Читать книгу Die Schatten von Paradell - Sebastian Möller - Страница 9

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Kapitel 4 – Rückkehr

– 1 –

Samstagmorgen. Neun Uhr. Ben Lindner, der an diesem Tag fünfzehn Jahre alt geworden war, schlief tief und fest. Ein schwankender Lichtschimmer schien in seinem Zimmer. Das Aquarium in der Ecke leuchtete in der Nacht konstant und wenn die Fische an der Lampe vorbeischwammen, erzeugte das schaurige Schatten. Geräuschlos und gemächlich öffnete sich seine Zimmertür, aber niemand trat ein. Die Vorhänge an seinem Fenster wehten weit in den Raum durch den spärlichen Luftzug, der durch die offene Tür kam. Im Wind quietschte die Tür in den Angeln. Das Geräusch wirkte lauter durch die absolute Stille, die ansonsten herrschte.

Ben regte sich dadurch und aufgrund des Lichts, was durch den zur Seite gewehten Vorhang in das Zimmer strömte.

Plötzlich unterbrach ein Lied die Stille, das erst schwach ertönte und langsam an Kraft gewann.

Die Melodie weckte ihn endgültig und er schlug die Augen auf. Kurz war er noch etwas verwirrt, aber er erkannte die Melodie sofort und grinste über das ganze Gesicht.

In dem Moment wurde seine Zimmertür vollständig aufgestoßen und seine Eltern kamen herein. Sie sangen: „Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday lieber Ben, happy birthday to you.“

Seine Mum hielt ein winziges Törtchen mit einer Kerze in der Hand und lächelte ihn liebevoll an. Als das Lied aus dem Bluetooth-Lautsprecher zu Ende ging, sagte sie: „Alles, alles Liebe zu deinem Geburtstag mein Schatz. Wir wünschen die ganz viel Glück, Freude und Gesundheit im neuen Lebensjahr.“

Sein Vater schloss sich an: „Alles Gute. Ich hoffe, du hast heute einen wunderbaren Tag mein Sohn.“

Ben konnte kaum mehr grinsen, ohne schwere Gesichtslähmung zu riskieren. Er war übermäßig gerührt. „Danke, danke, vielen Dank, Mum und Dad. Das ist so lieb von euch.“

Seine Mum gab ihm das Törtchen und sagte: „So hier schon einmal eine kleine Kerze zum Üben und eine Kleinigkeit zum Naschen. Zum Frühstück gibt es dann die richtige Version.“

„Kann ich mir somit zweimal was wünschen?“, fragte Ben und lachte. „Du kannst es versuchen, aber du kannst auch einen ganz wichtigen Wunsch doppelt verstärken“, schlug sein Dad vor.

Ben nahm das Törtchen und dachte an die wenigen Bilder, an die er sich von Paradell erinnerte. Er pustete mit geschlossenen Augen und die Kerze erlosch.

Clara Lindner war eine kleine, etwas untersetzte Frau mit einem herzerwärmenden Lächeln. Sie sah aus, als würde sie in jeder Klischeewerbung für Backwaren die Hausfrau mit der Schürze spielen, die den frisch gebackenen duftenden Kuchen ins Fenster zum Abkühlen stellte.

Sie setzte sich neben ihren Sohn aufs Bett und nahm ihn in den Arm. „Mögen alle deine Wünsche in Erfüllung gehen, mein Liebling.“

Ben biss behutsam in den Kuchen, um das Bett nicht vollzukrümeln, und das Lächeln wurde wieder breiter.

Bens Vater Thomas, ein mittelgroßer Mann mit runder Brille, dessen Haare bereits früh licht geworden waren, trat ans Bett und legte die Hand auf Bens Schulter. „Na dann mein Sohn, möchtest du weiterschlafen oder kommst du zum Frühstück?“ Ben antwortete mit einem Zwinkern. „Ich weiß nicht, lohnt es sich, das gemütliche Bett zu verlassen?“

„Hm, da steht ein Tisch mit komischen Kisten, die in allerlei grellbuntes Papier gewickelt sind. Ich habe keine Ahnung, was der Quatsch soll, aber wenn du dir das anschauen willst, müsstest du leider aus dem warmen Bett kommen“, sagte Thomas.

Da stand Ben schnell auf und sagte: „Na das weckt meine Neugier, wer hat sich denn da einen Scherz erlaubt und solch irres Zeug in unserer Wohnung platziert?“

Sie lachten alle drei vergnügt und gingen durch den Flur in das Esszimmer. Und tatsächlich, ein erheblicher Berg Geschenke war auf dem Esstisch aufgebaut worden und davor stand eine große leckere Torte mit viel Schokolade, auf der fünfzehn Kerzen brannten.

„Gut, jetzt hast du ja geübt. Nun mal los und alle auf einmal auspusten“, sagte Thomas zu seinem Sohn.

