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Die Zwölf Propheten

Etwas stimmt nicht mit der Welt. Das hat auch der Himmel bemerkt und besondere Gestalten damit betraut, die Menschen wachzurufen: Propheten. Sie reißen Wunden auf, halten den Spiegel vor, wischen Tränen ab und verbreiten Hoffnung. Sie richten und rütteln, schreien und flüstern, fluchen und segnen. Darin sind sie echt und ehrlich wie das Leben. Ob sie sogar über die Jahrhunderte hinweg in unsere Zeit schreien? Das will ich wissen.

Sie präsentieren kritische Reden für das jeweilige Heute, aber nicht nur das. Mit ihnen passiert noch mehr, denn in ihren Worten hören Menschen seit Hunderten von Jahren die Stimmen Gottes rufen. Sie bekommen seit einer gefühlten Ewigkeit zu spüren, was es bedeutet, „wenn Gott reklamiert“.

Was da reklamiert wird, werden wir in den nächsten zwölf Kapiteln mit den zwölf „kleinen“ Propheten erleben. So viel sei schon verraten: Wenn Gott reklamiert, dann ist das Leben in all seinen Facetten betroffen, dann werden die Selbstverständlichkeiten unserer Welt tief ins Mark getroffen. Denn sonst wäre es nicht Gott, der da reklamiert.

In diesem fortlaufenden Schlüsselwörtchen steckt übrigens ein dreifaches Sprachspiel: Eine Sache zu reklamieren bedeutet ja erstens, sie aufgrund von Mängeln oder Nicht-Gefallen zurückgeben zu wollen. Das scheint bei den Propheten auf fast jeder Seite durch. Es hört sich gelegentlich so an, als wollte Gott eine nicht ganz funktionstüchtige Menschheit zurückgeben. Zweitens bedeutet eine „Reklamation“, einen Anspruch geltend zu machen, etwas für sich zu reklamieren. Auch das klingt in den Worten an, denn unsere Gottheit beansprucht die Menschheit für sich, obwohl etwas mit ihr so gar nicht stimmt. Drittens steckt im Wort die „Reklame“. So habe ich die Propheten durchweg erlebt: als Werbetexter. Sie bewerben eine zutiefst menschliche Welt, sie werben für ein göttliches Leben. Und so wirbt das Göttliche letztlich für sich selbst. Gott reklamiert.

Nur kurz, aber nicht klein

Verschaffen wir uns zunächst einen Überblick über die Texte, die uns von nun an begleiten werden. Nebenbei sei natürlich empfohlen, diese zwölf kurzen Bibelbücher aus dem Ersten Testament parallel zu lesen. Im besten Fall macht dieses Buch sogar neugierig darauf, das zu tun.

Den Propheten ist in der dreiteiligen Hebräischen Bibel neben der „Tora“ (den fünf Mosebüchern) und den „Ketuvim“ (Schriften) ein eigener Teil gewidmet, die sogenannten „Nevi’im“. Aus den Anfangsbuchstaben der drei Begriffe ergibt sich der Name „Tanach“ für die Hebräische Bibel. Zu den Prophetenbüchern gehören neben den klassischen „hinteren“ Propheten übrigens auch als „vordere“ Propheten die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige. In der christlichen Bibel werden sie als Geschichtsbücher gehandelt. Gemeinsam folgen sie auf die Tora, die von Mose als dem größten aller Propheten erzählt (5. Mose 34,10).

Uns interessiert innerhalb der Nevi’im das Zwölfprophetenbuch. Es heißt so, weil die enthaltenen Propheten der jüdischen Tradition als ein einziges Buch in zwölf Teilen gelten. Die Geschichte seiner Entstehung ist kompliziert und langwierig, sie reicht wohl vom achten Jahrhundert vor der Zeitenwende bis in die sogenannte hellenistische Zeit zum Ende des vierten Jahrhunderts vor unserer Zeit. Ein wenig genauer schauen wir uns das zu gegebener Zeit an. Übrigens: Wenn nichts anderes angegeben ist, beziehen sich alle Datierungen im Buch auf die Jahre vor unserer Zeitenwende.

