges transportables Klohäuschen, die hätten ihn da drin hören müssen. Seine Panik wuchs ständig weiter. Allen logischen Erklärungsversuchen zum Trotz schaffte er es nicht, sich dagegen zu wehren.

Im Traum rannte er zunehmend hektischer umher und rief nach seinen Eltern, während die Panik ins Unermessliche stieg.

– 4 –

Im Bett in der Gegenwart warf sich Simon wild umher und zerwühlte das ganze Bettzeug. Schweißgebadet wachte er auf.

„Muuum, Daaad!“, rief er nochmal kräftig in die Dunkelheit seines Zimmers. Seine Tante Olivia kam an die Tür, steckte den Kopf durch den Spalt und fragte: „Simon, alles in Ordnung? Ich habe dich rufen gehört.“

„Alles klar, es war nur ein Alptraum“, beruhigte Simon sie. Er selbst war alles andere als beruhigt. „Okay, dann ist alles wieder in Ordnung? Kann ich dir noch irgendetwas bringen?“, fragte seine Tante. „Nein, ist schon gut. War nur ein Traum“, bestätigte er erneut, auch um sich selbst zu vergewissern.

„Na dann schlaf gut weiter, mein Junge“, sagte Olivia mit sanfter Stimme.

Nach Schlaf war ihm nicht zu Mute. „Oh Mann, davon habe ich ja seit Ewigkeiten nicht mehr geträumt. Und wenn, dann nie so lebhaft“, dachte er sich.

„Und an die Schatten erinnere ich mich erst recht nicht“ er erschauderte und zog sich die Decke weiter bis ans Kinn. „War das mein Kopf, der die heutigen Erlebnisse im Traum mit dem Tag vor drei Jahren verbunden hat? Waren die damals wirklich da und ich habe das im Licht all der Ereignisse später vergessen?“

Er wusste nur eins, an dem Tag hatte er so lange gerufen, bis er die Aufmerksamkeit der Leute erregt hatte. Der Sicherheitsdienst des Volksfestes hatte ihn im weiteren Verlauf befragt und zu guter Letzt die Polizei gerufen. Doch auch die waren machtlos. Man hatte seine Eltern ausgerufen und die Polizisten hatten das ganze Volksfest durchsucht. Nachdem alle Gäste am Abend das Festgelände verlassen hatten und von seinen Eltern keine Spur zu finden war, hatte man sie offiziell als vermisst gemeldet und seine Tante Olivia angerufen.

Leider war das auch schon alles gewesen. Man hatte sie nie gefunden. Nicht mal irgendwelche Hinweise hat es in den folgenden Jahren gegeben.

Seither lebte Simon bei seiner Tante Olivia Gideon. Die Schwester seines Vaters hatte nach ihrer Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen und wohnte seitdem in ihrer Nähe. Simon hatte bereits davor eine enge Beziehung zu seiner Tante gehabt. Danach setzte sie alles daran ihm die erste Zeit zumindest erträglicher zu gestalten, bis er sich damit abgefunden hatte, dass seine Eltern für immer weg waren.

Er grübelte, da ihm eine spezielle Frage keine Ruhe ließ. Haben die komischen Wesen, die er an dem Tag mit seinen Freunden gesehen hatte, irgendetwas mit dem Verschwinden seiner Eltern zu schaffen? Oder hatte ihm sein Gehirn einen blöden Streich gespielt. Er grübelte, bis die Müdigkeit langsam zurückkam.

Er gähnte ausgiebig und beim Einschlafen schaute er kurz auf die Gitarre in der Ecke, bevor ihm die Augen wieder zufielen. Der letzte Gedanke, der ihm durch den Kopf schwebte, war: „Mein kleiner Rockstar bekommt heute alles, was er sich wünscht …“ Er schlief mit einem Lächeln ein, aber eine einsame Träne floss ihm aus dem Augenwinkel.

– 5 –

Am nächsten Morgen waren die Schrecken der Nacht verblasst. Simon stand erst gegen halb zehn Uhr auf. Als er in die Küche kam, fand er Müsli, eine Schüssel sowie eine Packung Milch für ihn bereitgestellt. Seine Tante stand deutlich früher auf und hatte bereits gefrühstückt. Bestimmt war sie zum Markt gefahren.

Simon holte sich etwas frischen Saft aus dem Kühlschrank und setzte sich an den Küchentisch. Sein Platz wurde von der Sonne erwärmt und er träumte gelassen, ohne konkrete Gedankengänge, vor sich hin, während er frühstückte.

Als er fertig war, holte er sein Handy heraus und schrieb im Gruppenchat:

@Simon> Hey Leute, seid ihr wach?

@Simon> Wollen wir nachher in den Park? Es ist schließlich die letzte Ferienwoche, das sollten wir nutzen, oder?

