Читать книгу Esplanada - Sebastian Teruel - Страница 6
ОглавлениеKapitel 2
Ungeachtet der späten Stunde strahlte die Sonne noch im vollen Schein, nicht bereit abzudanken, ungestört von Wolken. Denn endlich war er da, der erste Sommertag des Jahres, mit dem Duft von Wärme und Trockenheit, Baumblüten und Gräsern. Die Zeit der langen Nächte würde bald beginnen.
Nach einem langen Arbeitstag – acht monotone Stunden im Büro, bei diesem Sonnenschein! – lehnte ich mich gut gelaunt auf eine Bank der Esplanada zurück. Frisch geduscht, mit wohlriechendem Haar, Reinheit ausatmend und auf meinen Wein wartend.
Und was für ein Warten. Wir können traurig oder, noch schlimmer, wenn wir alt und krank sind, hoffend auf den Tod warten. Unruhig, ja nervös auf wichtige Nachrichten, die schon bald wieder unwichtig sein werden. Auf den Bus, einen Zug, ein Flugzeug. Warten, dass der Arbeitstag zum Feierabend wird, das Weihnachten vorbei ist. Ja, das Warten – dieser bittere Begleiter der Zeit.
Aber nein, mein Warten war friedlich. Warum? Da es nicht auf einen Abschluss drängte, ein Ergebnis, eine Vollendung oder Sinnhaftigkeit. Selbst wenn die äußerst freundliche Bedienung meinen Wein vergessen sollte, werde ich diese Ruhe des Wartens als Bestandteil der natürlichen Dinge des Lebens in mich aufnehmen. Sicher wären jetzt ein paar feine Schlückchen wünschenswert, aber diese werden noch kommen, da bin ich mir sicher und sollte deswegen keine Sorgen aufkommen lassen. Denn der Weltgeist, der uns in solchen Momenten besuchen kommt, wird den richtigen Zeitpunkt schon zu bestimmen wissen.
Eine Mutter mit einem Kleinkind im Kinderwagen, das mich stumm, aber mit vergnügt-staunenden Augen ansah, lief telefonierend an unseren Tischen vorbei.
Die Bezeichnung ›unseren‹ Tischen war nicht richtig. Es gab zu dieser Stunde noch keine ›unseren‹. Ich saß allein auf der Terrasse. ›The PrimeGuest‹. Ich bin nicht nur Stamm-, sondern meist auch der erste Gast der Esplanada, wenn diese an Wochentagen um achtzehn Uhr öffnet. Die äußerst freundliche Bedienung hatte die Stühle und Tische erst wenige Minuten zuvor aufgestellt, noch schnell meine Bestellung aufgenommen und ward seitdem nicht mehr gesehen.
Die Mutter mit dem Kinderwagen war stehen geblieben, konzentriert auf ihr Gespräch, und drückte dem Kleinkind ohne jede Not einen Schnuller in den Mund. Es hatte weder geschrien noch gemosert. Nur ein Glucksen war zu hören gewesen, ein »Bäh!«, womit es mich wohl begrüßen wollte. Sofort spuckte es den Schnuller aus und fing zu weinen an.
Die Mutter, die das nicht mitbekam, war wieder lautstark in das Drama ihres Telefonats verwickelt, dessen Höhepunkte, »Gibts denn so was?«, »Stell dir mal vor!«, »Also, wenn du mich fragst …« die Welt bereicherten.
Das Kind starrte mich tränenüberströmt an, ich lächelte es mit großen Augen freundlich an. Tatsächlich hörte das Kind mit dem Weinen auf und lächelte ebenfalls, stopfte sich dann nach Kleinkindart seine Händchen in den Mund und sah mir neugierig hinterher – da ich in der Ferne verschwand, während die Mutter weiterzuckelte.
Dieses kurze Zurücklächeln. Es war noch zu erkennen, auch wenn das Kind sich die Händchen weiterhin halb in den Mund stopfte. In den Augen war es zu sehen. Das Lächeln durchleuchtete alle noch eben geweinten Tränen.
»Ich wünsche dir alles Liebe«, murmelte ich dem Kind hinterher, während ein anderer Passant, der in diesem Moment vorbeiging, mich ein wenig erschrocken ansah, um dann schneller weiterzulaufen.
***
Die äußerst freundliche Bedienung hatte mich und meinen Wein vergessen … Der Weltgeist, seine Weissagungen, der Frieden und alle Liebe schmolzen in den wunderbaren abendlichen Sonnenstrahlen dahin.
Ich erinnerte höflich, ob, »wenn die Masse anderer Gäste bedient worden sei, es möglich wäre, auch mir einen Wein heranzutragen?«, und zeigte auf die leeren Tische, worauf die äußerst freundliche Bedienung antwortete, dass ich mich in Geduld üben müsse, da die Bar offiziell erst in zwanzig Minuten öffnen würde und ich nur aufgrund seiner Duldung hier bereits sitzen dürfe.
Meine ›innere Uhr‹ widersprach und ich erklärte, dass es durchaus schon Zeit wäre, den Laden zu öffnen, und wies darauf hin, ein ehrbarer Gast zu sein, ein ›PrimeGuest‹ sozusagen, und seine Antwort daher tadelnswert sei.
