Читать книгу Die Schatten von Paradell - Sebastian Möller - Страница 8

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Kapitel 3 – Schützender Glaube

– 1 –

Gegen siebzehn Uhr an diesem Mittwoch, in der letzten Ferienwoche des Sommers, hatten die fünf Freunde endgültig genug Sonne. Bens Eis war alle und es war unerträglich heiß. Sie räumten ihr Zeug zusammen und machten sich auf den Weg. Simon schwang sich auf sein Rad und sagte: „Also dann macht’s gut, Leute. Wir sehen uns die Tage. Ein Tick Ferien haben wir ja noch.“ Lukas und Tamara putzten sich mit den Händen gründlich Reste vom Gras von den Kleidern und spazierten zum Bus.

An der Haltestelle schaute Lukas auf den Fahrplan und sagte: „Mist, knapp verpasst, aber der nächste kommt in 10 Minuten.“

Tamara antwortete: „Gut, lass uns im Schatten sitzen beim Warten.“ Als sie auf der Bank waren, fragte sie ihn: „Du hast vorhin wieder extrem geschafft ausgesehen und ich denke nicht, dass das an dem schlechten Schlaf lag, von dem du erzählt hast. Was war los daheim?“

Lukas seufzte: „Ach, Dad hat wieder Probleme auf Arbeit. Und du weißt ja, dass es speziell dann am schlimmsten mit den beiden ist.“

„Deine Mum hat sich auch wieder von ihm mitreißen lassen?“, fragte Tamara.

„Ja, in den meisten Fällen wirkt es, als ob sie selbst an dem religiösen Erlösungsgerede von Dad zweifelt. Aber sobald er loslegt, verfliegt das wie Nebel im Wind. Dad ist so überzeugt, dass ausschließlich der Herr über uns wacht und unser Schicksal in Händen hält, dass er nicht erkennt, was sein eigenes Handeln für Auswirkungen auf die Personen in seiner Umgebung hat.“

„Er ist dein Vater, verdammt. Er ist mindestens genauso verantwortlich für dein Wohlergehen wie Gott. Aber was sag ich dir das. Du weißt ja, wie es bei mir daheim aussieht.“

Lukas nahm sie in den Arm und sagte: „Ja, das weiß ich, aber so ist es ja nicht jeden Tag und wir haben uns. Die können uns mal mit ihrem Fanatismus. Du zeigst mir, wie schön das Leben sein kann.“

So saßen sie die restlichen Minuten, bis der Bus kam, Arm in Arm beisammen.

Tamara stieg zwei Haltestellen vor Lukas aus. Sie küsste ihn zum Abschied und verließ den Bus. Als dieser losfuhr, schaute Lukas ihr gedankenverloren nach.

Er wohnte mit seinen Eltern in einem Altbau, direkt an der Haltstelle. Sein Viertel war deutlich grüner und idyllischer als die seiner Freunde.

Oben an der Wohnungstür empfing ihn seine Mutter. Martha Pfeiffer war eine dürre Frau mittleren Alters mit streng nach hinten gebundenen Haaren und einem langen hochgeschlossenen Kleid. Darüber trug sie eine Schürze mit der Aufschrift „Gott schütze dieses Heim“.

Resolut schaute sie auf ihren Sohn und sagte: „Das Essen ist so gut wie fertig, wo warst du so lange?“ Dann huschte aber doch ein schmales Lächeln über ihr Gesicht. „Na los, komm rein und zieh dich flink für das Essen um. Dein Vater ist noch in seinem Büro. Rasch, ab in dein Zimmer.“

Lukas beeilte sich und war kurze Zeit später bereit am Esstisch, als die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters aufging.