Ben trat an den Tisch und dachte wieder an Paradell. Er schloss die Augen und atmete tief ein. Da erschien vor seinem inneren Auge ein Bild von Angrowin aus seiner Erinnerung. Er hielt kurz inne und dachte: „Wenn ich sie und ihre Welt nur noch einmal wiedersehen könnte.“ Da pustete er mit aller Kraft über die Kerzen und schaffte es, sie alle zu löschen.

Thomas und Clara klatschten erfreut und klopften ihrem Sohn auf die Schulter. „Gut gemacht Schatz, was auch immer du dir gewünscht hast, muss ja jetzt in Erfüllung gehen“, sagte seine Mutter.

Ben schaute sie an und sagte: „Na dann drücken wir die Daumen.“ Dabei dachte er: „Wenn du wüsstest, aber das würdest du mir sowieso nicht glauben.“

– 2 –

Als das Frühstück beendet war, ging Ben ins Bad und begann sich für die bevorstehende Feier vorzubereiten.

Seine Eltern hatten in der Bowlinghalle die einzelne, für private Feiern abgetrennte Bahn gemietet. Sie wurde für den Geburtstag bunt geschmückt. Vorher war es geplant, dass sich alle im zur Bowlinghalle gehörenden Restaurant zum Essen trafen.

Um elf Uhr, eine halbe Stunde vor der Abfahrt, stand Ben vor seinem Kleiderschrank. Er sah unschlüssig hinein. Dann griff er, mehr aus Reflex als mit einer wirklichen bewussten Entscheidung, zu seinem Lieblings-T-Shirt und den ausgeblichenen Jeans, die er immer in der Schule trug. Legte sie auf das Bett und schaute erneut in den Schrank. Im obersten Fach lag Stevies Basecap mit der Mickey Maus. Er griff danach und schaute es verträumt an.

„Nein heute nicht. Es tut mir leid Stevie, Simon hat recht. Heute bleibt die Mütze im Schrank“, sagte Ben in das leere Zimmer hinein. Er legte das Cappi zurück und stand selbstbewusster, mit voller Energie, vor dem Schrank und schaute in den Spiegel. „Langsam wird es Zeit, erwachsener zu werden, Ben“, sagte er zu seinem Spiegelbild und lächelte.

Er suchte nach dem Poloshirt, das er sich vor einem Monat mit seiner Mum ausgesucht hatte, was er bisher nie angezogen hatte. Als er es fand, nahm er noch die neue moderne Jeans dazu und zog beides an. Und tatsächlich. Er sah wieder in den Spiegel und war äußerst zufrieden, was er da sah. Er wirkte gleich zwei Jahre älter. Er zwinkerte seinem Spiegelbild zu. Im Augenwinkel sah er etwas hinter sich im Spiegel, als wäre da jemand in seinem Zimmer gewesen. Erschreckt drehte er sich um, aber da war niemand. Er war allein im Zimmer.

„Hallo?“, fragte er verunsichert. Doch es antwortete niemand. Ben schüttelte den Kopf, um ihn wieder frei zu bekommen. Er schaute im Spiegel auf das darin sichtbare Aquarium. „Sicherlich nur die Bewegung der Fische“, versicherte er sich in Gedanken. Er verstaute die alten Sachen im Schrank und ging ins Bad. Dann legte er seine Brille zur Seite und kämmte sich die Haare. Sie waren stets zerzaust. An diesem Tag benutzte er jedoch Kamm und Haarwachs. Nachdem er seine Brille wieder aufhatte, fühlte er sich bereit für den Tag.

Er ging zu seinen Eltern ins Wohnzimmer. Als seine Mutter ihn bemerkte, weiteten sich ihre Augen vor Erstaunen. „Oh Schatz, du hast ja die neuen Sachen angezogen. Du siehst großartig aus.“ Sein Vater nickte anerkennend und sagte: „Na dann können wir ja los. Wann kommen denn die Winters?“

Die Familie Winter wohnte im Haus unter ihnen und Ben war von klein auf mit deren Sohn Franz befreundet gewesen. Er war auch zur Geburtstagsfeier eingeladen. Clara und Thomas hatten seine Eltern gefragt, ob sie mitkommen wollten. Dann hätten sie jemanden, mit dem sie den Nachmittag verbringen könnten, und würden die Kinder in Ruhe unter sich lassen.

Zwei Minuten später klingelte es und die Winters standen abfahrbereit vor der Tür, als Thomas sie öffnete. „Wo ist denn das Geburtstagskind?“, fragte Andreas, der Vater von Franz. „Da bin ich schon“, kam es aus der Wohnung und Ben trat neben seinen Vater. „Alles Gute zum Geburtstag Junge. Fünfzehn Jahre. Mann, euer Kleiner wird erwachsen, was Thomas?“

Lachend antwortete er: „Ja, man will es gar nicht wahrhaben, bis es so weit ist.“

Sie fuhren alle zur Bowlinghalle. Während sie auf den Parkplatz abbogen, sah Ben ein Mädchen, das mit einem bunten Päckchen in der Hand allein am Rand stand. Es war Marie. Als sie das Auto der Lindners erkannte, winkte sie ihnen zu.

