Читать книгу Esplanada - Sebastian Teruel - Страница 8
ОглавлениеKapitel 4
Ein ›Rouge de Montaigne‹ vor mir auf dem Tisch, ein Buch des Namensgebers jenes Weins in meinen Händen, und der Himmel strahlte in den Farben der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Montaigne wäre sicherlich entzückt gewesen, bereits zu seiner Zeit diese Werte in den Farben der Landesflagge seiner Grande Nation zu wissen. Le Tricolore. Bleu, blanc, rouge. Ein tiefblauer Himmel, weiße Wolken, die rote Abendsonne des sich neigenden Tages. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Einen solchen Abend wollte ich mit der Lustbarkeit guter Dinge würdigen. Es galt, die bösen Geister unseres allzu fehlerhaften Daseins zu vertreiben, unsere verletzten Seelen zu trösten.
Natürlich gibt es dafür keinen besseren Ort als die Esplanada.
»Ein Wein stärkt das Herz, berührt die Seele, weckt den Verstand. Wer denn einen hat«, erklärte ich der äußerst freundlichen Bedienung.
Er wisse wohl, wer Verstand habe und wer nicht.
Ich bestätigte, dass auch ich dies wüsste, und er mir bitte »einen Guten Halben, ¡Un medio!, vom französischen Rouge de Montaigne bringen möchte.«
Dies sei Spanisch, antwortete die äußerst freundliche Bedienung.
Was dieser Unsinn soll, hier den Sprachprofessor zu spielen, antwortete ich ihm.
Dass er nur weiterhelfen wollte …
Was dieses ›Weiterhelfenwollte‹ wieder für ein seltsames Wort sei und er sich doch bitte seiner Aufgabe besinnen und seinem Gast die Bestellung bringen möchte.
Sie hätten den Wein in 0,2-Liter-Gläser oder ganzen Flaschen im Angebot, was ich aber nach jahrelangem Studium der Weinkarten selber wüsste und ich mich nicht dümmer stellen solle, als ich sei.
»Einen guten Halben, bitte!«, wiederholte ich und sagte, dass die Dummheiten anderer ihm keine Sorgen bereiten sollten.
»Natürlich … jedem die eigne Dummheit …«
»Wie bitte?«
»Nichts.«
»Bekomme ich nun meinen Medio?«
»Also eine Flasche 0,7 Liter.«
»Meinetwegen, nenn es so. Ein guter Halber klingt aber besser, so nach einer ›guten zweiten Hälfte‹.«
»Und die andere Hälfte?«
»Müssen wir selbst sein, bereit zu einer liaison. Dass der Geist sich mit dem Weine verbinde und Gutes hervorbringe. Sonst wäre es ja nur Saufen.
Stärkt das Herz, berührt die Seele …«
Er habe verstanden, warte auf das Erwachen bestimmter Geister und bestaune meine ausgereiften Französischkenntnisse, wie ich das Wort liaison fast fehlerfrei ausgesprochen hätte.
Eine Minute später standen ein gefülltes 0,2-Liter-Glas und eine 0,5-Liter-Wasserkaraffe – natürlich war Wein eingeschenkt – auf dem Tisch …
»BRAVO!«, rief ich laut.
Andere Gäste sahen mich zwischen Staunen, Neugier und Ablehnung an. Vielleicht auch zwischen Ablehnung und Abscheu. Sollen sie doch.
***
Ist es erstaunlich, dass wir unser halbes, geteiltes, stückhaftes Wesen mit Dichtung auffüllen? Dass wir unsere Schwächen lieber unzureichend erklären und wegbegründen. Und wie unsere Erklärungen es nicht lassen können, in eigener tiefer Überzeugung zu streiten, die halbe Wahrheit sei die ganze und der gelogene Teil sogar der wahrere, da makellos, schöner und besser als unser natürliches Wesen, das wir allzu gerne korrigieren wollen.
Also rühren wir ein paar angenehme Bücher, das Gute der Welt und – natürlich nicht zu vergessen! – den Wein unserer Seele mit ein. Alles sanft. Etwas eintröpfelnd. Mit uns vermengen lassend. Voilá! Die gute andere Hälfte.
Und die freien Plätze füllen wir mit eigenen, gütlichen Gedanken und Erinnerungen. Der Teil, der wir selbst sein müssen, auch wenn dieser nicht ohne Fehler ist. So ist es recht getan. Wer die Dinge mit Gewalt bestimmen will, den leiten falsche Absichten, der richtet die Sinne und den Sinn fehl.
Ich trank einen Schluck und lauschte den nächsten Worten, die das kleine Büchlein in meinen Händen mir zurief, »Jedes Wissen schadet dem, der kein Wissen vom Guten hat.« – Der große Michel de Montaigne.
***
Das Blau des Himmels wurde dunkler, ich goss vom medio nach. Es war eine wunderbare warme Nacht.
Leider wurden die Gespräche am rechten Nebentisch immer lauter, bis beinahe gebrüllt wurde und ich mich fragen musste, ob da Geist oder Arsch verkündeten. Das Dreiergespräch zwischen Montaigne, dem Wein und mir war nahezu unmöglich geworden.
»Ich habe den Herrn de Montaigne zu studieren. Brüderlichkeit hin, Freiheit her«, kommentierte ich deutlich.
»Jawohl! Studieren!«, rief ich noch etwas lauter, vielleicht ein wenig betrunken, hinterher.
Am Nebentisch wurden die Sachen gepackt. Man schien ohnehin gerade aufbrechen zu wollen.
»Ist es nicht der Dumme, der seine Rede mit Lautheit unterstreicht?«, war die unverschämte Frage der äußerst freundlichen Bedienung nur wenigen Minuten später.
Ich widersprach, da bereits Herr de Montaigne dem widersprochen habe und Lautheit gegenüber Dummen oft das einzige Mittel sei, um sich Gehör zu verschaffen.
Er sei nur vom Stande eines Glöckners von Notre-Dame und es stehe ihm nicht zu, Herrn de Montaigne zu widersprechen.
Dies sei richtig, und er solle deshalb nicht so lautes Gebimmel machen vor den Leuten, die an diesem Ort wichtiges Geschäft und hohes Gespräch führen.
Ich nickte den verbliebenen Herrschaften zur Linken zu. Wohlanständige Leute hätten wohl freundlich zurückgenickt, aber diese Tischgesellschaft schwieg lieber.
Ob Montaigne nicht auch geschrieben hätte, dass es keine größere Dummheit gäbe, als sich über die Dummheiten der Welt zu empören? Womöglich auch noch laut?
»Wie kommst du dazu …«, aber bevor ich meinem Ärger hörbar Luft machen konnte, war der Kerl bereits wieder auf und davon.
Ich lehnte mich zurück, und endlich war wieder Frieden, wie er für einen solchen Abend zu wünschen ist.
***
Nachdem Studium und Gedankenaustausch beendet waren, luden die friedvolle Nacht und der gekostete Wein zur Ruhe von Körper und Geist ein. Um es mit anderen Worten zu sagen, ich war stockbesoffen und reif fürs Bett.
Ob Michel de Montaigne wirklich der Namensgeber des Weines des heutigen Abends war, kann ich weder beweisen noch habe ich das Bedürfnis, dies zu tun. Schon so manch schöne liaison mag durch einen Irrtum entstanden sein. Dieser solle mir recht sein, er solle als wahr gelten!
Ein schwarz-dunkler Nachthimmel, als ich nach Hause ging. Und dennoch, nicht wenige Sterne leuchteten wie Mahnwachen, damit wir uns nicht der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit versündigen und sich das Gute der Welt mit dem Guten in uns verbinden möge.