Bekannter als die Bezeichnung „Zwölfprophetenbuch“ ist der Name „Kleine Propheten“. Das sind die mit den teilweise recht merkwürdigen Namen: Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi. Sie sind aber nur deshalb „klein“, weil sie relativ wenig Text mitbringen. Was sie sagen, ist dagegen ziemlich groß und mächtig. Wir finden zum Beispiel einige der schönsten Bibelverse bei diesen Propheten:

Zefanja 3,17: G*tt, dein Gott in deiner Mitte, eine mächtige Hilfe, freut sich an dir in Verzückung – mal schweigend in Liebe, mal schreiend vor Freude.

Das geht doch runter wie Öl. Uns begegnen aber auch verstörende Texte, die in die tiefsten Abgründe menschlicher Gottesvorstellung schauen lassen, vielleicht sogar in die tiefsten Abgründe Gottes, wenn etwa derselbe Zefanja Gott schreien lässt:

Zefanja 1,2–3: „Raffen! Ich raffe alles von der Erdoberfläche!“ Ein Spruch G*ttes. „Ich raffe Mensch und Tier, ich raffe die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres, die Gottlosen mache ich zu Ruinen, den Menschen rotte ich von der Erdoberfläche aus!“ Ein Spruch G*ttes.

Das ist noch nicht das Schlimmste, so viel sei schon gesagt. Es gibt Stellen, da muss ich meine Bibel beim Lesen für einen Moment beiseitelegen. Trotzdem werden wir uns ihnen stellen, nach und nach. Dabei werden wir unter anderem feststellen, dass diese zwölf Prophetenbücher Texte aus längst vergangener Zeit sind. Doch auf geheimnisvolle Weise wirken sie manchmal sehr aktuell. Wir werden gemeinsam versuchen, sie über die Jahrhunderte hinweg in unsere Zeit sprechen zu lassen.

Der Name Gottes

Gerade tauchte der Name Gottes zum ersten Mal auf und wird noch häufiger zu lesen sein, daher ein paar Worte dazu. Aus den meisten Übersetzungen kennen wir es, dass der Eigenname Gottes mit „Herr“ wiedergegeben wird. Gern auch als „HERR“ oder „HErr“ um anzuzeigen, dass im Hebräischen die göttlichen vier Buchstaben stehen: JHWH, der Name Gottes. Er wird in jüdischer Tradition niemals ausgesprochen. Als es noch einen Tempel gab (bis ins Jahr 70 unserer Zeitrechnung), durfte der Hohepriester ihn einmal pro Jahr am Versöhnungstag aussprechen. Sonst und seither nicht. Daher hat man sogar vergessen, wie er ausgesprochen wird, vermutlich „Jahwe“. Als Ersatzwort wird „Adonaj“ gelesen, was ungefähr „(mein) Herr“ bedeutet. Das einfach ins Deutsche zu übernehmen, ist aber schwierig, weil schon die hebräische Schreibweise die Übertragung auf den „Herrn“ etwas verfremdet. Außerdem ist Gott kein Mann, wie wir von Hosea lernen werden. Das sollte auch die Sprache berücksichtigen.

Solch ein Respekt vor dem Namen Gottes ist etwas ganz Wunderbares, weil auf diese Weise deutlich wird, was den Propheten auf jeder Seite abzulesen ist: Gott ist ein Geheimnis. Man kann es nicht einfach benennen, sie nicht einfach beschreiben, ihn nicht einfach so definieren. Um beides einzufangen, habe ich mich für die Schreibweise „G*tt“ entschieden. Sie greift erstens eine Tradition aus dem deutschsprachigen Judentum auf, in welcher der Gottesname gern mit „G’tt“ umschrieben wird. Zweitens erinnert sie natürlich an das Gendersternchen und das Anliegen einer möglichst gerechten Sprache. Das ist gerade in Bezug auf das Göttliche angemessen, weil Gott und Gerechtigkeit aufs Engste zusammengehören und das Göttliche all unsere Denkmuster übersteigt – auch die Geschlechter!

Einbruch der Propheten

„Wenn die Propheten einbrächen / durch Türen der Nacht / und ein Ohr wie eine Heimat suchten / Ohr der Menschheit / du nesselverwachsenes, / würdest du hören?“, fragte die Literatur-Nobelpreisträgerin Nelly Sachs (1891–1970) in einem ihrer Gedichte.3 Würde ich hören? Darum geht es bei den Propheten. Gemeint ist nicht ein Hören im Sinne des Gehorsams. Die Propheten reklamieren vielmehr ein Zuhören, um die Welt in ihrem Zustand zu begreifen. Ein Aufhorchen auf das, was in der Welt vor sich geht. Ein sorgfältiges Hinhören, ob nicht irgendwo die Stimmen Gottes anklingen. Genau das tun Prophet*innen. Sie sehen, wie es ist, und rufen, wie es sein sollte. Prophet*innen zeichnen Dystopien und Utopien, mit ihnen entdecken wir Schreckens- und Sehnsuchtsorte.