„Was denken die sich?“, schimpfte er, als er herauskam. „Wie können die es wagen, uns ihre finanzielle Unterstützung zu entziehen? Speziell in schlechten Zeiten müssen die Kirche und der Glaube stark sein. Und wir unterstützen sie dabei rechtlich gegen all jene ketzerischen Arschlöcher, die das zerstören. Gott ist auch allzeit für uns da und unterstützt uns, egal wie die Zeiten stehen.“

Christian Pfeiffer war Partner in einer Anwaltskanzlei für Kirchenrecht. Glühend verteidigte er die Kirche vor Gericht. Leider war die wirtschaftliche Lage herausfordernd. Aus diesem Grund sprangen vermehrt die finanziellen Unterstützer ab.

„Du hast ja Recht, nichtsdestotrotz hört der Herr solche Wortwahl auch nicht gern“, sagte Martha. „Komm jetzt. Essen ist fertig. Wir warten.“

Christian brummte zustimmend und nickte. „Wenn ich mich aufrege, lasse ich mich zu deren Sprache hinreißen. Du weißt ja, die Sprache deiner komischen Freunde Lukas. Speziell dieser Simon hat ein Schandmaul. Das kommt alles von dieser verkommenen Rockmusik, die der andauernd hört“, schimpfte er weiter. „Wo wir schon dabei sind. Wo warst du den ganzen Tag? Wieder mit denen unterwegs, oder?“

„Ja Dad, aber wir haben bei dem Wetter nur im Park gesessen“, antwortete Lukas, ohne seinen Vater anzusehen. „In der Kirche ist es zu jeder Jahreszeit kühl, im Sommer wie im Winter“, konterte Christian. „Oder ihr könntet die Ferien sinnvoll nutzen und etwas für das Allgemeinwohl tun.“

Martha versuchte, das Ganze zu beruhigen, und sagte: „Na, setz dich erst mal und wir essen.“ Sie füllte die Speisen auf und Lukas wünschte: „Guten Appetit.“ Doch das reichte seinem Vater natürlich nicht. „Nichts da, sag das Tischgebet für uns Sohn.“ Lukas tat das anstandslos wie befohlen. Diskutieren brachte dabei schon nichts, wenn er gute Laune hatte.

– 2 –

In der folgenden Ruhe, während alle still ihr Essen zu sich nahmen, hörte man gedämpft das Küchenradio vom Tresen. Die Nachrichten liefen gerade. „Und nun zu den Lokalnews“, sagte der Moderator. „Leider ist es heute auf dem Rockfestival in der Arena am Flughafen zu einer Tragödie gekommen. Eine größere Metallkonstruktion am Rand der Bühne ist aus noch ungeklärter Ursache zusammengekracht und auf die Zuschauer in vorderster Reihe gestürzt. Zum Glück wurde niemand getötet, jedoch gab es drei Schwer- und sechs Leichtverletzte. Das Konzert wurde umgehend abgebrochen.“

„Na da siehst du es, Lukas. Das ist die gerechte göttliche Strafe für diese Sünder. Das ist es, was man erhält für einen ungläubigen Lebensweg, wie der von deinem Freund Simon.“

Für gewöhnlich schaffte es Lukas, es zu ignorieren und wegzuhören, wenn sein Vater sprach, aber immer, wenn er von seinen Freunden sprach, kochte es in ihm hoch. Sein Kopf lief rot an und schließlich entglitt ihm seine Beherrschung. Wider besseres Wissen widersprach er seinem Vater: „Ich dachte, Gott ist gnädig und beschützt die Menschen. Ist das nicht seine Aufgabe?“

„Seine Aufgabe?“, stieß sein Vater entsetzt hervor. „Er hat keine Aufgaben. Er ist allmächtig und er beschützt dich nur, wenn du dich an seine Regeln hältst und ehrfürchtig sowie fromm durchs Leben gehst. Bist du aber ein Sünder und führst ein verlottertes Leben, ohne dafür Buße zu tun oder zu Gott zu beten, dann bestraft er dich dafür mit all seiner Macht. Und er tut recht daran.“

Lukas antwortete kleinlaut: „Wenn jemand das Gesetz bricht und zum Beispiel jemand anderem Schaden zufügt, soll er das machen. Das verstehe ich vollkommen. Aber Tod und Verletzung dafür, dass man Rockmusik hört. Das ist in meinen Augen maßlos übertrieben.“