Ben stieg aus und rannte zu ihr. „Hi Marie, schön dass du da bist. Wartest du schon lange?“

„Nein nein, nur ein paar Minuten. Alles Gute zum Geburtstag Ben“, sagte sie und lächelte ihn an. Dann schaute sie verlegen auf ihre Füße und sah dabei das Geschenk an, das sie in der Hand hielt. „Ah ja, ich habe dir auch etwas mitgebracht. Ist nur eine Kleinigkeit. Aber ich habe es selbst gemacht.“ Ihre Gesichtsfarbe verschob sich deutlich in Richtung rot und sie drückte Ben das Päckchen in die Hand. „Vielen Dank Marie“, sagte Ben und stand unbeholfen da. Dann umarmte er sie doch noch kurz und sie gingen gemeinsam rein.

Drinnen war es ruhig, da mittags nicht viele Bowler in der Halle waren. Momentan interessierten sie sich aber noch nicht für die Bowlingbahnen. Sie gingen an ihnen vorbei zu dem Restaurant am anderen Ende der Halle.

„Hallo Miss, Ben Lindner, wir haben einen Tisch reserviert“, sprach Ben eine Kellnerin an. Sie drehte sich um und erkannte ihn. „Oh hallo, du musst das Geburtstagskind sein. Alles Gute. Kommt, euer Tisch ist der da hinten in der Ecke.“

Ben und Marie setzten sich und die anderen kamen kurz darauf dazu. „Nun Marie, dann schauen wir doch mal, was ich da von dir bekommen habe“, sagte Ben. Er packte das Geschenk behutsam aus und achtete darauf, das Papier nicht zu zerreißen.

„Ein Buch“, sagte Ben, unsicher was er davon halten sollte. „Memories steht darauf. Was ist das?“

Marie, gleich wieder mehr rot im Gesicht, antwortete: „Na Erinnerungen. Ich habe ein Album gemacht, das alle Bilder enthält, die ich von uns finden konnte. Also von Simon, Lukas, dir und mir. Ach ja und von Tamara auf den letzten Seiten auch. Da sind all unsere Erlebnisse aus den letzten Jahren drin. Es ist also eine Art Freundschaftsbuch.“

Ben wusste nicht, was er sagen sollte. Er war viel zu sehr gerührt und blättert im Buch, um darüber hinwegzutäuschen. Als er doch noch seine Stimme wiederfand, war sie zwar brüchig, aber er schaffte es, zu sagen: „Oh Marie, vielen lieben Dank dir. Das ist so großartig.“ Ohne darüber nachzudenken, schloss er sie in die Arme und drückt sie fest an sich. Marie war vollkommen überrascht und verkrampft. Dann ließ sie locker und lächelte über das ganze Gesicht. „Sehr gern Ben. Ich hatte selbst so viel Freude beim Erstellen und Erinnern. Ihr seid einfach das Wichtigste in meinem Leben.“

– 3 –

Ben nahm das Buch erneut zur Hand und begann zum zweiten Mal es durchzusehen. „Wahnsinn, was man wieder alles vergessen hat. Hier schau mal. Der Tag am See vor zwei Jahren. Simon wäre fast gestürzt, als er auf den Baum kletterte, um von da ins Wasser zu springen.“

In dem Moment kam Simon, wie als hätte er es gehört, zur Tür herein. „Hey, Ben mein Kurzer. Alles Gute zum Geburtstag wünsch ich dir. Unser kleiner Ben schon ganze fünfzehn Jahre alt“, spottete er und lachte herzlich über seinen eigenen Humor.

„Was heißt hier Kleiner? Du wirst erst im Herbst fünfzehn. Nur weil du so ein Riese bist, brauchst du nicht alle anderen runtermachen“, antwortete Ben und setzte ein gespielt beleidigtes Gesicht auf. „Ach jetzt hab dich nicht so. Happy Birthday Ben“, sagte Simon und begrüßte ihn mit einem Handschlag.

Als Geschenk hat er ihm ein neues Cappi mitgebracht. „Ich weiß, du magst Mickey Maus. Und ich werde dich deswegen nicht mehr aufziehen. Aber wenn du es doch mal leid sein solltest, hättest du damit eine Alternative.“ Er zwinkerte Ben zu und bemerkte dabei erst, dass er das alte Basecap gar nicht aufhatte und allgemein so gut gekleidet war. „Ach, jetzt bemerk ich erst, dass ich offensichtlich zu spät komme. Du bist bereits shoppen gewesen. Gut siehst du aus.“

„Danke, aber ein neues Cappi fehlt mir tatsächlich noch dazu“, sagte Ben und setzte es auf. „Sieht hübsch aus“, bemerkte Marie.