Wir, die wir sie im 21. Jahrhundert lesen, werden immer wieder vor der gleichen Frage stehen: Würden wir hören? Will ich hin- und zuhören? Das ist keine angenehme Frage, denn wir werden äußerst unbequemen Texten begegnen. In all dem suche ich nach der manchmal brennend heilsamen Nähe Gottes, nach der entwaffnend ehrlichen Stimme des Himmels. Ich suche in der Hoffnung, ein erneuertes Leben zu finden. Mal in kleinen Schritten, mal in waghalsigen Sprüngen. Manchmal werden wir dabei vielleicht nichts finden. Das kann passieren, denn dass Gott reklamiert, lässt sich nicht einfach hervorrufen.

Die Prophetie überflogen

Bevor wir richtig eintauchen, überfliegen wir unser Thema zuerst einmal, verschaffen uns einen anfänglichen Eindruck und suchen einen ersten Zugang. Dafür eignet sich zum Beispiel das Wort „Prophet*in“. Es stammt aus der griechischen Sprache, kommt in der griechischen Kultur aber nicht allzu häufig vor. Es besteht aus zwei Teilen: pro („vor“) und phemi („sagen“). Prophet*innen sind also Vorsager*innen. Das kann man im Sinne von „voraussagen“ verstehen. Doch um Missverständnisse von vornherein zu vermeiden, übersetzen wir pro sachgemäßer mit „für“ oder „anstelle von“.

Sie sprechen vor, sagen aber nicht im eigentlichen Sinne voraus. Prophet*innen sind keine Wahrsager*innen, die einen Blick in die Zukunft gewähren. Diese Bedeutung hat das Wort leider unter anderem dadurch bekommen, dass die biblischen Propheten in der christlichen Variante des Ersten Testaments am Ende stehen, nicht wie in der hebräischen Version mittendrin. So erscheinen sie als Voraussager der messianischen Jesusgeschichte. Aber sie sind keine Wahrsager und Zukunftskenner, sondern Menschen, die für das Göttliche sprechen. Sie geben Botschaften weiter, die sie auf Gott selbst zurückführen. Sie reklamieren vor und für und von und mit Gott!

Als ungefähr im dritten Jahrhundert vor der Zeitenwende (200–300 v. Chr.) die Hebräische Bibel ins Griechische übersetzt wurde, hat man für das hebräische Wort navi (auf der letzten Silbe betont) den Begriff Prophet benutzt. navi bedeutet ursprünglich so etwas wie „die Ernannte“ oder „der Berufene“. Ernannt, um zu benennen, berufen, um zu rufen, das waren die Propheten. Irgendwie sind sie sogar noch immer da, überall dort, wo Menschen dem Ruf folgen, selbst zu rufen: auf Kanzeln und Kathedern, in Parlamenten und Petitionen, an Straßen und Stammtischen, in Medien und Märkten. Prophet*innen schreien heraus, wozu sie sich berufen fühlen.

Prophetie existiert übrigens in vielen Religionen. Sie erfüllt eine Vermittlungsfunktion, denn die Botschaften der Götter an die Menschen müssen ja irgendwie ankommen. Das ist schließlich das Grundproblem aller Religionen: Der Himmel bemerkt einen Mangel, muss ihn aber voll und ganz irdisch kommunizieren und reklamieren, um sich verständlich zu machen. Die Prophetie leistet genau diese Übersetzungsarbeit. Sie benutzt allerdings keine bestimmten Rituale wie Vogelschauen, Glaskugeln oder Kaffeesatzlesen, wie sie bei anderen Vermittler*innen zu finden sind. Sie arbeitet allein mit der Sprache und manchmal mit symbolischen Handlungen. Kurz: Prophet*innen sind Himmelsübersetzer*innen.