Da platzte seinem Vater erwartungsgemäß der Kragen. „Da haben wir es. Der Einfluss deiner Freunde ist ja schlimmer, als ich dachte. Morgen bewegst du deinen winzigen Hintern in die Kirche, mein Sohn und keinerlei Widerrede. Ich lasse es nicht zu, dass du deine Seele verdammst. Und jetzt gehst du sofort auf dein Zimmer. Kein Computer oder Fernsehen da oben. Lies lieber was Ordentliches. Nach diesen Äußerungen wäre die Bibel angebracht.“

Wortlos stand Lukas auf und verließ die Küche. Er hielt es sowieso nicht länger mit seinem Vater in einem Raum aus. Ihm war klar, wenn er weiter diskutiert hätte, hätte das wie gestern geendet und sein Vater würde sich vollständig vergessen. Da hatte er sich dafür eine Ohrfeige eingefangen, die sich gewaschen hatte, und das hatte er nun nicht erneut vor.

Lukas stürmte in sein Zimmer nach oben. Die Wohnung, in der er aufgewachsen war, war äußerst geräumig und erstreckte sich über zwei Stockwerke des gepflegten Altbaus. Die Deckenhöhe war gewaltig in allen Zimmern und reich mit Stuck verziert. Sein Zimmer war hochwertig eingerichtet, aber nicht übermäßig prunkvoll wie der Rest der Wohnung.

Sein Vater war gut als Anwalt und er hätte es sehr weit gebracht, in einer normalen Kanzlei. Aber er hatte den Weg des Dienstes an Gott gewählt und war anscheinend der Einzige in seiner Kanzlei, der das selbstlos auf sich nahm. Nie hätte er eine Entscheidung für seinen eigenen Gewinn getroffen und wenn ausnahmsweise mehr raussprang, steckte er das in ein weiteres Kirchenprojekt.

Darüber beschwerte sich Lukas nicht. Seine Familie hatte ein gutes Einkommen und es fehlte ihnen an nichts. Jedoch dieser unbändige Hass seines Vaters gegenüber allen, die er als Ungläubige ansah, war es, was ihn stets zur Verzweiflung brachte.

„Sicher erhält Gott keine Aufgaben. Von wem auch? Nennen wir es simpel Verpflichtung gegenüber seiner Schöpfung. Dieselbe, die Eltern gegenüber ‚ihrer Schöpfung‘, ihren Kinder, haben.“

– 3 –

Am nächsten Tag machte sich Lukas keine Illusionen, dass sein Vater das mit der Strafe vergessen hatte. Der Kirchenbesuch war in Christians Augen logischerweise niemals eine Strafe.

Alle drei zogen sich passend an, um zusammen in die Kirche zu gehen. Bereits bei der Kleidung fing die Gottesgefälligkeit an, wie sie Lukas’ Vater verstand. Ein ausgeleiertes T-Shirt oder gar eine Jogginghose wäre ihm niemals in den Sinn gekommen und so erzog er seinen Sohn. Lukas dachte: „Komisch, dass ich mit Tamara kleidungsmäßig auf einer Wellenlänge liege, aber aus gegensätzlichen Gründen. Ich werde nahezu gezwungen und sie trägt es aus Trotz, um sich von ihren Eltern abzusetzen, die in den meisten Belangen das krasse Gegenteil meiner Eltern sind. Bis auf den Hass auf die, die anders sind. Tamara war stets selbstbewusster als ich und widersetzt sich ihren Eltern häufiger. Leider mit dem erwartbaren Ergebnis.“

Die Kirche lag nicht weit entfernt und darum liefen sie das Stück zu Fuß. „Musst du denn heute nicht arbeiten Dad?“, fragte Lukas.

„Ich werde später arbeiten, aber das ist heute von größerer Bedeutung. Außerdem, ist es Teil meiner Arbeit, Gott und seinen Schäfchen zu helfen. Speziell wenn sie, wie du mein Sohn, vom Weg abgekommen sind.“

Christian arbeitete oftmals von zu Haus in seinem Arbeitszimmer und hatte die Möglichkeit, sich seine Zeit frei einzuteilen.