„Wer sieht hübsch aus? Unser Ben, na das glaub ich doch nicht“, kam es aus Richtung der Tür von Tamara, die in dem Moment mit Lukas eingetroffen war.

Alle drehten sich um und erblickten die beiden. „Hey ihr seid ja richtig pünktlich“, rief Simon. Die beiden Neuankömmlinge kamen zum Tisch.

„Alles Gute mein Bester“, sagte Lukas und klopfte Ben auf die Schulter. „Hier eine Kleinigkeit von uns beiden. Tamara hat sich daran erinnert, dass du die so magst.“

„Ja wir hoffen, du hast die noch nicht. Alles Gute auch von mir Ben“, schloss sich Tamara an.

Ben packte das Geschenk aus und seine Augen leuchteten: „Nein, das sind ja die neuen Bücher aus der Gänsehaut Reihe. Die habe ich noch nicht. Die lese ich seit Jahren. Früher habe ich die immer Stevie vorgelesen. Es sind zwar Kinderbücher, aber für die werde ich wohl nie zu alt.“

Ben freute sich wie ein Schneekönig. „Vielen lieben Dank euch. Auch euch Andern nochmal. Das ist bereits jetzt der schönste Geburtstag, bei den Geschenken. Aber nun lasst uns was essen. Ich verhungere.“

Sie riefen die Kellnerin heran. Da es ein mexikanisches Restaurant war, wurden viele Burger, Fajitas und Burritos bestellt. Zusätzlich ein paar Platten Fingerfood, die sie für alle in die Mitte stellen wollten.

Als das Essen kam, konnten es die meisten kaum erwarten anzufangen. Doch Bens Mutter Clara ergriff das Wort. „Ich freue mich, dass ihr alle zu Bens Geburtstag kommen konntet. Freunde sind doch das Wichtigste im Leben und ich bin froh, dass ihr das für meinen Jungen seid.“ Nach einer kurzen Pause ergänzt sie mit etwas unsicherer Stimme: „Nach dem Ganzen mit Stevie bin ich so stolz, wie du dich gemacht hast Ben. Ich liebe dich von ganzem Herzen, mein Junge und wünsche dir nur das Beste im Leben und das eure Freundschaft ewig hält.“

Mit einer Träne im Augenwinkel sagte Ben: „Danke dir Mum. Das hoffe ich auch, aber jetzt lasst uns essen. Auch von mir, Danke für euer Kommen und jetzt haut rein.“

Das ließen sich die Gäste nicht zweimal sagen.

Als der erste Hunger vorüber war, wurde die Stimmung gelassener und alle redeten durcheinander. Ben rief zu Lukas. „Hey Lukas, hast du gesehen, was Marie mir geschenkt hat? Das ist echt cool. Schau dir mal die Bilder an.“ Er reichte das Buch weiter. Lukas und Tamara schauten es durch und lachten bei den witzigen Erinnerungen. „Haha, so sahst du damals aus. Na, ich weiß nicht, ob ich dich da schon gemocht hätte“, sagte Tamara zu Lukas.

„Pah, das ist fünf Jahre her und damals rannten alle so rum. Die coolen Kids waren wir so zwar nie an der Schule, aber wer braucht das schon“, lachte er als Antwort.

„Das ist echt super Marie. Hast du einen Onlineshop, in dem ich deine Bücher bestellen kann?“, fragte Simon.

„Nein, aber wer weiß. Vielleicht lässt sich da was machen, dass du auch eines bekommst. Dann musst du ab jetzt halt lieb zu uns sein“, antwortet Marie selten schlagfertig.

– 4 –

Nach dem Essen gingen sie alle zu ihrer reservierten Bowlingbahn. Der ganze Raum war von den Angestellten großartig geschmückt worden. Viele bunte Luftballons mit „Happy Birthday“ Schriftzug schwebten an der Decke verteilt, sowie an jeder Wandlampe hingen weitere. Lange Girlanden und Unmengen Luftschlangen vermehrten die Farbenpracht. Insgesamt war der Raum wirklich sein Geld wert. Abgesehen davon, dass man hier für sich war, gab es eine deutlich bessere Einrichtung als an den normalen Bahnen. Gemütliche Sofas standen verteilt und es gab ein paar zusätzliche Gerätschaften wie Kickertische, um sich die Wartezeit zu vertreiben, wenn man gerade nicht dran war. Ein bescheidener Barbereich am hinteren Ende des Raums war perfekt für die Eltern. Dort konnten sie sich abseits der bowlenden Jugendlichen in Ruhe unterhalten.