Die äußerst freundliche Bedienung gab mir zu verstehen, was er von meiner inneren Uhr hielt und sich lieber auf die an seinem Handgelenk verlasse und diese ihm sage, dass ich erst in zwanzig Minuten sein Gast sei. Ob ehrbar oder nicht, müsse er noch überlegen.
»Na gut.«
Ich holte Jack Kerouacs ›Desolation Angels‹ – Jacks wunderbare Geschichten von seinen Reisen durch die USA, Mexiko, Nordafrika und Europa in seiner unnachahmlichen ›On-the-Road‹-Art – aus meiner etwas in die Jahre gekommenen Umhängetasche hervor. Eine schöne Übereinkunft. Jack allein auf Reisen und ich bei ihm. Ich allein auf meinem Platz und Jack bei mir.
Eine Minute später stand ein Wein auf dem Tisch und die äußerst freundliche Bedienung nickte mir zu. Als ich nach Speis begehrte, erhielt ich zur Antwort, »dass die Küche noch nicht offen sei«.
Ich merkte an, dass die Küche mehr oder weniger ein Kühlschrank sei, ein mit zugegebenermaßen sehr leckeren Tapas gefüllter, und es dem Herrn Koch wohl nicht schwerfallen könne, diesen zu öffnen, fünf Scheiben Käse anzuschneiden und servieren zu lassen.
»Der Herr Koch bin ich und des Herrn Kochs Arbeitsbeginn ist in neunzehn Minuten«, bekamen meine Ohren zu hören, außerdem was denn ein ›PrimeGuest‹ denn schon wieder für ein Scheiß sei, den ich mir da ausgedacht hätte.
Das Wort ›Scheiß‹ nahm die äußerst freundliche Bedienung nie in den Mund, nur wenn ihn etwas wirklich ärgerte, was sich eher in einem Staunen über die Dummheiten der Welt zeigte, statt einer Wut oder gar eines Zorns.
Eine Minute später lagen sechs Scheiben Manchego-Käse auf dem Tisch.
»Na Jack, die Welt ist gar nicht so schlecht, oder?«, sprach ich zu meinem Buch, während erste weitere Gäste verwundert am Nebentisch Platz nahmen.
Ich rede gerne mit meinen Büchern und diese antworten mir. Ich sage nicht, »Ich habe von Jack Kerouac gelesen…«, sondern immer, »Jack erzählte mir neulich… «.
Seltsame Marotte, ich weiß. Aber gute Bücher sind gute Freunde, und so will ich sie auch behandeln.
***
Zwei Stunden später stellte die äußerst freundliche Bedienung zwischen den Pflanzen der Steinkübel, die den Außenbereich der Esplanada umgaben, große Gartenlaternen mit riesigen Kerzen auf. Auf den Tischen verteilte er orangefarbene Gläser mit Teelichtern. Es war, der frühen Jahreszeit entsprechend, recht schnell dunkel geworden. Die Esplanada war mittlerweile gerammelt voll.
Sah man die Straße hinunter, beleuchteten Straßenlaternen mit weichen gelben Lichtern alle zwanzig Schritte junggrüne Bäume. Viele Menschen auf den Gehwegen, kaum Autos auf den Straßen. Sehr angenehm. Geparkte Autos, gewohnt und leider natürlich geworden in unserer Welt, störten das Bild.
Es war eine friedliche Nacht, die Welt von der Hektik des Tages entledigt – auch wenn Stimmgewirr, Gläserklirren und lautes Lachen nicht enden wollten. Dazu passende und angenehme Musik im Hintergrund. In einer milden Sommernacht sind die Geräusche der Menschen versöhnlicher, weniger erdrückend als der sonst allgegenwärtige Motoren- und Maschinenlärm des Tages.
Ob Winter oder Sommer, in den Nächten sind die Düfte stets intensiver als am Tage. Für den Frühling gilt das erst recht. Und das bilde ich mir ausnahmsweise mal nicht ein. Wer darauf achtet, wird mir recht geben.
Ich saß noch lange für mich allein, reiste mit Jack durch die Welt oder beobachtete die Szenerie um mich herum. Am Nebentisch wurde bemerkt, »dass der Sommer viel schöner ist als der Winter, selbst wenn der Sommer unschön und der Winter eben schön wäre«. Herrlich tiefsinnige Gespräche, wie sie auch an anderen Tischen geführt wurden.
***
Der Abend schritt voran, und als es spürbar kühler wurde, zogen die Mädels über ihre hübschen Sommerkleider nicht so recht passende Kapuzenjacken an. Die Jungs versuchten, sich ein Frösteln nicht anmerken zu lassen, und hatten beim Losgehen in den warmen Abendstunden erst gar nicht an ihre Jacken gedacht. Die meisten Gäste waren geblieben, keiner wollte früh nach Hause.
Ich überlegte, ob ich noch einen Wein bestellen sollte. Mein Kontostand verbot es bereits seit einer Woche. Aber, dachte ich, der Mensch sollte essen und trinken, Bücher kaufen und lesen, aber nicht Geld sparen.
Denn wer spart, verschiebt sein Leben nur. Bis er tot ist.
Ich holte mein eselsohriges Notizheft und einen Stift aus meiner Umhängetasche hervor –
Greife zum Leben zu jeder Zeit.
Die Zeit greift nach deinem, schon recht bald.
Gebrauche deine Schätze. Hüte sie nicht!
– schrieb es auf und bestellte noch ein Glas.