Martha war von Beruf Hausfrau. Dennoch unterstützte sie ihren Mann bei diversen Aufgaben.

Nachdem die Familie Pfeiffer ihr Haus verlassen hatte, folgten sie der kurzen Allee-artigen Straße, in der sie wohnten. Nach ein paar hundert Metern trafen sie auf die Hauptstraße und man fühlte sich direkt wie in einer anderen Welt. Keine Bäume boten Schutz vor der heißen blendenden Sommersonne und die Menschenmassen drängten sich auf dem breiten Gehweg. An der Kreuzung hupten die Autos, weil irgendwer nicht rasch genug abgebogen war oder Ähnliches. Alles und jeder wirkte übertrieben hektisch.

Ein Stück weiter ihres Weges hatte sich eine größere Menschenmenge versammelt. Zwei Männer schienen aus unbekanntem Grund in Streit geraten zu sein, was diverse Schaulustige auf den Plan rief. Natürlich dachte niemand daran, die beiden Streithähne zu trennen. Im Gegenteil, viele von ihnen hatten ihr Handy gezückt und filmten das Geschehen eifrig.

Die Ansammlung versperrte den ganzen Gehweg. Uninteressierte Passanten quetschten sich am Rand vorbei. Eine Frau mit Kinderwagen stand verzweifelt daneben und wusste nicht, wie sie weiterkommen sollte.

Als sich die Pfeiffers näherten, erregte das Geschehen Christians Aufmerksamkeit. „Hey ihr da, was soll dieses Verhalten? Beherrscht euch doch!“, fuhr er die beiden von außerhalb der Menschenmenge an.

Christian hatte mit seinen ein Meter neunzig eine massive, Eindruck erregende Statur. Er stürmte in die Menge und zerrte die beiden Streitenden auseinander. Er schrie sie an: „Wollt ihr wohl aufhören? Habt ihr denn keine Selbstachtung, euch hier als erwachsene Männer auf der Straße zu prügeln?

Gott sieht das nicht gern. Habt ihr vor eure Seele für irgendwelche kindischen Kleinigkeiten zu verdammen?“, fragte er sie mit tadelndem Tonfall. „Jetzt übt euch in Reue und Vergebung. Betet zu Gott, dass er euch diese Entgleisung verzeiht.“

Da kicherten einige der Umstehenden verhalten und viele filmten weiter mit ihren Handykameras. Christian realisierte dabei erst wieder, dass er die Menschenmenge um sich hatte. Dutzende Augenpaare beobachteten ihn interessiert. Das brachte ihn nur noch mehr zur Weißglut und er schaute die Schaulustigen mit böse funkelnden Augen an.

Lukas beobachtete das Geschehen mit steigendem Unbehagen und schämte sich wie üblich für seinen Dad. Er bemerkte, wie ein spürbarer Luftzug kühl durch die Menschenmenge fuhr und das blendende Licht langsam verschwand. Christian schaute die Reihen der umstehenden Gesichter an, über die nun Schatten wanderten.

Er schimpfte in deren Richtung: „Und ihr? Was ist eure Ausrede? Ihr steht hier und gafft auf diese Sünder und ergötzt euch an deren Frevel. Was macht das mit eurer unsterblichen Seele? Was hält Gott wohl von diesem Unsinn? Und darüber hinaus mit dem Handy draufhalten. Ihr macht mich krank. Alle miteinander.“ Er spuckte vor den Leuten auf den Boden, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen.

– 4 –

Auf der Straße war der Verkehr abgeflaut und Lukas bemerkte, wie die Frau mit dem Kinderwagen ihr Glück versuchte, um an der Ansammlung vorbeizukommen. Sie quetschte sich halb auf der Straße vorbei. Ein stärkerer Windzug zerrte am Wagen, als hätte er vorgehabt sie am Weiterkommen zu hindern. Die Schatten verdichteten sich und schienen sich unnatürlich zu bewegen.