Die anderen waren einverstanden und planten, sich um ein Uhr zu treffen.

Simon ging ins Bad und stand eine Weile vorm Spiegel. Er duckte sich etwas. Da er mit 1,88 deutlich größer als seine Tante war, hing der Spiegel für ihn zu tief. Er betrachtete seine zotteligen gewellten rotbraunen Haare, die nach Bettfrisur aussahen. Das war aber seine normale Frisur. Einen Kamm sahen die nur sporadisch.

Er warf sich eine Hand voll Wasser ins Gesicht, was ihn gleich mehr aufweckte. Beim Anblick seiner Haut, die am Ende der Ferien noch recht blass war, dachte er: „Na, ausreichend braun werde ich ja nie, das ist echt unfair.“

Simon war schlank und drahtig. Ganz der Sportler. Er warf sich ein zweites Mal Wasser ins Gesicht und kam langsam in die Gänge. Er putzte sich flink die Zähne und sprang unter die Dusche. Als er fertig war, suchte er sich ein weißes lässiges T-Shirt und eine dunkelblaue Jeans heraus. Die Surfer Halskette, die er immer trug, holte er sich vom Nachttisch und damit war er bereit.

Der Weg zum Park war für ihn nur zehn Minuten mit dem Fahrrad, somit wäre er zu früh dort gewesen, wenn er sofort losgefahren wäre. Aber er konnte da auf die anderen warten. Das war besser, als bei dem Wetter länger drinnen zu bleiben.

Er legte seiner Tante einen Zettel hin und machte sich auf den Weg.

Er nahm die Pfade durch die Hinterhöfe seines Wohngebiets. Das war besser, als an der Hauptstraße Fahrrad zu fahren. Zwischen den ganzen Wohnblöcken gelangte die Sonne nie komplett bis auf den Boden. Als er das Viertel verließ und zum alten innerstädtischen Flugplatz kam, der mittlerweile als Park genutzt wurde, hellte sich alles merklich auf und er dachte: „Das wird nochmal ein wunderschöner Sommerferientag.“

Er fand eine einzelne Baumgruppe auf der weiten offenen Rasenfläche und wählte diesen Platz. Mangels Fahrradständer wurde sein altes Gefährt unter den Baum gelegt und er platzierte sich daneben in den Schatten. Er schloss die Augen und genoss einen Luftzug, der sehr erfrischend war.

„Hi Simon“, riss ihn nach Kurzem eine hohe Stimme aus seinen Gedanken. Er machte die Augen wegen der Sonne langsam auf. „Ah Marie, hi, wie geht’s?“

„Gut“, antwortete Marie. „Ist sonst keiner da?“, fragte sie.

Simon antwortete mit einem verschmitzten Lächeln. „Na du bist wie immer pünktlich wie die Maurer.“ Und mit einem kurzen Blick auf die Handyuhr ergänzte er: „Dreiviertel eins, du kennst die andern. Maximal von Ben könnte man erwarten, dass er bis ein Uhr hier ist. Aber die beiden Turteltäubchen wären in einer halben Stunde noch pünktlich für ihre Verhältnisse. Ich weiß nicht, wer von den beiden länger für seine Haare braucht.“

„Ah, stimmt“, murmelte Marie und lächelte verlegen. Sie hatte eine eigene Decke dabei, die sie auf dem Boden ausbreitete und sich draufsetzte. Marie trug ein unauffälliges beigefarbenes Kleid. Es war knielang mit kurzen Ärmeln. Sie saß still auf ihrer Decke und schaute über die weite Grasfläche des Parks.

„Bist du hergelaufen?“, fragte Simon. „Ja, ich war noch in der Bibliothek und die liegt auf halbem Weg.“

„Hast du was Interessantes zum Lesen gefunden?“, fragte er weiter.

„Ach, ich habe schonmal was wegen der Schule für nächste Woche geschaut. In Geschichte kommen nach den Ferien die Napoleonischen Kriege dran“, antwortete Marie verlegen.

Simon ließ sich grinsend zurück ins Gras fallen. „Ach Mariechen, du bist unverbesserlich. Noch sind Ferien. Genieß das, solange du kannst.“

Da kam Ben um die Ecke auf die beiden zu und winkte fröhlich. „Hi Leute, da seid ihr ja. Seid ihr schon lange da?“, fragte Ben.

„Ich bin erst gekommen“, antwortete Marie. „Simon faulenzt hier schon eine Weile im Gras rum.“ Marie wirkte gleich auffällig lebendiger, seit Ben da war.