Eine klitzekleine Geschichte Israels

Prophet*innen nehmen immer die Geschichte in den Blick, daher brauchen wir wenigstens einen ganz, ganz groben Überblick. Es ist jedoch gar nicht so einfach, die Geschichte Israels zu erzählen. Schließlich beginnt die Erzählung der maßgeblichen Quellen in einer Zeit, die niemand datieren kann: mit der Schöpfung. Niemand war dabei. Die Texte können und wollen aber auch gar nicht erzählen, wie es gewesen ist. Sie tun etwas, das uns noch viel mehr betrifft, denn sie verarbeiten und entwickeln den eigenen Glauben und werfen einen Blick auf das eigene Leben.

Auch die darauffolgenden Geschichten sind nicht einfach Geschichtsschreibung, sondern sie erzählen, woher die Identität des Volkes Israel stammt und wie es sich selbst versteht. Bis David und Salomo um das Jahr 1000 vor unserer Zeit kann man kaum etwas von den biblischen Darstellungen wirklich historisch nachweisen. Das bedeutet übrigens nicht, dass alles völliger Blödsinn wäre, aber es lässt sich eben nicht historisch belegen. Sicher gibt es bei vielem irgendeinen historischen Kern, wichtiger ist aber neben dem historischen immer der wahre Kern: die Bedeutung für das eigene Glauben und Leben.

Selbst bei den genannten legendären Königen ist vieles umstritten. Allerdings wird mit ihnen die Geschichte greifbarer, es beginnt sich aus einer Stammesordnung ein Staat zu entwickeln (was übrigens nicht zwingend ein Fortschritt ist). Das liegt unter anderem an relativ günstigen Bedingungen: Ägypten hatte als Großreich abgedankt und das nachfolgenden Assyrische Reich war noch nicht ganz so weit, den Staffelstab zu übernehmen.

Nach oder mit den Lichtgestalten David und Salomo teilt sich die Region Palästina in den Norden „Israel“ und den Süden „Juda“. Beide Teile entfernen sich allmählich immer stärker voneinander, was auch bei den Propheten sichtbar wird. Im Jahr 722 kommt es dann zur Katastrophe: Das Nordreich Israel wird durch das Assyrische Reich zerschlagen. Für die Leute aus dem Südreich war das eine logische, schadenfreudig beobachtete Konsequenz, denn die Menschen aus dem Norden waren aus ihrer Sicht schon immer barbarische Unholde. Was ich sagen will: Die beiden Landesteile konnten nicht so recht miteinander. Die Bevölkerung Israels, wenigstens die städtische, wird nach der Eroberung deportiert und selbst nach dem Ende der assyrischen Regierung nicht zurückkehren.

Dem Südreich ergeht es allerdings 130 Jahre später nicht viel besser: Nachdem 701 der Fall Jerusalems noch abgewendet werden konnte und Juda unter König Josia zwischenzeitlich noch eine Blüte erlebt, wird die Hauptstadt im Jahr 597 erobert und die Oberschicht aus dem Land nach Babylonien deportiert. Zehn Jahre später fällt das Südreich nach einer zweiten Deportationswelle praktisch komplett zusammen und Jerusalem wird zerstört. Die Datierung ist nicht ganz sicher, entweder passierte das im Jahr 587 oder ein Jahr später 586, daher findet man meist die Angabe 587/86. Mit den Deportationen beginnt das sogenannte „babylonische Exil“. Nach dem Ende des Exils kehren ab 538 einige Judäer*innen zurück nach Palästina und wagen den Neuanfang. Das Babylonische Reich hatte inzwischen das Zeitliche gesegnet und die Perser*innen unter Kyros II. das Zepter in die Hand genommen.

Es folgt eine sogenannte „historiographische Zäsur“, wenn man so will eine Art Geschichtspause. Da passiert natürlich auch etwas, aber Geschichtspause meint, dass wir über die nächsten ca. 200 Jahre fast keine Quellen haben. Erst mit Ale­xander dem Großen („3-3-3, bei Issos Keilerei …“) nimmt die bekannte Geschichte wieder Fahrt auf. Auf seine Zeit und die der nachfolgenden „Diadochen“ spielen womöglich die jüngsten Texte der Propheten an. Spätestens um 180 dürfte die Zeit enden, die vom Zwölfprophetenbuch insgesamt überblickt und verarbeitet wird, denn um dieses Datum herum entsteht das Buch Jesus Sirach (zu finden bei den „Apokryphen“), das in Kapitel 49 in Vers 10 die zwölf Propheten bereits erwähnt. Wir werden bei den einzelnen Propheten übrigens hier und da noch etwas genauer kennenlernen, wie solche Datierungen zustande kommen und wie sich die Schriften in die Geschichte einordnen lassen.