Christian hielt weiter die Streitenden gepackt und fuhr in seiner Rage fort: „Keiner von euch kommt auf die Idee seinen Mund aufzumachen und dem Unsinn Einhalt zu gebieten. Wenn ihr zu feige seid, geht weiter und starrt hier nicht in der Gegend umher!“

Da antwortete ihm ein vorwitziger junger Mann aus der Menge: „Ihre Tirade ist viel zu gut, um die zu verpassen. Das bringt wunderbare Klickzahlen im Social Media. Kommen Sie, lächeln Sie für die Fans.“ Er hielt sein Handy dichter an das Geschehen.

Da ließ Christian schlagartig die beiden Streitenden los und sprang nach vorn auf den Kerl zu. Alle Umstehenden waren überrascht von dieser flinken Bewegung und drängten weiter auseinander. Christian packte den Burschen am Kragen und schlug ihm mit der anderen Hand das Handy weg. „Sie halten sich wohl für besonders witzig was? Ihnen werde ich zeigen, was es heißt, sich über mich lustig zu machen, während ich hier gottesfürchtig des Herrn Arbeit erledige.“

Lukas dachte: „Nein Dad, tu es nicht. Lass ihn einfach los.“

Doch Christian stieß den Mann von sich, in Richtung der Menschen, die sich am dichtesten an der Hauptstraße drängten. Hinter dem Taumelnden sah Lukas einen enormen Schatten, der aber eine physischere Form angenommen hatte, wie man es von einem Schatten gewohnt ist. Im Fallen durchbrach und verwirbelte er ihn wie einen Nebelschleier.

Erschreckt flüchteten die Menschen, auf die er zufiel, nach hinten auf die Straße zu. Einer aus der hintersten Reihe stolperte am Bordstein und stieß heftig gegen den Kinderwagen der Frau, die dort vorbeidrängte.

Auf der Hauptstraße fuhr ein LKW der städtischen Müllabfuhr. Der Fahrer hörte dröhnend Musik und war unaufmerksam. Er hatte seine Schicht beendet und war auf dem Weg zurück ins Depot. Da kreisten seine Gedanken hauptsächlich um das Feierabendbier, das er sich gleich genehmigen würde.

Lukas sah das Unheil kommen und versuchte zu rufen. Doch die Luft war ihm wie abgeschnürt, und alles wurde konstant düsterer. Die Welt schien sich, wie in Zeitlupe, um ihn zu bewegen. Auf einmal war da Licht. Um die Frau und ihren Kinderwagen herum schienen die Schatten urplötzlich zu leuchten. Filigrane, blaue, geschwungene Linien schienen sichtbar auf ihnen. Sie wurden so grell, dass sie Lukas blendeten.

Dann ertönte in seinem Kopf eine wunderschöne, sanfte, unwirkliche Melodie und alle Schatten bewegten sich mit einem heftigen Ruck.

Die Frau mit Kinderwagen wurde durch eine unnatürlichen Luftstoß zurück Richtung Bordstein geschoben. Sie fiel dabei auf die Seite und verlor eine ihrer Sandalen, die auf der Straße zurückblieb. Der Kinderwagen kam jedoch aufrecht und in Sicherheit auf dem Gehweg zum Stehen.

Lukas traute seinen Augen kaum. Er hatte aber keine Zeit, sich lange zu wundern. Die Schatten verschwanden, so unvermittelt wie sie gekommen waren und mit ihnen das blaue Licht. Die Welt um ihn herum beschleunigte wieder auf das normale Tempo und mit einem Schlag entspannte sich der Druck auf seiner Brust und er atmete schwer aus.

Der Müllwagen auf der Hauptstraße rauschte heran und brauste an der Szene vorbei. Dabei rollte er über die einzelne Sandale auf der Straße und zerfetzte sie. Der Fahrer sang weiter das Lied aus dem Radio, ohne zu merken, was beinahe passiert wäre.