„Viel Spaß euch Kindern, wir lassen euch mal in Ruhe“, sagte Thomas und die Erwachsenen setzten sich an die Tische.

Simon sprang auf eines der Sofas und legte sich quer darauf, den ganzen Platz für sich beanspruchend. „Das ist mein Sofa. Wo wollt ihr sitzen?“, fragte er. „Nichts da“, antwortete Lukas. „Für die Aktion kannst du gleich mal den Spielcomputer mit unseren Namen befüllen, sodass wir anfangen können.“

„Du hast heute gar nichts zu sagen“, weigerte sich Simon und lachte. Da sprang Ben ein: „Na gut, wenn du es so willst. In meiner Funktion als Geburtstagskind. Simon, los trag die Namen ein.“

„Dass du deine Macht so ausnutzt, hätte ich nicht von dir erwartet mein Lieber“, sagte Simon und spielte den Beleidigten. Er stand dennoch auf und bereitet die Anzeige vor. „Gut Franz. Na dann. Du darfst beginnen“, sagte er, als er fertig war.

Franz warf den ersten Ball und schaffte mit dem zweiten zusammen gleich acht Punkte. „So kann es weitergehen“, sagt er.

Immer wenn Franz dran oder anderweitig nicht in der Nähe war, kam das Gespräch der fünf Freunde regelmäßig auf das Thema Paradell zurück. Dennoch war das immer kurz und wurde nicht zum allbestimmenden Thema des Abends. Lukas brannte zwar darauf, sich mehr über die Erlebnisse auszutauschen, alle waren aber insgeheim froh, dass sie einen Abend zusammen einfach Spaß haben konnten, ohne das Thema zu vertiefen.

Franz und Simon lagen weit vorn. Aber das war erwartet worden: Simon, der Sportler, und Franz, der generell einen Faible für jede Art von Barspielen, wie Dart, Billard oder Bowling, hatte.

Ben jedoch war ihnen dicht auf den Fersen und er glaubte, zwischendurch, die anderen wollten ihn zum Geburtstag gut aussehen lassen. Aber seine Punkte waren wirklich weit ab von dem, was er sonst schaffte. Am Ende des ersten Spiels war es so knapp, dass der letzte Wurf entschied. Ben gelang in der Situation tatsächlich ein Strike und alle sprangen jubelnd auf. Alle wuselten durcheinander und gratulierten Ben zum Sieg.

Simon warf eine Hand voll Konfetti aus einer herumstehenden Dose über die Feiernden. Er blieb einen Moment stehen und schaute sich die Szenerie an. Er genoss die ausgelassene, sorglose Stimmung, bevor er zu seinen Freunden sprang und Ben anerkennend auf den Rücken klopfte.

Sie spielten ein paar weitere Runden, die dann wie erwartet verteilt an Simon oder Franz gingen. Die anderen vier teilten sich fair in abwechselnden Reihenfolgen die weiteren Plätze.

Zwischen den Spielen saßen sie ausgelassen lachend und tratschend beisammen. Sie genossen den schönen, gemeinsamen Tag.

Sie feierten bis in den Abend, wo sich die Kinder wieder zu den Eltern in den Barbereich gesellten und gemeinsam noch einen Snack bestellten.

Dann musste aber irgendwann auch ein solch schöner Tag mal zu Ende gehen. Marie sagte: „Ben, vielen Dank. Der Abend war großartig. Ich wünsche dir noch einen schönen restlichen Geburtstagsabend.“ Lukas ergänzte artig: „Ach ja, Herr und Frau Lindner. Auch Ihnen vielen Dank für das Organisieren.“

„Ja es war echt top. Super Sache. Da will man fast gar nicht nach Hause“, sagte Simon. „Aber hilft ja nichts. Dann macht’s mal gut. Montag ist wieder Schule.“

„Ach erinnere uns doch nicht daran Mann“, beschwerte sich Tamara.

Ben fuhr wieder mit seinen Eltern und den Winters heim. Auf der Fahrt waren alle auffällig ruhig, da sie sehr müde waren. Ben hing währenddessen seinen Erinnerungen an den Abend nach. Vor seinem geistigen Auge tanzte er mit seinen Freunden weiter jubelnd durcheinander.

– 5 –

Daheim wurde nicht mehr lange gefackelt. Alle wollten nur noch ins Bad, um anschließend ins Bett zu fallen. „Komm Ben, geh du als Erster. Wir halten noch so lange aus“, sagte seine Mutter. Als er endlich in sein Zimmer kam, schlurfte er dahin und gähnte geräuschvoll.

Er schaltete das Licht an und betrachtete sich im Spiegel. „Happy birthday Ben“, sagte er flüsternd mit einem Lächeln zu seinem Spiegelbild. In der folgenden Stille hörte es sich an, als würde er einen Nachhall seines Grußes an sich selbst hören. „Happy Birthday Ben.“ Er schaute sich um und schüttelte verwirrt den Kopf.