„Puh, ist das heiß heute“, stöhnte Marie und rutschte an den Rand ihrer Decke, um Platz zu machen. „Hier Ben, da ist Platz für dich, wenn du magst.“

„Danke“, antwortete Ben und setzte sich neben Marie. Er schnaufte und setzte sein Basecap ab, um sich damit Luft zuzufächeln. „Dafür habe ich auch was, um dir bei der Hitze zu helfen. Warte“, sagte Ben und kramte in seinem Rucksack. „Meine Mum hat mir die kleine Kühltasche eingepackt, mit Eis drin. Du magst doch Erdbeere oder Marie?“

„Ja super“, freute sie sich und lächelte Ben glücklich an. Er gab es ihr und nahm sich selbst ein Schokoeis.

„Und was ist mit mir?“, fragte Simon gespielt beleidigt. „Was kann ich dir bieten für ein kühles Eis? Eine Decke habe ich leider nicht und eine Frau bin ich leider auch nicht“, lachte er. Ben schaute Marie verlegen an und auch sie errötete und schaute zur Seite. Da antwortete Ben eilig: „Ach, schon gut, du bekommst auch eins. Was magst du?“

„Schoko bitte. Danke schön“, antwortete er.

Simon hatte recht gehabt, was die andern beiden Freunde anging. Sie verspäteten sich fürchterlich. Ben, Marie und er hatten längst ihr Eis aufgegessen, bis Lukas und Tamara da waren.

Als sie ankamen, sahen sie wieder aus, als ob sie schick zum Essen ausgehen wollten, anstatt Eis auf einer Wiese sitzend zu schlecken.

Simon begrüßte sie, wie üblich, ohne sich einen Seitenhieb zu verkneifen: „Na ihr zwei, die Haare sitzen gut. Hoffentlich bleibt das, bis ihr nachher zu dem Empfang kommt, oder sind die Sachen eher was für das Theater?“

„Ach Simon, du verstehst das nicht“, gab Tamara schnippisch zurück. „Nicht jeder hat das Bedürfnis, wie ein mittelloser Surferboy auszusehen.“

„Na los, setzt euch. Habt ihr eine Decke dabei?“, fragte Ben. Das hatten sie, breiteten diese neben den anderen aus und setzten sich.

Nachdem die beiden Neuankömmlinge ihr Eis von Ben erhalten hatten, unterbrach Marie nach einem Moment das Schweigen. „Mich brennt es, die ganze Zeit zu fragen. Wie habt ihr die Nacht geschlafen?“

Tamara antwortete kurz angebunden: „Ging schon. Eigentlich ganz gut.“ Marie schaute sie an und sah die übermäßige Schminke um die Augen, die nur schwer die müden Augenränder verdeckte. Aber sie sagte nichts.

Lukas hingegen gab ausweichend zu, dass es nicht so gut bei ihm gewesen war. „Mein Schlaf war eher aufgewühlt, aber ich erinnere mich an nichts Konkretes, falls ich geträumt habe.“

Ben sagte: „Ich habe leider nicht geträumt. Nicht von den anderen und auch sonst nichts.“

Darauf erwiderte Marie: „Sei froh. Ich weiß, du hättest sie gern wiedergesehen, ich hatte schlimme Alpträume. Nicht direkt von denen. Ich wurde im Traum permanent verfolgt. Ich habe nur nie gesehen, wer oder was es war. Es waren düstere Schatten und ich bin die ganze Zeit panisch geflohen. Ich kam kaum vom Fleck und die Schatten kamen dauernd näher. Bis ich letztendlich schweißgebadet aufgewacht bin.“ Sie erschauerte bei der Erinnerung. „Und bei dir Simon?“, fragte sie.

Er zögerte mit der Antwort und sagte dann: „Bei mir war es ganz eigenartig. Ihr kennt ja die Geschichte von meinen Eltern?“ Alle nickten verlegen.

„In letzter Zeit habe ich kaum damit Probleme gehabt und erst recht keine Alpträume mehr wie in der ersten Zeit. Doch gestern habe ich wieder furchtbar lebendig davon geträumt. Beinahe real hat es gewirkt. Mehr als sonst im Traum. Aber nicht nur das. Die Schatten und die komischen Stimmen kamen darin vor.“

Simon erzählte den anderen vier seinen Traum im Detail und seine Überlegungen, was das zu bedeuten gehabt haben könnte. Doch alle waren sich einig, dass das eine Kombination der Erlebnisse vom Vortag gewesen war, was ihm in der Nacht einen Streich gespielt hatte.

Simon lehnte sich wieder zurück ins Gras und hing seinen Gedanken nach. „Es ist zu verlockend für mein Unterbewusstsein, sich einzureden, Mum und Dad leben in einer anderen verrückten Parallelwelt und warten dort auf mich. Das ist klassische Verdrängung und eindeutig Unsinn.“

Die Schatten von Paradell

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