„Woah, was war denn das?“, fragte Lukas mit weit aufgerissenen Augen. Aber keiner hörte ihn. Alle hatten ausschließlich Augen für die Frau, die da neben ihrem Kinderwagen auf dem Gehweg lag. Wieder gafften sie hemmungslos, ohne sich zu bewegen.

Christian jedoch löste sich aus dem Schreck und stieß die Anderen beiseite. Er ging auf die Frau zu und sagte zu ihr: „Geht es Ihnen gut? Haben Sie sich verletzt? Lady, hören Sie mich?“ Sie drehte ihm den Kopf zu und der Schock war deutlich in ihren Augen zu erkennen. Christian verkündete: „Sie sind gesegnet. Gott wacht über Sie und Ihr Kind. Er hat Sie vor einem enormen Unheil bewahrt. Beten Sie und danken ihm für diese Gnade.“

Die Frau schaute verwirrt und sagte: „Was? Keine Ahnung was Sie wollen, aber Danke für Ihr Mitgefühl. Es geht schon wieder. Das war nur der Schreck. Würden Sie so freundlich sein und mir aufhelfen?“

Christian antwortete: „Aber selbstverständlich Madam. Kommen Sie und nehmen Sie meine Hand.“

Während er ihr aufhalf, fiel der Schock langsam von den Passanten ab und alle redeten aufgebracht durcheinander. Einer verkündete in Richtung der Frau: „Ein Schutzengel. Mann, das war mehr als Glück. Ihr Schutzengel hat heute Überstunden geschoben. Wahnsinn.“

Als sie wieder aufrecht stand, schaute sie zuerst nach ihrem Baby. Aber den Kleinen schienen der Ruck und der aufbrandende Trubel nicht gestört gehabt zu haben. Er döste friedlich weiter. Erleichtert wendete sie sich wieder Christian zu. „Ich weiß nicht, es fühlte sich wie eine starke Windböe an, die mich umgehauen hat. Es war also schieres unfassbares Glück.“

„Pah, Glück. Das reden sich alle ein. Es gibt kein Glück. Gott hat Ihnen die Hand gereicht und Ihr Leben bewahrt. Seien Sie ihm dankbar dafür. Sie wollen doch nicht, dass er sich von Ihnen abwendet. Beim nächsten Vorfall geht es nicht mehr so glimpflich für Sie aus.“

Sie trat einen Schritt von ihm zurück. „Mein Herr, erneut vielen Dank für Ihre Hilfe. Ihren Glauben möchte ich Ihnen nicht nehmen, aber bitte lassen Sie mir meinen. Dann reden wir auch nicht darüber, inwiefern Sie an der Situation mit Ihrem rüden Verhalten Anteil hatten. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen.“

Die Frau erfasste wieder den Griff ihres Kinderwagens und schob diesen auf dem Gehweg weiter von der Straße weg. Die umstehenden Schaulustigen räumten ihr bereitwillig den Platz und sie war verschwunden.

Christian schaute in die zahllosen Gesichter, die ihn anstarrten. „Hört endlich auf zu gaffen. Es gibt nichts mehr zu sehen. Ich habe hier nur geholfen, was keiner von euch behaupten kann. Für euch würde Gott niemals solch ein Wunder vollbringen wie für diese Frau. Sie wird das schon irgendwann einsehen.“

An seine Familie gewandt rief er: „Martha, Lukas, kommt, wir gehen jetzt.“

Sie hatten ein paar Meter zwischen sich und die sich langsam auflösende, Menschenmenge gebracht, da konnte Lukas nicht mehr an sich halten und fragte: „Mum, Dad, habt ihr auch die Schatten gesehen und das komische blaue Licht?“

Seine Mutter antwortete: „Was? Wovon redest du denn Lukas?“

„Na die ganzen Schatten, die auf die Frau in Gefahr zustürmten und sie von der Straße schubsten, als die Musik losging?“

Sein Vater schaute ihn verwundert an. „Was soll dieser Unsinn? Gott hat sie gerettet. Sagst du da, du hast Gott gesehen, mein Sohn?“