Als er seinen Schlafanzug suchte, war es zu dunkel, um ihn zu finden. „Ich habe doch das Licht angemacht. Ist die Glühbirne kaputt?“, fragte er sich und schaltete geistesabwesend die kleine Lampe neben dem Bett an. Da fand er den Schlafanzug und legte ihn unten ans Fußende des Betts. Im Augenwinkel bewegte sich etwas im Spiegel. Er schaute hin, aber erneut war es dunkler geworden. Er schaute, wie schon morgens, wieder auf das Aquarium. Aber das war rechts in der Ecke des Spiegels zu sehen. Die Bewegung war jedoch eindeutig links gewesen.

Er ging dichter an den Spiegel. Vereinzelte Schatten, die er im Spiegel auf dem Bett sah, schienen sich zu bewegen. „Halluziniere ich schon vor lauter Müdigkeit? Ich sollte echt rasch ins Bett.“

Er rieb sich die Augen fest mit den Handballen. Als er die Augen langsam wieder öffnete, stand plötzlich ein physischer Schatten grob in Menschenform hinter ihm im Spiegel. „Huch …“, entfleuchte es ihm erschrocken. Doch zu mehr kam er nicht. Der Schatten schubste ihn gegen den Spiegel. Er schloss reflexartig die Augen und erwartete den Aufprall mit dem Gesicht, da er die Hände nicht schnell genug hochbekam.

Doch er fiel weiter, als er dachte. Und kippte im freien Fall auf den Boden zu. Dabei reichte sein Reflex glücklicherweise aus und er konnte sich mit den Händen schützend abfedern. Der Aufprall auf dem harten Boden war trotzdem schmerzhaft. „Uff …“, stöhnte Ben.

Der Schreck hatte ihn mittlerweile wieder wacher gemacht. Er öffnete langsam die Augen und realisierte auf den ersten Blick, dass sein Geburtstagswunsch in Erfüllung gegangen war. Der Wunsch, den er morgens im Kopf gehabt und die Kerzen ausgeblasen hatte, was ihm wie eine Ewigkeit her erschien. Er erblickte den Raum in Paradell, den er mit seinen Freunden vor einigen Tagen zusammen gesehen hatte und vor ihm stand Angrowin. Heute war sie jedoch allein im Raum.

„Ben. Geht es dir gut? Hast du dich verletzt? Es tut mir leid. Ich musste dich in den Spiegel schubsen. Nur so konnte ich dir zeigen, wie du durch die Schattenwand kommst“, sagte sie. Sie hatte nicht mehr diese unendliche Ruhe und Gleichgültigkeit in ihrem Verhalten, sondern wirkte eher nervös. Es war dennoch kein Vergleich mit menschlicher Emotion in einer solchen Lage.

„Oh, alles gut. Mir fehlt nichts“, stammelte Ben und war von ihrer Schönheit abermals überwältigt. Die filigranen Linien auf ihrer Haut pulsierten schwach in einem rötlicheren Farbton als beim letzten Mal. Sie sah ihn neugierig mit ihren großen Augen an und schwenkte sachte den Kopf, was die langen purpurnen Haare wehen ließ.

„Dann komm. Ich habe dir einiges zu erzählen, aber wir haben nicht viel Zeit. Gangelon sagte, dass sie nur für eine Stunde unterwegs sein werden.“ Damit reichte sie ihm die Hand und er ergriff ihre langen, dünnen, feingliedrigen Finger. Ein starkes Kribbeln ging durch seinen ganzen Körper, als er sie berührte.

Als er stand, schaute er sich fasziniert im Raum um und bestaunte erneut die verzierten, leuchtenden, unebenen Wände. Es gab kaum Einrichtung. Nur ein Stuhl stand vor der einzigen glatten, unbeleuchteten Wand, als wäre er aus dem Boden gewachsen. Ben ging zu der Wand und erkannte erst in dem Moment, dass es eine Art riesiger Spiegel war. Er war aber bei Weitem nicht so klar und deutlich wie der in seinem Zimmer, sondern wie durch einen Nebelschleier oder eben durch Schatten verhangen. Aus diesem Grund haben die Freunde ihn beim letzten Mal nicht als solchen erkannt.

„Ja, die Schattenwand ist momentan inaktiv“, hörte Ben von hinter sich in der melodischen Stimme, die wie zwei Stimmen gleichzeitig klang. „Komm, wir setzen uns hier hin“, sagte sie.