Schon dieser kurze Überblick zeigt ein Chaos historischen Ausmaßes. Mitten in diese turbulenten Zeiten hinein sprechen die Propheten. Meine Hoffnung ist, dass sie hier und da auch mitten in unsere eigenen turbulenten Leben sprechen und dass aus ihnen die Stimmen Gottes tatsächlich zu hören sind.

Wie Bibel entsteht

Wie kommt es nun aber dazu, dass aus dem Reden der Propheten die Texte der Bibel wurden? Die Bibeltexte sind nicht vom Himmel gefallen, so viel hat sich vermutlich mittlerweile herumgesprochen. Seit über 200 Jahren wird sehr genau erforscht, wie sie entstanden sind, und das lässt sich auch (mal mehr, mal weniger) gut zeigen. Für die prophetischen Texte ist das ebenfalls möglich, aber kompliziert, daher treibt mich eine noch grundsätzlichere Frage um: Warum entstehen überhaupt Bibeltexte? Ich stelle mir das so vor: Menschen machen Erfahrungen. Sie stehen morgens auf, stoßen sich vielleicht den Fuß an einer Kante, schauen in ein freundliches Gesicht oder bewundern nach einem fantastischen Sonnenuntergang den Sternenhimmel. Irgendwann beginnen sie, über all das nachzudenken. Dabei bemerken sie, dass im Leben immer mal wieder große Geheimnisse auftauchen, mitten in ihrer alltäglichen Erfahrung: Warum stoße ich mir jeden Morgen diesen verdammten Fuß? Wie kommt es, dass der Mensch mir so freundlich begegnet? Wo genau ist eigentlich mein Platz in der großen, weiten Welt unter der Sonne und zwischen den Sternen? Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest.

Nach und nach entwickeln sie Ideen und erspüren Antworten. Sie suchen nach einer Sprache, die den Geheimnissen der Welt und des Lebens angemessen ist. Und sie (er-)finden Worte dafür. Das größte unter ihnen heißt „Gott“. Menschen beginnen, Gott und Götter in allem zu erleben, oder mit anderen Worten: Menschen werden und machen sich aufmerksam auf die Geheimnisse, die das Leben mitbringt.

Irgendwann denken und erzählen sie nicht mehr nur, sondern schreiben. Sie dokumentieren, wie sie die Geheimnisse des Lebens und ihrer Gemeinschaft erleben. Sie halten fest, wie sie Gott erfahren. Menschen notieren, wie sie sich die geheimnisvolle Wirklichkeit des Göttlichen vorstellen. Sie schreiben, diskutieren, korrigieren. Sie machen neue Erfahrungen und alte Ideen verändern sich. Und sie schreiben weiter. Und schreiben anders. Und schreiben neu. Sie bewahren nicht alles auf, denn nicht alle Ideen passen in jedes Leben. Deshalb entwickelt jede Gemeinschaft eigene Vorstellungen. So bilden sich nach und nach Sammlungen der wichtigsten Texte. Das Beste setzt sich durch. Dokumente, an denen Menschen sich gemeinsam orientieren und die ihnen zum Maßstab (griechisch: Kanon) werden für ihren Umgang mit dem Geheimnis Gottes.

So stelle ich mir das vor und biete an, einmal auf diese Weise an die Texte heranzugehen. Nicht in tiefster Ehrfurcht vor ihrer vermeintlichen Heiligkeit, sondern höchst ergriffen von ihrer schamlosen Menschlichkeit.

Fakten und ihre Bedeutung

Manche Menschen (gerade in meiner freikirchlichen Tradition) wachsen mit der Überzeugung auf, dass die Geschichten der Bibel zuverlässig wiedergeben, was tatsächlich passiert ist. Daher fragen sich einige folgerichtig: Wenn die Bibel in Fragen der Geschichte nicht ganz korrekt ist, was passiert dann mit dem Glauben? Das klingt zunächst nach einem logischen Gedankengang und natürlich hat der Glaube tatsächlich etwas mit Geschichte zu tun. Er gründet ja auf Erfahrungen, die wir in der Geschichte machen.