Lukas schüttelte den Kopf. „Nein, also ich weiß nicht, was ich gesehen habe. Das Wort des Passanten finde ich passender. Schutzengel. So würde ich es nennen. Was es auch war, es hat sie gerettet. Mum, was hast du gesehen?“

„Nun, der Wind hat aufgefrischt und ihr buntes Kleid blähte sich stark um sie herum auf. Das hat sie, wie es scheint, zur Seite umgeworfen“, antwortete Martha, wirkte dabei jedoch unsicher. „Natürlichen Ursprungs sah es nicht aus. Das gebe ich zu. Das war wohl wirklich eine göttliche Intervention. Preiset den Herrn.“

– 5 –

Als sie endlich in der Kirche ankamen, hatten sie sich alle drei wieder beruhigt. Nur Lukas verblieb gedankenversunken. Er grübelte darüber nach, was das vorhin zu bedeuten hatte und warum niemand anderes gesehen hat, was er gesehen hat. Vor allem dachte er, was das mit dem Erlebnis im Wald vor zwei Tagen zu tun gehabt hat. Ständig schwirrte ihm dieser Gedankengang im Kopf herum: „Halluzinieren wir jetzt alle? Simon in seinem Traum und nun ich. Oder steckt da mehr dahinter und dieses Paradell gibt es tatsächlich?“

Er kam zu keinem richtigen Schluss und beließ es bei dem Vorsatz, mit seinen Freunden darüber zu sprechen. Leider waren sie erst am Samstag wieder alle beisammen. Morgen musste er shoppen gehen. Ihm fehlte weiterhin eine Idee, was er Ben zu seinem Geburtstag am Samstag mitbringen sollte.

Am folgenden Tag stand Lukas erst gegen zehn Uhr auf. Er hatte bereits eine Stunde vorher seine Zimmertür einen Spalt weit geöffnet, um zu hören, was unten vor sich ging. Doch da waren seine Eltern in der Küche zu Gange gewesen. Er dachte sich: „Lieber warte ich. Dad verschwindet gleich ins Arbeitszimmer und Mum zum Einkaufen. Der gestrige Tag reicht mir vorerst an ‚schöner‘ Familienzeit.“

Er ließ die Tür angelehnt und legte sich nochmal hin. Er griff nach dem Handy und schrieb Tamara:

@Lukas> Guten Morgen Schatz, bist du schon wach?

Die Antwort folgte prompt.

@Tamara> Ja, wir haben gerade gefrühstückt. Und du?

@Lukas> Ach ich lieg ein bisschen rum und warte, dass Dad arbeiten geht. Dann kann ich in Ruhe frühstücken.

@Tamara> Ich verstehe. Den Trick nutze ich auch oft ;-).

@Lukas> Ich werde nachher ins Shoppingcenter gehen und für Ben ein Geschenk suchen. Kommst du mit?

@Tamara> Na klar. Super Idee ich brauche eh ein paar Schuhe, die ich am Samstag tragen werde.

Sie verabredeten sich zu zwölf Uhr und Lukas hing seinen Gedanken an den letzten Tag nach. Um zehn Uhr hörte er von unten seinen Vater sagen: „Dann mal frisch ans Werk. Nach dem Zeichen gestern bin ich wieder zuversichtlicher, dass ich die wackeligen Geldgeber heute auf Linie bekomme. Lass uns auf Gott vertrauen, Martha, dann schaffen wir es. Denk bitte beim Einkauf an meine Baldriantropfen, die brauche ich dringend.“

„Na klar Christian, ich bin dann unterwegs. In Gedanken und im Gebet bin ich jederzeit bei dir. Du schaffst das.“

Das war das Zeichen für Lukas aufzustehen. Er aß ein paar Toasts und trank Orangensaft, wobei er die Ruhe des Hauses genoss.

Um zwölf Uhr war er pünktlich im Einkaufscenter und wartete auf Tamara. Er setzte sich in das Eiscafé am Eingang und schrieb im Handy:

@Lukas> Hi Schatz, ich sitze vorn beim Italiener, am Tisch in der Ecke.