„Aber da ist nur ein Stuhl“, sagte Ben. „Nein, nicht dahin. Komm hier rüber.“ Als er sich zu ihr umdrehte, hielt sie eine Hand einladend zu ihm hin und schwenkte die andere langsam an der Wand vorbei, an der sie stand, und bewegte dabei bedächtig die Finger in Wellenbewegungen. Aus der Wand wuchsen zwei weitere Stühle und versenkten ihre Füße im Boden.

Ben riss erstaunt die Augen auf und ging mit offenem Mund zu ihr rüber: „Whoa. Wahnsinn …“

Er setzte sich auf den ihm gewiesenen Stuhl und sie raffte ihr langes weißes Kleid zusammen um sich auf den anderen zu setzen. Nachdenklich streifte sie sich über das lange Kinn und kräuselte die hohe Stirn. „Ach ja, fast hätte ich es vergessen. Da ich nicht weiß, ob du mich vorhin durch die Schattenwand hören konntest. Happy Birthday Ben.“

Sie lächelte ihn an und fuhr fort. „Ich bin Angrowin Forgana und du bist hier in Paradell. Meiner Heimat. Ich bin das jüngste Mitglied unseres ehrenwerten Rates der Elohim. Gemessen an unserer Lebenszeit, die für eure Verhältnisse unvergleichlich lang ist, bin ich kaum älter als du. Aber ich wurde früh für dies hier geprägt. Für meine Geschichte müssen wir aber einen anderen Tag finden. Wir haben Wichtigeres zu besprechen.“

„Ihr seid also real?“, fragte Ben und schämte sich gleich für diese dämliche Frage. Aber was anderes war ihm in der ganzen Verwirrung momentan nicht eingefallen.

„Nun Realität ist ein kompliziertes, vielschichtiges Konstrukt“, sagte Angrowin nachdenklich. „Aber ja, ich denke, in der von dir gedachten Bedeutung bin ich genauso real wie du.“

„Aber wo sind wir? Also ich weiß, das hier heißt Paradell. Nur wo ist Paradell?“

Sie lachte kurz, wurde aber wieder ernst. „Auch die Antwort auf diese Frage ist wieder nicht so einfach Ben. Die Frage nach dem Wo hängt von der Betrachtungsweise ab. In der eingeschränkten dreidimensionalen Sicht deiner Welt bist du noch immer in deinem Zimmer. Genaugenommen, in deinem Kleiderschrank.“ Und wieder huschte ein schwaches Lächeln über ihr Gesicht. Sie kicherte mit einem traumhaft schönen, glockenähnlichen Nachhall. „Du hast nur einfach die Schattenwand durchbrochen und bist nach Paradell gekommen. Von euch aus gesehen ist Paradell nur ein Schatten, der auf eurer Realität liegt und mit ihr verschmilzt. Andererseits seid ihr dasselbe für uns in Paradell. Wir überlagern einander. Eure dreidimensionale Wahrnehmung hindert euch nur daran, in uns mehr zu sehen als flache körperlose Schatten und selbst das nimmt kaum ein Mensch wahr.“

„Langsam. Angrowin bitte. Ich verstehe das nicht, wie kann ich in meinem Zimmer sein, wenn ich doch hier in diesem leuchtenden unwirklichen Raum bei dir bin?“

„Ich will nicht sagen, dass du an zwei Orten gleichzeitig bist. Das Durchqueren der Schattenwand ist nur eine Metapher für die Reise entlang der weiteren Dimensionen, die über eure Wahrnehmung hinausgehen. Wenn deine Eltern jetzt in dein Zimmer kämen, würden sie dich nicht finden. Nur deine Freunde würden eventuell die Schatten erkennen, die wir dort gerade auf eure Welt werfen. Wir hier würden wiederum ihre Schatten sehen.“

„So langsam glaube ich zu verstehen. Darum der Spiegel. Oder? Spiegel gaukeln einem ja auch eine Dimension beziehungsweise einen Raum vor, den es eigentlich nicht gibt.“

„Richtig Ben. Genau. Spiegel sind für uns wichtige Hilfsmittel. Selbst wir, die fähig sind, die parallelen Dimensionen zu erblicken, finden es mitunter hilfreich Spiegel für eine klarere Sicht auf euch zu verwenden. Dafür stehen diese hier in unserem Heiligtum der Elohim.“ Angrowin deutete auf die in Schatten getauchte Spiegelwand an der gegenüberliegenden Raumseite.

„Im Spiegel werden die Schatten real Ben. Das ist wichtig. Merke dir diesen Satz. Er wird dich immer daran erinnern, wie du nach Paradell kommen kannst, auch wenn dein Gehirn an der Realität des hier Erlebten zweifeln möchte.“

„Im Spiegel werden die Schatten real“, murmelte Ben.

– 6 –

„Ich kann selbst nach Paradell, wenn ich es möchte?“, fragte Ben und schaute Angrowin mit aufgerissenen Augen an.