Allerdings muss man dabei zwei Dinge unterscheiden, die für das Verständnis von Bibeltexten wichtig sind. Einerseits erleben wir Situationen und es geschehen ständig irgendwelche Ereignisse. Das ist, was faktisch passiert. Andererseits geben wir diesen Dingen immer eine Bedeutung, wir überführen sie in Sprache und ordnen sie in einen Zusammenhang ein, der uns betrifft. Das Entscheidende ist: Zwischen den Fakten und ihrer Bedeutung gibt es keinen völlig bruchlosen Übergang, selbst dann nicht, wenn solche Erfahrungsdokumente zu heiligen Schriften werden. Immer spielen individuelle Prägungen eine Rolle, wenn wir Erlebnisse deuten, selbst wenn wir sie so objektiv wie möglich beschreiben. Wenn ich beispielsweise von der Begegnung mit einem Hund erzähle, hast du wahrscheinlich ein anderes Bild vor Augen als ich. Oder wenn zwei Menschen dasselbe Fußballspiel schauen, werden sie es sehr unterschiedlich wahrnehmen, beschreiben und bewerten. Das hängt zum Beispiel davon ab, zu welchem Team sie halten, wie gut sie sich mit Fußball auskennen, ob sie selbst spielen oder nicht. Auch ob sie live im Stadion waren, eine Zusammenfassung sehen oder es im Radio hören, all das hat Einfluss darauf, wie sie über das Spiel reden. Aber keine der Beschreibungen ist einfach die exakte Wiedergabe dessen, was im Spiel passiert ist. Trotz Videobeweis. Und doch haben beide Beschreibungen ihre Berechtigung, denn es ist nun einmal das, was beide erlebt haben!

Eigentlich klingt es ganz einfach und scheint oft doch so schwierig: Die biblischen Texte sind natürlich nicht die Ereignisse selbst, nicht einmal eine völlig objektive Darstellung, sondern sie interpretieren Lebenswirklichkeiten. Sie nehmen Welt- und Lebensereignisse auf ihre ganz eigene Weise wahr, anders als es etwa die Natur- oder Geschichtswissenschaften versuchen. Denn Bibel dokumentiert nicht Ereignisse, sondern den Glauben. Und Glaube ist eine bestimmte Weise, Ereignisse zu erleben, sie zu beschreiben und vor allem, ihnen eine Bedeutung zu geben. Aber Glaubensgeschichten sind niemals einfach identisch mit den Ereignissen, die ihnen zugrunde liegen.

Die biblischen Texte erzählen aus der Sicht des Glaubens von den Ereignissen, oder besser: Erlebnissen. Sie dokumentieren nicht Tatsachen, sondern Bedeutungen. Wenn die Bibeltexte manche Ereignisse also nicht ganz faktengetreu wiedergeben, sind sie deshalb nicht gleich „alternative Fakten“, sondern sie überliefern „alternative Bedeutungen“ von Fakten. Die Unterschiede zwischen den tatsächlichen Ereignissen und ihrer Beschreibung zu erforschen, ist deshalb gar nichts Gefährliches, sondern hilft viel besser zu verstehen, welche Bedeutung den Erzählungen wichtig ist und wie die Autor*innen der Texte ihren Glauben verstanden haben.

Wir fragen deshalb danach, was die Menschen bewegt hat, die diese Texte aufschrieben. Es geht um ihren Glauben. Es geht darum, wie sie Gott erlebt und verstanden haben, wie sie Gott erlitten und oft nicht verstanden haben. Es geht um die Unendlichkeiten des Lebens, die wir bei Gott selbst vermuten. In den Texten anderer Menschen suche ich nach Worten für mein eigenes Glauben.

Ob Gott reklamiert?

Das alles ist ziemlich grob notiert und ähnlich grob geht es weiter. Manches werden wir im Durchgang durch die Texte vertiefen, anderes bleibt so ungenau, wie es ist. Diese Einführung sollte für den Moment nicht viel mehr leisten, als ein Gefühl dafür zu vermitteln, dass wir es mit fremden Texten aus vergangenen Tagen zu tun haben werden. Wir suchen nach dem Göttlichen in Schriften, die nicht für uns gedacht waren und lesen sie doch so, als wären sie es. Wir tun einmal so, als hätten sie uns etwas zu sagen. Das ist waghalsig, historisch wie theologisch. Aber wer weiß, ob Gott nicht trotzdem durch die Propheten reklamiert …

Wenn Gott reklamiert

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