@Tamara> Okay, ich bin gleich da.

Lukas beobachtete die Menge, die hektisch im Einkaufscenter auf und ab strömte. Nach fünf Minuten entdeckte er im hereinkommenden Menschenstrom seine Freundin. Es machte ihn glücklich, dass das wie zu Beginn ihrer Beziehung einen kurzen Satz in seiner Herzfrequenz auslöste.

Tamara sah ihn, kam zu seinem Tisch und sagte mit einem Lächeln: „Na, du siehst aber zufrieden aus. Hast du etwas Schönes gesehen?“

„Nur das hübscheste Mädchen, das ich kenne“, antwortete er und schaute sie liebevoll an.

„Ach du …“, sagte sie und errötete.

Sie setzte sich zu ihm an den Tisch. Sie bestellten sich zusammen ein Spaghettieis. Als der Kellner mit der Bestellung weg war, sagte Lukas: „Du wirst es nicht glauben, was gestern passiert ist. Ich brenne schon die ganze Zeit darauf, es dir zu erzählen, aber das war nichts für das Telefon.“ Tamara schaute ihn mit einer Mischung aus Neugier und Verwunderung an. Dann erzählte er ihr im Detail die Ereignisse von gestern, wie er mit seinen Eltern auf dem Weg zur Kirche gewesen war.

„Was hältst du davon?“, fragte er, als er fertig war.

Einen Moment sagte Tamara erst einmal nichts. Dann ergriff sie seine Hand, die auf dem Tisch lag, sah ihn an und sagte: „Du weißt, wie ich zu diesem ganzen Paradellzeug stehe. Andererseits glaube ich dir und so langsam häufen sich die Vorfälle, sodass ich es nicht mehr schaffe zu ignorieren.“

„Ja, es ist zu surreal. Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll.“

Als das Eis kam, aßen sie es gemeinsam still und gedankenversunken. Nachdem der letzte Löffel verputzt war, lenkte Lukas das Thema in eine andere Richtung. „Also, Ben … was könnten wir ihm zum Geburtstag kaufen?“

Tamara sagte mit einem Zwinkern: „Ich kenne ihn nicht so lang wie du. Was zum Trainieren scheint mir angebracht.“

„Haha, ja du hast recht. Aber dennoch, sei nicht so fies zu ihm“, sagte er. Worauf sie mit seriöserer Miene sagte: „Okay, im Ernst. Ich habe gehört, dass er diese alten Kindergruseltaschenbücher liebt. Ich komme nicht auf den Titel der Reihe. Ich glaube, das ist ein weiteres, dieser Stevie-Andenken, an denen er hängt.“

„Das ist perfekt, Schatz, super Idee. Ich habe das Cover vor Augen und erinnere mich gut an sein Bücherregal. Wir finden im Buchladen sicher eins, was er noch nicht hat.“

Sie zahlten und machten sich auf den Weg. Im Gehen kam Lukas erneut auf die Vorkommnisse zu sprechen. „Weißt du? Wenn das Ganze nicht real ist, was ist es dann? Was löst bei uns fünf zusammen solche lebendigen Halluzinationen aus?“, fragte er und fuhr mit einem Gedanken fort, der ihn schon den ganzen Tag beschäftigte. „Wenn es real ist, kann ich das erst recht nicht einschätzen. Einerseits haben sie eventuell mit dem Verschwinden von Simons Eltern zu schaffen. Das wäre echt übel, obwohl wir nicht wissen, wie das ablief. Aber gestern wirkte es, als wären sie wie Schutzengel, die den Menschen helfen.“

Darauf sagte Tamara: „Wenn wir sie wirklich in dem Wald gesehen haben, wissen wir, sie sind auch nur aus Fleisch und Blut. Und von allem, was wir über uns Menschen wissen, gibt es dabei Licht und Schatten, mit jeder Menge Graustufen. Warum sollte es bei denen anders sein?“

„Dann hoffen wir, dass das Licht die Schatten überwiegt“, antwortete Lukas.

Die Schatten von Paradell

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