„Das ist einer der wichtigsten Gründe dafür, dass ich dich heute hergebracht habe. Ich will dir zeigen wie“, sagte sie.

„Ben, ich habe keine Zeit, dir alles zu erklären, aber es wuchert etwas im Herzen von Paradell und das birgt eine grauenhafte Gefahr für uns. Aber vor allem für eure Welt und die Menschheit. Die anderen Elohim sind nicht im Stande es zu sehen. Obwohl es unter ihrer Nase geschieht. Ich habe es gesehen und will es stoppen. Aber ich allein, nur aus Paradell heraus, kann es nicht. Ihr, du und deine vier Freunde, müsst mir helfen. Dann werdet ihr es schon bald verstehen.“

„Aber warum wir? Wir sind doch nur Jugendliche. Fast noch Kinder. Was können wir erreichen?“, stellte Ben die offensichtliche Frage, die schwer über allem im Raum schwebte.

„Die Jugend macht euch ja erst so empfänglich für unsere Welt. Umso älter die Menschen werden, umso mehr verfallen sie in die gleichgültige Trance, die so undurchlässig für die vielen Wunder der Welt ist. Aber warum ihr genau? … Manch einer mag es Zufall nennen. Aber den gibt es meines Wissens nach nicht. Ich sehe den genauen Grund auch noch nicht. Aber ich war mir an dem Tag, als ich euch sah, absolut sicher. Ihr seid die Richtigen.“

Angrowin sah ihn gedankenverloren an, als würde sie diese Erkenntnis innerlich hinterfragen. Aber dann wurde ihr Blick wieder fest und sie fuhr fort.

„Also. Ihr habt durch das Ereignis vor einigen Tagen, an dem ich nicht ganz unschuldig war, den Blick für unsere Schatten erhalten. Ihr seht sie nun, wenn ihr euch darauf konzentriert. Aber eure Kraft reicht allein nicht aus, um die Schatten zu tauschen und durch die Wand zu uns zu kommen. Ihr braucht einen Spiegel, der eure Wahrnehmung erweitert. Konzentriert euch. Findet die Schatten und schaut in den Spiegel. Denn im Spiegel werden die Schatten real und für euch greifbar. Wenn sie physisch genug sind, lasst euch in den Spiegel fallen. Dieser bewusste Schritt in eure erweiterte Wahrnehmung wird ausreichen, um den Weg nach Paradell zu finden.“

„Okay. Schatten finden. In den Spiegel schauen. Die Schatten real werden lassen und reinfallen. Klingt doch einfach“, wiederholte Ben die Anweisungen.

„Nimm es nicht auf die leichte Schulter. Ihr müsst euch richtig konzentrieren, wenn ihr nicht wollt, dass ihr zwischen den Dimensionen verloren geht“, ermahnte ihn Angrowin. „Außerdem passt auf. Die Ausrichtung der Welten ist nicht immer gleich, sondern wabert hin und her wie Nebel. Im Gegensatz zu uns habt ihr keinen Einfluss darauf. Ich konnte dich von deinem Zimmer in unser Heiligtum holen, in das ihr beim letzten Mal aus dem Wald gekommen seid. Wenn ihr herkommt, ist es unsicher, wo ihr genau ankommen werdet. Also seid aufmerksam. Es wird leichter, wenn ihr es ein paar Mal gemacht habt.“

Plötzlich und ruckartig, aber trotzdem in einer grazilen fließenden Bewegung stand Angrowin auf und drehte sich zur Tür. Als sie Ben wieder ansah, sagte sie. „Unsere Zeit ist fast um. Ich spüre Gangelons Präsenz sich nähern. Ligara und Enlito sind bei ihm. Schnell, du musst jetzt gehen. Erinnere dich an alles, was ich dir erzählt habe. Du bist meine Hoffnung Ben. Ihr alle fünf seid es. Rasch zum Spiegel.“

Ben stand auf und war überrumpelt von der plötzlichen Eile. Er wollte nicht gehen und war noch zu sehr in Angrowins Geschichte verloren, um sich flink zu bewegen. Doch er ging zum Spiegel und konzentrierte sich intensiv auf sein Zimmer. Da lichtete sich der Schleier über dem Spiegel und er erkannte schemenhafte Umrisse, die wie sein Bett aussahen. Er zwang sich immer mehr, das Bett real zu sehen. Da drehte er sich noch einmal um, um Angrowin anzuschauen. Er hob wortlos die Hand. Doch sie verschwamm schon vor seinen Augen und ihre Konturen zerfielen nebelartig. Er schaute wieder in den Spiegel und ließ sich nach vorn fallen. Da hörte er noch ein letztes Mal ihre melodischen, mehrstimmigen Worte: „Denk dran, im Spiegel werden die Schatten real Ben. Bis bald. Ihr seid meine Hoffnung.“

Die Schatten von Paradell

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